Besatzung oder Befreiung Israels?
Er dauerte nur kurz: vom 5. bis zum 10. Juni 1967. Trotzdem veränderte der Sechstagekrieg die politische Landkarte des Nahen Ostens nachhaltig. Israel eroberte damals u. a. das Westjordanland und die Altstadt von Jerusalem. Über die Folgen diskutieren israelische Schüler bis heute kontrovers.
Die Ironi Dalet Schule im Norden von Tel Aviv: 10 Uhr am Vormittag, Geschichtsunterricht in der 11. Klasse. Wir wollten eine Stunde über den Sechstagekrieg besuchen - über die Zeit im Juni 1967 und deren Folgen. Das Bildungsministerium hat dieses Gymnasium für uns ausgesucht.
Am Ende der Doppelstunde fragt Schülerin Michaela, warum sich Deutsche dafür überhaupt interessieren?
"Das ist unser Leben. Was Sie heute mitangehört haben, bekommen wir in jeder Schulstunde zu hören. Ich glaube nicht, dass es etwas ist, was Sie verstehen können, denn es hat nichts mit Ihrer Realität in Deutschland zu tun. Sie können nicht verstehen, was es bedeutet, wenn man die palästinensischen Gebiete entweder als besetzt oder als befreit bezeichnet."
50 Jahre Besatzung oder Befreiung?
Die Debatte rührt am Innersten der israelischen Gesellschaft. An der Lesart der Geschichte, auch weil es in Nahost zu jedem Ereignis mindestens noch eine zweite Sicht gibt.
"Selbst 50 Jahre nach dem Krieg seien die Ergebnisse der Besatzung noch immer zu sehen", sagt Uri. Er sitzt hinter Michaela. Auf dem Stuhl neben ihm ein Megaphon mit grünen Aufklebern der Meretz-Partei. Uri ist Anhänger der kleinen, linken Fraktion, die fast nur noch in Tel Avivs Norden Erfolg hat.
"Ich bin der Meinung, dass die Besatzung Schaden anrichtet und selbst wenn es Leute gibt, die sagen, es seien befreite Gebiete und alles würde uns gehören, handelt es sich um eine Besatzung. Anders können wir es nicht nennen. Das verletzt die israelische Gesellschaft, es ist ein schreckliches Unglück und wir müssen es beenden."
Am Jerusalemtag feiern junge Israels die Befreiung
Die jungen Israelis, die jedes Jahr Ende Mai, Anfang Juni in Jerusalem auf die Straße gehen, erzählen die Geschichte anders: Sie tragen weiße T-Shirts und weißblaue israelische Flaggen in die Altstadt.
Ihr Zug vor das moslemische Viertel und ihre häufig beleidigenden Gesänge sind eine Provokation für Palästinenser, die dort leben. Die jungen Demonstranten mit den Fahnen feiern am Jerusalemtag die Befreiung der Stadt. So nennen sie es und so nennt es auch Israels Regierungschef, Benjamin Netanjahu:
"Sehr verehrte Gäste, vor 50 Jahren kehrten die Juden in ihre Heimat zurück. Vor 50 Jahren wurde ein historisches Unrecht wieder gut gemacht. Vor 50 Jahren kehrten wir in das Herz unserer Hauptstadt und unseres Landes zurück. Vor 50 Jahren haben wir Jerusalem nicht erobert, wir haben die Stadt befreit."
50 Jahre Sechstagekrieg, 50 Jahre Befreiung, 50 Jahre Besatzung – die Entscheidungen im Juni 1967 haben Auswirkungen bis heute. Das hören auch die Schüler in Tel Aviv:
"Wer kann mir übrigens sagen, wann der 6 Tage Krieg begann? 5. Juni 1967. Das heißt, wir schauen erstmal auf die Zeit, die vor diesem Datum liegt."
Geschichtslehrerin Ariela Shaket beginnt ihre Stunde vor der 11.Klasse der Ironi Dalet Schule. Die 16-Jährigen hören vor allem erst einmal zu.
Die Vorgeschichte zum Sechstagekrieg
Womit anfangen: Mit den vorangegangenen Kriegen? Dem Unabhängigkeitskrieg 1948 oder der Suezkrise 1956? Bei den Streitigkeiten mit Syrien über Land in der entmilitarisierten Zone? Den Angriffen palästinensischer Freischärler? Ab 1964 als Israel begann, Wasser aus dem Jordan zu entnehmen? Oder als Libanon und Syrien die Zuflüsse des Jordan umleiten wollten und Israel deren Kanalprojekt bombardierte?
Shaket wirft über einen Beamer an der Decke des Klassenzimmers Daten und Jahreszahlen an die weiße Tafel.
"Am 14. Mai 1967 übermittelte die Sowjetunion falsche Informationen an Ägypten über die Stationierung israelischer Soldaten an der Grenze zu Syrien. Das heißt, es gibt einen russischen Einfluss, der die Region aufwirbelt. Wäre die Gegend nicht ohnehin schon im Aufruhr, hätte die Fehlinformation keinen Einfluss gehabt. Aber so stationiert Ägypten Truppen auf der Sinaihalbinsel, was wir später im Film sehen werden."
Ägypten verlegte 10.000 Soldaten auf den Sinai, Panzer, Truppentransporter, Artillerie und Kampfflugzeuge, also russische MiG. Das ägyptische Fernsehen zeigte Bilder der Mobilmachung. Im Mai 1967 verlangte der ägyptische Präsident Nasser den Abzug der UN-Soldaten von der Halbinsel. Die Soldaten waren nach der Suezkrise dort stationiert worden. Die Vereinten Nationen kamen der Forderungen nach. Ende Mai schloss Nasser wieder den Zugang zum Roten Meer für israelische Schiffe.
In Tel Aviv wurde die Sorge vor einem Krieg immer größer. Die Stimmung war gedrückt, erfüllt von Angst, vor einem Ende des Staates, erzählt die Direktorin der Schule.
"Ich kann ein paar Erfahrungen teilen. Ich war noch ein kleines Mädchen, Schülerin in der Ironi Dalet Schule. Eines der Kinder hatte Geburtstag und wir wollten ins Kino gehen. Kennt ihr noch das CineRama Kino? Es war zwei Tage vor Ausbruch des Krieges und wir sind alle zusammen ins Kino gegangen. Auf dem Weg dahin waren die Straßen völlig leergefegt. Niemand war auf der Straße. Alle hatten Angst."
In Israel wurde der frühere Generalstabschef Moshe Dayan zum Verteidigungsminister berufen. Und der syrische Verteidigungsminister Hafiz al-Assad erklärte damals, Syriens Armee sei einsatzbereit. Die Lehrerin der 11. Klasse, Ariela Shaket zeigt den Schülern arabische Propaganda-Videos aus der Zeit mit dem Ruf nach einer Vernichtung Israels:
"Der Staat Israel erklärte, keinen Angriff zu beabsichtigen, aber das brachte nichts. Und die Jordanier trafen eine sehr dramatische Entscheidung: Sie stellten sich an die Seite der Ägypter. Es ist dieselbe falsche Entscheidung, die sie bereits im Jahr 1948 trafen."
Israels Präventivschlag
Am 5. Juni 1967 zerstören israelische Kampfflugzeuge die gesamte ägyptische Luftwaffe und deren Stützpunkte. Innerhalb weniger Stunden zerstört Israel auch Flugzeuge der Syrer und Jordanier. Ein Präventivschlag, um sich aus der Umzingelung der arabischen Gegner zu befreien, heißt es in Israel. Die Rektorin schildert ihre Eindrücke von damals:
"Die Angst war unglaublich groß. Als ich nach Hause kam, sagte mir mein Vater: "hab keine Angst, wir werden siegen". Aber so war es nicht wirklich. Denn als ich in die Schule kam, fehlte auf einmal ein Mädchen, und wieder eins und wieder eins. Immer mehr Kinder verschwanden. Sie sind alle ins Ausland geflohen. Wow. Sie sind vor dem Krieg geflohen. Während des Krieges waren sie nicht im Land."
Der Schüler Oded erzählt wiederum, sein Großvater sei damals im Krieg auf der Sinai Halbinsel gefallen.
"Mein Großvater kämpfte im Sechstagekrieg auf der Sinai Halbinsel. Er war Befehlshaber einer Panzer-Kompanie und ist am vierten Tag, unserem letzten Tag auf der Sinai Halbinsel ermordet worden. Mein Vater war gerade erst drei Jahre alt und seine Schwester, meine Tante, kam zur Welt nach dem Tod meines Großvaters. Sie wurde nach ihm benannt. Er hieß Shamai und sie heißt Shamit."
Tausende Tote und viele Eroberungen
Mehr als 770 Israelis werden getötet. Mehr als 20.000 Menschen aus den arabischen Staaten sterben. Für Israel wird der Krieg strategisch und militärisch zu einem Erfolg. Die politische Karte der Region hat sich verändert: Israel erobert den Sinai, Gaza, das Westjordanland, die Golanhöhen und die Altstadt von Jerusalem mit der westlichen Mauer des Jüdischen Tempels aus römischer Zeit. Zweifel und Unsicherheit schlagen um in Erleichterung und Euphorie:
Also die Aufregung war groß und viele Menschen sind zur Klagemauer gegangen. Familien spazierten und schauten sich alles an und waren von dem Gedanken, dass dies jetzt "unser" ist, sehr berührt. Verteidigungsminister Dayan ist der Held. Nach nur sechs Tagen ist der Krieg vorbei.
Man muss es genauer sagen: Die Kriegsparteien stellen die Kämpfe ein. Die Folgen des Krieges aber lassen die gesamte Region bis heute traumatisiert zurück.
Eine Schülerin sagte, in Tel Aviv sei es komisch zu sagen, die Besatzung sei in Ordnung. Da müsse man schon mal rausfahren.
50 Jahre Besetzung des Westjordanlandes
Wir fahren nach Norden, ins von Israel besetzte Westjordanland. Das Land ist nur auf den ersten Blick karg. Die Straßen winden sich um runde Hügel mit Terrassenfeldern. Darauf stehen tausende Olivenbäume. Von beinahe jeder Hügelkuppe geht der Blick über fruchtbare Ebenen. An einigen Ecken erinnert die Landschaft an Italien.
Im Autoradio heißt es, in der Stadt Huwwarah habe ein Siedler einen Palästinenser getöette. Eine Gruppe von Palästinensern hatte für eine Demonstration die Hauptstraße des arabischen Orts gesperrt. Ein Israeli auf dem Weg in die Siedlung Itamar blieb zuerst stehen und fuhr dann in die Demonstranten. Palästinenser versuchten die Türen des Autos zu öffnen, ein Krankenwagen stellt sich in den Weg. Auf Bildern einer Überwachungskamera ist später zu sehen, wie ein Jeep der israelischen Armee ankommt. Der Siedler schießt.
Wenig später ist der Siedlerführer Yossi Dagan im Radio zu hören und schildert die Szenen aus seiner Sicht ganz anders:
"Es handelt sich um gewaltsame Randalen von Araber aus Huwwarah. Hunderte Araber schmissen Steine und Blöcke auf Männer und Frauen, die auf der Hauptstraße fuhren. Der Bewohner fuhr auf der Straße, als ihm plötzlich ein Krankenwagen den Weg versperrte. Aus dem Krankenwagen stieg ein Palästinenser aus und begann zu treten. Ihm schlossen sich viele weitere Randalierende an und versuchten einen Lynch an ihm zu verüben. Er ist nicht geflohen, er zückte einfach die Pistole, die er bei sich trug, um sein Leben zu verteidigen, um ein Lynchmord zu verhindern."
Das ist Teil der alltäglichen Gewalt. Dazu kommen Angriffe von palästinensischen Jugendlichen mit Messern auf Soldaten und Passanten. Einsätze der israelischen Armee, die außer Kontrolle geraten. Wer von außen kommt, fragt häufig, warum bleibt das alles so? Kritiker der israelischen Besatzung sagen es hat etwas mit Ideologie und mit Wirtschaft zu tun.
Palästinenser produziert für israelische Kette
Ziel der Fahrt ist eine Textilfabrik ganz im Norden des Westjordanlands, nahe der Stadt Dschenin. Es ist eine große, alte Halle, keine 200 Meter vom Grenzübergang der israelischen Armee entfernt. Ein Sweat-Shop. Nähmaschinen rattern, Bügeleisen zischen –Arbeiterinnen fügen weiße Stoffteile zu T-Shirts zusammen.
Die Fabrik steht im Westjordanland, aber auf dem kleinen eingenähten Label steht "Made in Israel". Der palästinensischen Unternehmer Abu Wassim Omari produziert ausschließlich für die israelische Bekleidungskette Honigman. Ohne den Vertrag mit "Honigman" gebe es keine Arbeit, klagt der 59-Jährige. Denn auch der Zugang zum Weltmarkt führt für Palästinenser nur über Israel:
"Stell Dir mal vor, ich würde 100 Kartons mit Klamotten über den Flughafen Tel Aviv exportieren wollen. Dann würden die Israelis sagen, wir brauchen 20 Tage um die Lieferung zu überprüfen. Das heißt, die Lieferung bleibt 20 Tage im Flughafen hängen und kostet mich 100.000 Dollar zusätzlich."
Vorteile des Status-quo für Israel
Zu hohe Kosten, um international noch wettbewerbsfähig zu sein. Das hängt auch damit zusammen, dass Israelis und Palästinenser Anfang der 1990er Jahre vereinbart hatten, dass Import und Export mit Drittländern unter israelischer Aufsicht steht. Diese Pariser Protokolle sollten vorübergehend die Wirtschaftsbeziehungen regeln. Vorübergehend bis zu einem endgültigen Abkommen. 23 Jahren ist das her.
"Alles geht durch Israel. Um zum Beispiel ein T-Shirt zu produzieren, musst Du nach dem Pariser Protokoll, 18 Prozent der Rohmaterialien von Israel beziehen. Die Taschen, die Kartons, die Etiketten kommen aus Israel. Das kostet dreimal mehr, als wenn es aus der Türkei käme."
Israel exportiert jedes Jahr Waren im Wert von fast drei Milliarden US-Dollar in die palästinensischen Gebiete. Palästina war 2015 damit der viertwichtigste Handelspartner. Selbst Toilettenpapier kauften die Palästinenser für 17 Millionen Dollar in Israel ein. Der palästinensische Unternehmensberater Sam Bahour zählt weitere Beispiele auf:
"Unser ganzes Benzin kommt aus Israel. 90 Prozent unseres Stroms kommt aus Israel. Unseren gesamten Handel wickeln wir mit Israel ab. Für Israel ist das ein großes Geschäft. Und Geschäft ist gut. Diese Besatzung macht es möglich, dass viele Unternehmen in Israel überleben."
Vorteile des Status-quo für Autonomiebehörde
Doch beim Besuch in der Textilfabrik bei Dschenin wird auch klar: Israels Wirtschaft ist nicht die einzige Seite, die Vorteile aus dem gegenwärtigen Status-quo zieht. Abu Wassim Omari erzählt, dass er auch auf dem palästinensischen Markt mit seinen Produkten seit Jahren keine Chance mehr hat: Seine Kleidung ist zu teuer im Vergleich zu den Importen aus China.
"Und mal ehrlich, wer profitiert denn von den Importen? Die Autonomiebehörde. Die Behörde bekommt so stabile Steuereinnahmen. Von meinen Arbeitern könnten sie nichts nehmen."
Abu Wassim zahlt den Arbeiterinnen nur den Mindestlohn, davon lassen sich kaum mehr Steuern abziehen.
Natürlich gibt es eine gesamte Bürokratie, die palästinensische Autonomiebehörde, die wie jede andere arabische Bürokratie, nicht auf Macht und Ämter verzichten will. Die müssen helfen, diesen künstlichen Zustand aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite versucht die Behörde mit begrenzten Möglichkeiten das Gesundheitssystem, das Schulsystem am Laufen zu halten und der Bevölkerung zu dienen.
Das halten Palästinenser wie Abu Wassim mittlerweile für eine Ausrede. Wozu gebe es ein Arbeitsministerium, wenn es keine Arbeit gibt, fragt der 60-Jährige. Nach einer Führung durch die Halle sitzt er hinter seinem kleinen Schreibtisch. Mit dem Rücken zu den Arbeiterinnen.
Bei einem ersten Besuch vor fünf Jahren war so etwas wie Aufbruchsstimmung zu spüren. Jetzt aber beschäftigt Abu Wassim nicht mehr 130 Angestellte sondern nur noch 105.
"Ich bin ärgerlicher, weil ich den palästinensischen Arbeitern keine ehrenwerten Jobs anbieten kann. Das ärgert mich am meisten. Meine Aufgabe wäre es, dafür zu sorgen, dass Arbeiterinnen nicht nach Israel gehen müssen, um Arbeit zu finden, dass ihnen der Checkpoint, die Erniedrigung und das Durchleuchten erspart bleiben."
Sechstagekrieg brachte Wirtschaftsaufschwung
Der große Einfluss der Wirtschaft ist nicht neu. Vor 50 Jahren war die Euphorie über den Sieg im Sechstagekrieg mit einem Aufschwung in Israel verbunden. So lernen es die Schüler der Ironi Dalet Schule in Tel Aviv im Geschichtsunterricht über das Jahr 1967 von ihrer Lehrerin.
"Es gibt einen wirtschaftlichen Aufschwung. Und warum? Auf einmal gibt es viele arbeitende Hände. Jetzt gibt es die palästinensischen Bürger, die die Arbeit günstiger und schneller machen. Es kommen Wirtschaftsverträge mit den USA hinzu, wirtschaftliche Investitionen, einen wahren wirtschaftlichen Aufschwung. In so einer Situation, ist kein Raum für unangenehme Fragen. Das ist tatsächlich unangenehm, denn es muss die Frage gestellt werden, welche Bedeutung 1,1 Millionen Palästinenser unter militärischer Herrschaft haben."
Heute sind es bald fünf Millionen Palästinenser die von der israelischen Besatzung und der Kontrolle im Westjordanland und Gaza betroffen sind. Die Frage nach der Bedeutung der Besatzung stellt sich für viele Israelis aber gar nicht mehr. Eine neue Generation ist aufgewachsen, die keinen Unterschied sieht, zwischen dem Kernland Israel und den besetzen Gebieten.
Das Leben als Israeli im Westjordanland
Rotem Stern lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Lechem. Das ist eine relativ neue Siedlung jenseits der Waffenstillstandslinie von 1967.
Für Besucher nimmt sich Rotem sich viel Zeit, um zu erklären, dass sie gar nicht das Gefühl hat, in einer Siedlung zu leben. Schließlich fliegen in Lechem keine Steine. Dazu passt, dass gerade eine Werbeagentur im Auftrag von Lechem mit Handzetteln in Städten wie Tel Aviv für einen Umzug in die Siedlung wirbt.
Die junge Frau mit buntem Kopftuch in den Haaren ist offen, herzlich und ein wenig aufgekratzt. Sie bereitet im Garten ihres Hauses eine Modenschau vor:
"Puh, ich weiß nicht wie es machen werde. Ich habe einen Blumenstand organisiert. Kennt ihr das? Zwei Frauen kommen und werden, während der Party Blumendekos für die Haare flechten. Das wird der Wahnsinn. Alle haben sich angemeldet, säkulare, religiöse, aus dem Zentrum des Landes und aus Samaria. Nur mein Mann tut mir Leid. Der muss seit zwei Wochen Bänke bauen."
Zwei Holzbänke liegen weiß lackiert zum Trocknen im Garten. Bei den ersten Häusern in Lechem hieß es noch, die benachbarte Siedlung Ali Zahav werde erweitert. Tatsächlich ist aber ein ganz neuer Ort entstanden; auf privatem, palästinensischem Land, das Israel zu Staatsland erklärt habe, klagen Palästinenser im benachbarten, arabischen Dorf Kufr Ad-Dik. Rotem sagt, sie wolle niemanden vertreiben:
"Es gibt Leute, die denken, dass uns das Land nicht gehört. Aber es ist das Land meiner Vorväter, das ist es immer schon gewesen. Und es ist nicht so, dass ich hier leben möchte, damit die Araber es nicht haben können. Darum, geht es nicht. Aber ich betrachte es als mein Eigentum. Meine Putzfrau ist Araberin und ein Araber hat mir auch den Laden gebaut. Also, unsere Nachbarn sind total in Ordnung."
"Unser Recht aus der Bibel hier zu leben"
Rotems Freundin Efrat arbeitet als Innenarchitektin. Von ihrer Terrasse aus geht der Blick weit über die Hügel der Westjordanlands. Ein Gebiet, das hier alle nur unter seinen biblischen Namen kennen: Judäa und Samaria. Auch Efrat nimmt sich Zeit und erklärt, warum ihr die Namen so wichtig sind.
"Ideologie in Samaria bedeutet, an unser Recht als Juden in Eretz Israel zu glauben, hier in der Hinterlassenschaft unserer Vorväter aus den Zeiten der Bibel zu leben und das Land Israel zu besiedeln. Nicht nur in Tel Aviv, Ra‘anana oder Be'er Scheva, sondern auch in den Gegenden, die über das Zentrum hinausgehen, die etwas abgelegen sind, aber eine große Bedeutung besitzen."
Als Religiöse glaube sie, dass Gott den Juden das Land geschenkt hat, dass ihnen die Region gehört und dass bereits der Stammvater Abraham hier lebte. Aber auch die steigenden Preise für Häuser im Kernland Israel spielen zunehmend eine Rolle.
"Der wirtschaftliche Aspekt ist allen wichtig, denen die Schläfenlocken haben, die eine Kopfbedeckung tragen und auch denen, die säkular sind. Wenn man etwas kaufen will, zählt am Ende nur die Frage, ob man Geld hat oder nicht. Das hat nichts damit zu tun, religiös oder säkular zu sein. Es hat nur etwas damit zu tun, ob man an diesen Ort glaubt oder nicht."
Häuser sind günstiger in Siedlungen
"Als wir hier gekauft haben, haben wir eine Million Schekel gezahlt, das war vor sechs Jahren sehr viel. Unsere Eltern waren gegen diese Investition. Es war für uns also kein wirtschaftlicher Grund, ganz Gegenteil, damals dachten alle, wir hätten zu viel bezahlt. Heute ist das Haus, das ich für eine Million gekauft habe, 1.8 Millionen wert."
Für die 1,8 Millionen Schekel von Gastgerin Rotem Stern, umgerechnet etwa 500.000 Euro, gibt es kein Haus im Zentrum des Landes. Die Siedlungen so scheint es, nehmen den Druck von der Politik. Israelis können sich trotz steigender Preise immer noch ihr Häuschen leisten – jetzt eben in Siedlungen. Wo würden sie sonst hinziehen? Efrat spekuliert:
"Vielleicht kaufen sich diese Leute kein Haus und mieten stattdessen. Vielleicht suchen sie sich Ansiedlungen im Norden, in Galiläa oder im Negev. Aber hier gibt es noch das kleine Extra, dass man nicht wirklich weit vom Zentrum entfernt ist. Wir sind relativ nah dran und das ist sehr bequem. Ich weiß nicht, wo sie hingehen würden, gute Frage. Vielleicht würden sie sich eine kleine Wohnung im Zentrum kaufen. Aber das bleibt eine kleine Wohnung, in einem Wohnblock und ist kein Haus."
Keine politische Lösung seit 50 Jahren
Wirtschaft und Ideologie sind 50 Jahre nach dem Sechstagekrieg die Säulen des gegenwärtigen Status-quo. Hinzu kommt, dass Politikern seit Jahren Kraft und wohl auch Wille fehlen, etwas zu verändern, Politikern aus Israel, Palästina und der internationalen Gemeinschaft. Zuletzt hatte US-Präsident Trump bei seinem Besuch in Israel versprochen, einen neuen Anlauf für eine politische Lösung zu finden:
"Wir wissen das Israelis und Palästinenser sich für ihre Kinder ein Leben voll Hoffnung wünschen. Frieden ist möglich, wenn wir die Verletzungen der Vergangenheit hinter uns lassen. Wenn wir uns gemeinsam verpflichten die Krise zu lösen, die ein halbes Jahrhundert andauert, wenn nicht gar länger."
Für die Schüler der Ironi Dalet Schule im Norden von Tel Aviv ist Trump nicht der erste Politiker, der ihnen Frieden verspricht. Passiert ist bisher nichts. Vor der Diskussion über die Folgen des Sechstagekrieges wird die Geschichtslehrerin Ariela Shaket immer zurückhaltender. Dafür antworten die Schüler der 11. Klasse auf unsere Fragen.
Liat wirft Adam vor, er verwechselt Frieden allein mit Sicherheit
"Der Status quo bietet uns zurzeit Sicherheit. Vielleicht ist man bestrebt, Frieden zu erlangen, aber es gibt keine Versuche, das umzusetzen. Man versucht vielmehr die Sicherheit aufrecht zu halten. Fehlende Sicherheit ist die größte Bedrohung, über die ständig gesprochen wird."
"Da kann ich Dir nicht Recht geben: Wenn jemand sagt, ein Frieden sei nicht möglich, bedeutet es nicht, dass er sich keinen Frieden wünscht. Wahrscheinlich ist es zurzeit realistischer anzunehmen, dass ein Frieden aus allen möglichen Gründen nicht möglich ist. Zum Beispiel dass die Palästinenser auf kein einziges unserer Angebote eingegangen sind und wir einfach nicht mehr anbieten können."
"Willst Du mir etwa sagen, dass der Plan von Bildungsminister Bennet etwas mit Frieden zu tun hat? Das Hauptprogramm seiner Partei ist die Annexion des Westjordanlandes Das wäre die totale Kontrolle über eine Bevölkerung, ohne ihr Rechte zu geben. Wenn Du also sagst, die Regierung oder die Mehrheit der Regierung wünscht sich Frieden, dann ist es einfach falsch."
Das ist unser Leben, sagt Michaela zum Abschluss. Sie glaubt nicht, dass es andere verstehen.