50 Jahre Interrail

Heute hier morgen dort – eine Jugendphilosophie des Reisens

29:12 Minuten
Jugendliche mit Rucksäcken auf einem Bahnsteig im Hamburger Hauptbahnhof im Jahr 1982.
Riesenrucksack, festgezurrter Schlafsack: Interrailer erkannten sich problemlos gegenseitig und bildeten eine Art Subkultur des Bahnreisens. © picture-alliance/ dpa/ Werner Baum
Von Stefan May · 27.07.2022
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Schneller, bequemer, klimatisiert: Das Reisen mit dem europaweiten Bahnticket hat sich seit seinem überaus erfolgreichen Start vor 50 Jahren stark verändert. Interrail bleibt für junge Menschen aber eine ganz besondere Eintrittskarte nach Europa.
Es waren erst vier Jahre vergangen, seit die 68er-Bewegung in Westeuropa revoltiert hatte. 1972 beschloss der weltweite Verband der Eisenbahnunternehmen UIC anlässlich seines 50-jährigen Bestehens eine europaweite Monatsnetzkarte für Jugendliche als Friedensprojekt und Zeichen der Völkerverständigung aufzulegen.
Was lediglich als Aktion für das Jubiläumsjahr gedacht war, ist soeben ein halbes Jahrhundert alt geworden: Mehr als zehn Millionen Europäer sind inzwischen mit dem Interrailpass kreuz und quer in der Eisenbahn über den Kontinent gefahren.
„Ich war 17, also noch minderjährig. Und es war der erste von den Eltern erlaubte Ausbruch aus der geografischen Enge, in der man als Jugendlicher ja lebt“, erzählt der Historiker Peter Strunk, der damals noch bei seinen Eltern in einem kleinen Ort nahe Frankfurt am Main wohnte. Er war im Sommer 1973, also ein Jahr nach Einführung des Interrailpasses, damit unterwegs.

„Es war ein Interrail-Hype“

Eine neue Form von Jugendkultur war plötzlich entstanden. Das Ticket hatte den Nerv der Zeit getroffen: Trampen wie in Amerika, ungebunden und spontan. Statt Daumen raus, Abteiltür auf. Die große Freiheit auf Schienen. Europa nicht mehr mit dem Finger auf der Landkarte erkunden, sondern heute hier, morgen da sein, wie es Laune, Wetter und Mitreisende empfehlen. Städte-Hopping und Kilometersammeln waren über Nacht Kult geworden.

Es war also ein Interrail-Hype. Die ganze Schulklasse war in heilloser Aufregung. Alle wollten sie Interrail fahren und träumten bereits von Reisen innerhalb der vier Wochen, in denen man fahren durfte, von Narvik bis nach Istanbul oder bis nach Lissabon.

Woraufhin andere sagten, das sei Quatsch, man solle doch bitte nicht in die billigen südeuropäischen Länder fahren, da sei das Bahnfahren viel zu preiswert, sondern mit den hochpreisigen Zügen nach Skandinavien. Es gab also verschiedene Schulen, die da ihre eigene Meinung vertraten.

Peter Strunk

Strunk kaufte sich um 235 D-Mark den Interrailpass, jenes begehrte damals handtellergroße, braune Heftchen, in das jede einzelne Fahrt der Reise einzutragen und vom Schaffner abzuzeichnen war.
Elke Tesche, Reisebloggerin, zeigt ihren Interrailausweis von 1986.
Ein Heftchen wie eine Trophäe: Je ausgeklügelter die Reiseroute während seiner Gültigkeit war, umso voller war am Ende der Interrailpass.© picture alliance/dpa
Viele strebten ehrgeizig danach, dass der Pass am Ende nicht mehr für alle Eintragungen reichte. Er wurde dann stolz im Freundeskreis als Nachweis einer besonders ausgeklügelten Reiseroute und intensiver Nutzung der Züge während des Gültigkeitszeitraums herumgereicht.

Los geht‘s mit Riesenrucksack und Herzklopfen

Zuerst aber wurde der voluminöse Rucksack mit allem vollgestopft, von dem man meinte, es in den kommenden vier Wochen brauchen zu können. Die innere Ordnung des Behältnisses ging schon nach ein paar Tagen verloren und man kramte endlos, um die Badehose oder den Stadtführer von Luxemburg zu finden. Der Antritt der vielfach ungewissen Fahrt war mit Herzklopfen verbunden.
„Was allein schon deshalb ein wirkliches Abenteuer war, weil ich das erste Mal auch ins Ausland alleine fuhr und auch wusste, dass ich eine Reise antreten werde, die wahrscheinlich ich von der Strecke her nicht so schnell wieder erreichen werde“, erinnert sich Peter Strunk.
Weil so vieles neu und erstmalig war, werden auch nach Jahrzehnten noch kleinste Nuancen der Interrailreise erinnert: Gespräche, Speisen, Begegnungen, betrogene Erwartungen, spontane Glücksmomente. Ich machte damals Bekanntschaft mit dem Linksverkehr in Großbritannien und war völlig überrascht, als ich vor dem Bahnhof von Venedig Taxis und Busse erwartete, stattdessen aber fast in die erste Wasserstraße der Stadt gestolpert wäre.
In Avignon geriet ich ahnungslos in das berühmte Festival, das mich so begeisterte, dass ich meine letzten Münzen zusammenkratzte und daheim anrief, um andere an meinem Überschwang teilhaben zu lassen. Wie ein unvergesslicher Film kann die erste Bahnfahrt durch Europa ein ganzes Leben lang immer wieder abrufen werden.

Meilenstein auf dem Weg zum Erwachsensein

Ein Meilenstein auf dem Weg vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Das bestätigt auch Josef Doppelbauer, der Direktor der Europäischen Eisenbahnagentur in der EU, ERA.

Ich bin dreimal Interrail gefahren in der Jugend, also 1979, 1980 und 1981. Und es war für mich ein sehr wichtiges Erlebnis. Ich habe vor allem den südlichen Teil Europas bereist, also von Belgien südwärts. Ich denke, das war mit ein Grund, warum ich dann auch bei der Bahn geblieben bin oder letzten Endes bei der Bahn gelandet bin.

Josef Doppelbauer

Ähnlich war es wohl bei Thomas Weber vom Vertrieb der Deutschen Bahn in München. Denn auch er ist dem Verkehrsmittel später beruflich treu geblieben.
„Ich hatte eine wunderbare Interrailtour, die mich bis heute tatsächlich prägt und die auch dazu führt, dass ich hier noch ein Album habe, ein Fotoalbum mit Interrail. Das war noch nicht digital. Das ist wirklich eine Erfahrung und die Erlebnisse, die sind anders als viele andere Urlaube, einfach weiterhin in meinem Kopf abgespeichert“, erzählt er.

Das war eine der ersten Reisen, komplett allein, mit einem Freund, nach dem Abitur, für einen Monat durch Europa. Wir waren damals mit sehr wenig Geld unterwegs, wir hatten den Monatspass, haben uns einen Rucksack gekauft. Insgesamt habe ich, glaube ich, damals wirklich echt nur ein bescheidenes Budget ausgegeben, weil wir uns auch so orientiert haben, dass wir wenig Geld ausgeben.

Thomas Weber

Der begrenzende Faktor Geld

Geld war der begrenzende Faktor jeder Interrailreise. Im teuren Skandinavien kann ich mich mehr an Mahlzeiten aus der Einkaufstüte auf der Parkbank als in Gaststätten erinnern. Doch da die Jugendherbergen dort außerhalb der Ferienzeit Studentenheime waren, gab es zum Frühstück eine so reiche Auswahl, etwa Hering auf verschiedenste Zubereitungsarten, dass ich mich damit über den Tag rettete. Denn das Urlaubsbudget war knapp bemessen.
Umso größer war der Schock, als ich in Barcelona auf Trickdiebinnen hereinfiel und dabei das gesamte soeben eingewechselte Geld verlor. Ein Schock, der sich wie ein Schatten über die folgenden Ferientage legte. Es empfahl sich daher speziell für Reise-Greenhorns, mit anderen zusammen das Abenteuer Europa auf Schiene anzugehen. Zumal Interrail ein Gemeinschaftserlebnis war und ist.
Man lernte unterwegs unschwer Gleichgesinnte kennen, leicht identifizierbar an der Uniform der Interrailer: Riesiger Tramperrucksack, von dem ein Paar Reserveschuhe baumelten, an dem unten ein Schlafsack festgezurrt war und der mitunter die Wimpel des Heimatlandes trug. Eventuell zog auch noch eine Gitarre mit. Und so entstand eine verschworene Gemeinschaft der Interrailer*innen, erkennbar an diesen signalisierenden Accessoirs.

Eine Art Subkultur des Bahnreisens

Sie bildete eine Art Subkultur des Eisenbahnreisens. Man tauschte Erfahrungen aus, gab sich gegenseitig Tipps, in welche Stadt man unbedingt fahren, welche Sehenswürdigkeiten man ansteuern müsse und wo Jugendherbergen besonders günstig seien. Man begleitete einander auf Teilstrecken der eigenen Reiseroute, ging auseinander und traf sich oft zufällig im Bahnhof einer anderen Stadt, im Zug eines anderen Landes wieder.
Peter Strunk und sein Klassenkamerad wollten damals nach England und Irland. Dabei lernten sie auch britische Züge kennen, in denen noch jedes Abteil eine Tür nach außen hatte.
„Mit dem Abendzug nach Holyhead, durch Wales. Das war dann schon interessant, weil da saßen wir in einem Abteil und uns gegenüber saßen irgendwelche Leute aus anderen Ländern, die alle Interrailreisende waren – und zwar nicht aus Deutschland. Dann tauschte man die Pässe aus: Wo fährst du denn hin? Wo fährst du denn hin? Und der Schaffner war völlig überfordert, weil der hatte diese Ausweise noch nie gesehen, aber alle hatten sie ihn“, erzählt er.

Pass- und Zollkontrollen an jeder Staatsgrenze

Es waren andere Zeiten mit anderen Abläufen und Regeln, die ein anderes Reiseverhalten als heute erforderten. An jeder Staatsgrenze fanden noch Pass- und Zollkontrollen statt. In jedem Land musste zuerst Geld umgetauscht und der Umrechnungskurs auswendig gelernt werden.
Telefonate nach Hause waren nur selten möglich, weil die Telefone in den öffentlichen Fernsprechzellen die Münzen meist schneller schluckten, als man nachwerfen konnte. Stadtpläne und Fahrpläne holte man sich nicht über App aufs Handy. Sie mussten an Bahnhöfen oder in Tourismusbüros erworben werden und machten den Tramperrucksack im Lauf der Reise immer schwerer.
Und wo es besonders schön war, wurde der Fotoapparat hervorgekramt.

Das war so beeindruckend, dass ich mich entschlossen hatte, den teuren einzigen Farbfilm, den ich mitgenommen hatte, da einzuspannen und Bilder mit meiner Agfa-Billigstkamera, Farbaufnahmen, zu machen, Farbdias. Ja, es sind sogar zwei dieser Bilder übriggeblieben. Die gibt es noch und sie sind auch farblich erhalten geblieben.

Peter Strunk

Nachricht von Ulbrichts Tod auf Gälisch

Einiges dieser Reise lässt sich auch heute noch zeitlich gut einordnen, etwa, wenn sich Peter Strunk daran erinnert, „dass dann im gälischen Fernsehen, was man überhaupt nicht verstand, plötzlich Bilder von Walter Ulbricht auftauchten und mir durch den Kopf schoss: Der muss tot sein. Weil es waren zur damaligen Zeit ja die Weltjugendspiele in Ostberlin und während dieser Festspiele starb Ulbricht.“
Da denke ich an meine eigene erste Interrailreise, als ich auf den letzten Kilometern der Rückfahrt im Zug einem befreundeten Paar begegnete, das mir aufgeregt erzählte, daheim stünden Neuwahlen an.
Es war eine Zeit, da Nachrichten noch nicht in Sekundenschnelle auf dem Display in der Hosentasche aufliefen, sondern man sie erst nach Ende der Reise in geballter Form zu Hause mitbekam.
Kein Wunder: Schon damals ließen sich abenteuerliche Touren in entlegenste Regionen zusammenstellen. Denn unter den 21 Bahnverwaltungen, die sich an Interrail beteiligten, waren auch so exotische wie die marokkanische und die türkische Eisenbahn.

Die DDR war nicht dabei

Selbst der damals recht hermetisch abgeschlossene Osten Europas konnte mit dem Eisenbahnjugendpass zu einem kleinen Teil entdeckt werden. Denn die Bahnen Ungarns und Rumäniens waren mit dabei. Nicht aber die der DDR, die den Interrailer*innen somit verborgen blieb. Umgekehrt waren junge DDR-Bürgerinnen und Bürger von Interrail ausgeschlossen. Dennoch ist die aus Ostberlin stammende Inge Albrecht damals Interrailer*innen begegnet.
Ihr war es wie ihren Landsleuten nur möglich, innerhalb des Ostblocks zu reisen, und so erwarb sie ein Visum für einen Urlaub für Ungarn. Und weil man wenig Geld hatte, trafen sich die jungen Leute auf der Margareteninsel in Budapest, um dort im Park in Schlafsäcken zu übernachten. Da waren auch andere Jugendliche als jene aus der DDR, die aber ähnlich aussahen, erzählt Albrecht.

„Da blieb uns der Mund offen stehen“

„Lange Haare, Gitarre, Rucksäcke – aber sie hatten andere Schuhe an. DDR-Leute hatten Riemchensandalen, die nicht. Dann haben wir die natürlich angesprochen: Wo kommst du her? Oh, sagte die eine, ich komme aus Österreich, aber gestern war ich noch in Madrid und jetzt wollte ich mal gucken, wie das so ist im Ostblock. Da blieb uns der Mund offen stehen“, erinnert sie sich.
Die beiden Hemisphären der politischen Nachkriegsordnung prallten in Budapest auf unterer gesellschaftlicher Ebene aufeinander. Doch dadurch wurde die Institution Interrail der ihr zugedachten Rolle zur Völkerverständigung gerecht.
Interrail-Reisende steigen in einen Zug ein in Budapest am Bahnhof Keleti.
Interrailer am Bahnhof Keleti: Zu Zeiten der Ost-West-Teilung Europas war Budapest ein Ort besonderer Begegnungen.© picture alliance / pressefoto_korb
„Sie kamen aus Norwegen, auf dem Weg nach Wien und fahren dann kurz mal nach Budapest einen Tag. Für uns waren das Welten, da konnten wir überhaupt nur von träumen, und wären so gerne mit in diesen Zug gestiegen, damals noch gar nicht, um die DDR zu verlassen, sondern einfach um das Erlebnis dieser Reise haben zu können. Aber das ging leider nicht“, erzählt sie.

Wir haben die Jugendlichen sehr beneidet, die uns in Budapest einen Tag begleitet haben. Dann haben wir sie teilweise auch zum Zug gebracht und dann sind sie weitergefahren, nach London oder wo sie halt auch immer ihre Reise hin gebucht hatten.

Inge Albrecht

Flexibilität ist Trumpf

Zumeist wurde aber gar nicht gebucht, sondern einfach drauflosgefahren. Flexibilität ist der Trumpf dieser Fahrkarte, bestätigt Karl Winkler, zuständig für das Preismanagement im Fernverkehr der Österreichischen Bundesbahnen ÖBB.
„Man trifft jemanden, man trifft ein Mädel, man trifft einen Burschen. Ich hätte eigentlich vor gehabt nach Rom, aber das Mädel will nach Paris, ich fahre halt nach Paris mit ihr. Das ist der große Vorteil von Interrail“, sagt er.
Der Pass ermöglicht eine Form des Reisens, die neue Bekanntschaften garantiert. Man lernt sich kennen – während der Fahrt, am Bahnhof, beim Einziehen von Erkundigungen. Mitunter sind es lebenslange Freundschaften, die auf einer Interrailfahrt entstehen.
Ich selbst habe bei meiner Bahnreise durch Skandinavien Anfang der 80er-Jahre in Stockholm einen Schweizer kennengelernt, mit dem ich seither regelmäßigen Kontakt halte, gegenseitige Besuche eingeschlossen. Ich treffe ihn am Hauptbahnhof Zürich wieder. Andreas Gmünder kann sich noch genau an unsere erste Begegnung auf dem zu einer Jugendherberge umgebauten Segelschiff erinnern.
„Natürlich, das war im Af Chapman in Stockholm, das weiß ich schon noch, die Jugendherberge am Schiff, vor – die Jahreszahl weiß ich nicht mehr, 82, 83, oder so was war es. Jedes Mal, wenn ich Bilder von Stockholm sehe, sehe ich den Af Chapman und dann denke ich an dich und mich, ja.“
Ich erinnere mich noch, dass wir Stockholm gemeinsam mit dem Zug Richtung Uppsala verlassen haben. Dort trennten sich unsere Wege: Er wollte sich die Stadt genauer ansehen, ich zog weiter nach Norden.
Es war nicht das einzige Mal, dass Andreas Gmünder auf diese Weise unterwegs war. „Ich kann es nicht mehr sagen, aber ich hatte mehrere Interrails gehabt. Ich glaube nicht, es war die Erste, aber ich habe es sehr genossen. Ich fand das eine ganz, ganz gute Sache. Mindestens vier, fünf habe ich so gemacht.“

Inzwischen sind 33 Länder dabei

Interrail wird von einer zentralen Stelle in Utrecht in den Niederlanden für alle inzwischen 33 teilnehmenden Länder gemanagt. Interrail war von Anfang an ein Erfolg. Allerdings nicht kontinuierlich, sagt Khaled El-Hussein von der Vermarktung bei DB-Fernverkehr in München.
„Es gab mal so ein Loch, das war in etwa in der Phase, als die Billigairlines überall besonders nachgefragt waren und viele nach der Schule sich dann auch zum Beispiel ein Around-the-World-Ticket gekauft haben: für 1500 Euro einmal um die Welt zu jetten, oder für 18 Euro nach Ibiza zu fliegen.

Wir haben ja tatsächlich aktuell eine Tendenz, das betrifft alle Bahnprodukte, dass wir als Bahn eine andere Wahrnehmung in der Gesellschaft haben und dass dann die Bahn als Verkehrsmittel stärker nachgefragt wird.

Khaled El-Hussein

Nicht weiter erstaunlich, dass die europäischen Bahnen für dieses Jahr einen Rekord an Interrailreisenden erwarten. Das große Geschäft ist es für die Bahnverwaltungen aber weiterhin nicht, sagt El-Hussein. „Es ist dann so gesehen eher ein Nischenprodukt. Aber es ist sehr wichtig für das Gewinnen von Zielgruppen für die Bahn und das Heranführen von jungen Menschen an die Bahn, damit sie sie auch in Zukunft nutzen.“
Er erklärt: „Weil doch tatsächlich so viel Positives damit verknüpft wird. Gerade jetzt, wo wir sagen, die Bahnen haben in Europa auch ein immer besseres zusammenhängendes Angebot, wo es dann unter anderem um schnelles Reisen geht, von einer Stadt zur anderen, ist das eine sehr, sehr schöne Bekanntschaft, die man dann da mit der Bahn  für das Reisen durch Europa knüpfen kann.“

„Die Lust des Reisens wurde damals geweckt“

Dieses Von-Stadt-zu-Stadt -Fahren könnte eigentlich auch als die Geburt des Städtetourismus gesehen werden. Karl Winkler von den ÖBB fasst das für Interrail noch weiter.

Es war zumindest ein Beginn nicht mehr an einem Ort Urlaub zu machen: Ich fahre jetzt an die Adria oder ich schau mir eine einzelne Stadt an, sondern ich schaue mir mehrere an, die Kombination. Die Lust des Reisens wurde damals geweckt. Das wurde schnell erkannt, dass das nicht eine einmalige Sache bleibt, sondern das wurde verlängert und verlängert und verbessert und verbessert – und jetzt sind wir bei 50 Jahren angelangt.

Karl Winkler

Inzwischen können auch Erwachsene mit dem Interrailpass fahren. Dass aus einer Jugendphilosophie ein Tarifangebot für alle wurde, hatte für die Bahnen auch wirtschaftliche Gründe.
„Jugendliche waren klassisch Studenten und Schüler: Also von Mitte Juli bis Mitte September ist alles Interrail gefahren und dann waren sie in der Schule oder haben studiert“, erklärt er. „Für die Verkaufszahlen vielleicht ein bisserl Weihnachten und Ferien. Aber die Erwachsenen und speziell die Senioren, die können doch auch während des Jahres fahren.“

Erste-Klasse-Interrail für die Älteren

Und da Senioren mitunter gut situiert sind und Komfort schätzen, gibt es heute auch Interrail für die erste Klasse: Für einen Monat kostet es 1474 Euro. Die Jugendlichen machen aber immer noch den Löwenanteil aus: Mit 59 Prozent der Passkäufe liegen sie an der Spitze, ein Viertel der Interrailer*innen sind Erwachsene und zwölf Prozent Senioren.
Ohne Beschränkung auf die junge Generation hat das Ticket jedoch an Exklusivität eingebüßt. Es ranken sich nicht mehr so viele Geschichten darum, wie die von der Euston Station, die Peter Strunk erlebt hat.
„Da kam ich dann an, so 2 Uhr 30, natürlich alles dicht, nichts läuft, und man hockte auf diesem wunderschönen Marmorfußboden dieses damals hochmodernen Bahnhofs – und lauter Interrailer. Also man guckte erst mal: Wo kommst du denn, wo kommst du her“, erzählt er.

Ein englischer Polizist fragte höflich nach unseren Ausweisen, was wir denn wollten. Da habe ich gesagt, na wir sind halt alle hier gestrandet, und wir zeigten alle unsere Interrailkarten. Da hatte er ein Nachsehen mit uns und ließ uns also dort campieren.

Peter Strunk

Wie die Sardinen aneinander gequetscht

Man war in jungen Jahren anspruchsloser, was den Komfort betrifft. Auch die Nähe zu anderen spielte eine geringe Rolle, wenn man im Abteil abends die Sitze auszog und wie die Sardinen aneinander gequetscht dem nächsten Tag entgegen schaukelte.
Man akzeptierte, in Jugendherbergen mit bis zu einem Dutzend anderer wildfremder Menschen zu nächtigen und tolerierte den Nachbarn im Stockbett darüber, wenn er ohrenbetäubend schnarchte. Zwischen den Betten standen die Rucksäcke, aus denen es nach alter Wäsche und Resten von Proviant muffelte.
Widerstandslos wurden in London die Waschgelegenheiten, die sich wie ein Schweinetrog in der Mitte des Schlafsaals befanden, akzeptiert. Und auch die sogenannte Duty, die jedem Gast nach dem Frühstück oblag: Das Geschirr abzuwaschen oder das Zimmer aufzukehren.
Vieles am Verlust der einstigen Interrailromantik ist auch der neuen Zeit geschuldet: Es gibt kein eintöniges Rattern der Züge mehr, man kann nicht mehr den Kopf aus dem Fenster strecken und sich so unendlich frei fühlen wie damals.
Peter Strunk posiert während seines Interrailurlaubs 1973 vor einem Zelt für ein Foto.
Blick ins Fotoalbum: Bei seiner Interrailtour im Jahr 1973 campierte Peter Struck unter anderem auf der Dingle Peninsula in Irland. © privat / Peter Strunk
Man verließ abends eine Stadt, und wenn man morgens in die Sonne blinzelte, deren Strahlen fast waagrecht ins Abteil fielen und das Fenster herunterließ, strömte mitunter dieser betörende mediterrane Duft von Kiefernwäldern und Meer herein, der die Sinne raubte und die Begeisterung im Hier und Jetzt grenzenlos machte.
Interrail war auch ein olfaktorisches Erlebnis: In meiner Erinnerung stank ganz Porto nach Fisch, in Paris wurde übel riechender Müll einfach zum nächsten Abfluss unter dem Bürgersteig gekehrt.

Züge sind heute klimatisiert und schneller

Heute sind die Städte sauber, man reist in klimatisierten Zügen, in denen sich die Fenster nicht mehr öffnen lassen, bequem und deutlich schneller als einst. Der Interrailpass ist aber die Einstiegsdroge für junge Leute ins Urlaubsverkehrsmittel Eisenbahn geblieben.
Gibt es ihn also noch, den typischen Interrailer, der mit dem Zug Europa entdeckt und alles, was er dazu braucht auf dem Rücken trägt? Ja, aber es hat sich einiges verändert, sagen Karl Winkler und sein Kollege von der Deutschen Bahn, Thomas Weber.

Man sieht ihn noch, aber er wird zur Rarität, weil die Jugendlichen, die richtigen Backpacker, die sind momentan in Asien unterwegs. Mein Sohn, der ist gerade am Sonntag von den Philippinen heimgekommen, der ist kreuz und quer durch Asien mit dem Rucksack. Aber in Europa sucht man sich mittlerweile schon seine Destinationen aus. Man schläft noch im Zug, denn Nachtzüge sind sicher noch ein Potenzial für Interrailer. Und, ja: Auch die Jugend ist bequemer worden. Sie können es sich leisten.

Karl Winkler

Es gibt auch tatsächlich diese Zielgruppe noch, die eigentlich sozusagen die originäre Interrailer-Zielgruppe war. Und wir haben natürlich auch einige, die sind besser, moderner und anders unterwegs. Viele, die reisen von einer Stadt zu einer Stadt, haben dann oftmals den Rollkoffer bei sich.

Das ist vielleicht tatsächlich ein etwas anderes Klientel als der ursprüngliche Interrailer, der einen ganzen Monat unterwegs war, der Stadt und Land erkundet hat und der eben auch schon von Anfang an bewusst mit Komforteinbußen – ich schlafe mal am Bahnhof, ich schlafe mal am Strand, ich schlafe in einem Waggon auf dem Boden – der vielleicht mit einer solchen Vorstellung reingegangen ist.

Thomas Weber

Auf der Suche nach heutigen Interrailern

Machen wir uns auf die Suche nach ihnen, die jahrzehntelang das Bild touristischer Hotspots in Europa geprägt haben. Ein sicherer Tipp, wo man sie finden kann, ist der Hauptbahnhof einer großen Stadt. Tatsächlich entdecke ich einige Gruppen junger Leute auf dem Bahnsteig, an dem der Eurocity-Zug nach Ungarn wartet.
„Wir fahren nach Budapest, dann nach Split und Ios in Griechenland“, sagt Martin aus Irland. Er ist das erste Mal mit Interrail unterwegs und es gefällt ihm sehr. Ganz unbekannt ist ihm diese Form des Reisens nicht. „Meine Eltern haben es nicht gemacht, aber meine Schwester. Sie ist am College, da kann man es jedes Jahr machen. Es ist also eine normale Sache.“
Nicht weit entfernt studieren drei Jungs die Anzeigetafeln. Sie sind nur für zehn Tage unterwegs. „Wir kommen aus England, nahe Liverpool. Wir reisen von Berlin nach Prag und dann von Prag nach Budapest.“
Von dort geht es wieder nach Hause. Und die Idee, das Ganze mittels Interrail zu unternehmen? „Einfach ausforschen, nach der billigsten Art suchen, um durch die Länder reisen zu können.“
Da stehen noch zwei Mädchen am Informationsschalter. Sie sind in London daheim.
„Wir fahren jetzt nach Budapest. Dann wollen wir weiter nach Kroatien, Zagreb, und dann in Barcelona bleiben, denke ich.“

Reservierungspflicht vs. Spontanität

Und hat bisher alles geklappt? “Nein, wir mussten Sitzplätze reservieren, was ärgerlich ist und kostspielig, zusätzlich zu unseren Tickets.“ Das ist ein Trend: Die Züge werden schneller und bequemer, doch immer wieder sind Sitzplatzreservierungen wie im Flugzeug nötig, wenn man einen bestimmten Zug wählt. Flexibles Reisens wie es einst Interrail ausgemacht hat, gehört der Vergangenheit an.
Nicht nur das, Buchungen für Züge in Spanien etwa lassen sich außerhalb des Landes online gar nicht durchführen. Doch dafür gibt es Spezialisten. Etwa die Eisenbahnagentur Schöneberg in einer ruhigen Seitenstraße in Berlin. Dort geben zwei eisenbahnbeseelte junge Männer Auskunft, führen Buchungen durch, organisieren Bahnreisen.
Stets ist der Laden voll. Abgegriffene Kursbücher liegen herum, an den Wänden hängen eingerissene Netzpläne von Bahnen diverser Länder. Bei ihm könne man sehr wohl auch für Spanien buchen, versichert einer der beiden, Martin Kopetschke.
Er bestätigt: In Spanien, Italien und Frankreich ist es etwas komplizierter mit Interrail zu reisen. „Allerdings gibt es immer noch viele Länder, wo Interrail sich immer lohnt, also Großbritannien beispielsweise oder alles innerhalb von Mitteleuropa, Deutschland, Schweiz“, erklärt er.
Und weiter: „In Italien geht es auch immer noch sehr gut, weil es einfach die Reservierung noch immer gibt. Solange es noch Plätze im Zug gibt, gibt es auch Interrailplätze. Eben schwierig ist Frankreich, weil in Frankreich sind die Interrailplätze auch kontingentiert.“

Den Reiseplan frühzeitig festlegen

Eine weitere Erschwernis gegenüber früher: Man muss sich frühzeitig einen genauen Reiseplan zurechtlegen, will man durch Frankreich und nicht feststellen müssen, dass im gewünschten Zug bereits alle vorgesehenen Interrailplätze vergeben sind.
Damit ist es mit der unbegrenzten Freiheit des Bahnreisens quer durch Europa endgültig vorbei. Nichts mehr mit: Wo ich in der Früh aufwache, steige ich aus und bleibe, solange es mir gefällt.
ERA-Direktor Doppelbauer hält allerdings nichts davon einstige Interrailromantik allzu sentimental zu verbrämen.

Es ist zum einen schon damals schwierig gewesen, sich die Zugverbindungen herauszusuchen. Jetzt hat man die diversen Apps auf seinem Handy und findet ganz, ganz einfach heraus, wie ich von A nach B komme.

Damals musste man Kursbücher studieren, die dann nicht immer 100 Prozent zuverlässig waren. Und dann ist man zum Bahnhof gekommen, und der Zug war nicht da. Dann gab es keine klimatisierten Züge. Ich erinnere mich mit Schrecken an Nachtzugfahrten in Spanien oder in Italien, wo man vor Hitze gestöhnt hat und total überfüllte Züge.

Josef Doppelbauer

Heute ist Interrail ein Tarifangebot unter vielen, wie sie auch Martin Kopetschke den Kunden in seiner Reiseagentur anbietet.

Wenn jemand nur eine Hin- und Rückfahrt in ein besonders teures Land macht, dann verkaufen wir dem ein Interrailticket, weil das oftmals günstiger ist als einzelne Fahrscheine. Und insgesamt ist es jetzt gerade eben in den letzten vier Jahren, als mit Greta Thunberg aus Schweden und der Flugscham das aufkam, dass eben viele Leute nicht mehr fliegen möchten, der Verkauf von Interrailtickets massiv angestiegen ist. Die Leute sind auch dankbar dafür, dass es das gibt.

Martin Kopetschke

Wiederholungsreise nach 25 Jahren

Exakt auf den Tag genau 25 Jahre nach meiner ersten Interrailfahrt habe ich sie wiederholt und versucht, in denselben Jugendherbergen wie damals zu nächtigen. Danach habe ich ein Buch darüber geschrieben.
Allerdings litt der Vergleich, weil ich beim ersten Mal nur die Route sowie Art und Preis der Mahlzeiten in mein Reisetagebuch notiert hatte, nichts aber über meine Eindrücke. Außerdem hatte ich zur Illustration des Buches dieselben Fotoeinstellungen wie damals gesucht, um sie einander gegenüber zu stellen, was sich mitunter wie eine Schnitzeljagd gestaltete.
Doch waren die Motive zumeist Jahrhunderte alte Monumente und Wahrzeichen gewesen, die sich im Lauf der Zeit nicht verändert hatten und somit keinen spektakulären Kontrast boten. Dennoch hatte ich vieles auf meiner zweiten Fahrt nicht wiedererkannt, einiges in neuem Kontext anders erlebt.
Dem Historiker Strunk ist es ebenso ergangen. „War dann 20, 30 Jahre später noch mal da und habe erst mal festgestellt, wie wahnsinnig schön das ist und wie wenig ich auch gesehen habe, obwohl das schon damals ein Wahnsinnserlebnis war“, erzählt er.
Interrail war keine einfache Fahrkarte, sondern eine Philosophie, die prägend für das weitere Leben junger Menschen sein konnte. Und auch wenn es heute einiges von der anfänglichen Romantik verloren hat: 50 Jahre nach seiner Einführung ist das Ticket immer noch eine Eintrittskarte nach Europa.

Autor: Stefan May
Technik: Silvia Milchmeyer
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Martin Hartwig

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