Jubiläumstreffen in der deutschen Provinz
Die Gruppe 47 ist Legende. Der wichtigste Literatenzirkel im Nachkriegs-Deutschland traf sich vor 50 Jahren das letzte Mal: in Waischenfeld in der fränkischen Schweiz. Dort gab es an diesem Wochenende ein Wiedersehen. Tobias Krone war dabei.
Golden strahlt die Herbstsonne dem Bus entgegen. Er wird Literaturgeschichte vom Nürnberger Hauptbahnhof abholen. Die freie Kulturwissenschaftlerin Karla Fohrbeck und ihr Team aus Waischenfeld haben die Skepsis einiger Teilnehmer der legendären Gruppe-47-Tagungen überwinden können – und 20 von ihnen in die Fränkische Schweiz gelockt. Darunter den Schriftsteller Jürgen Becker.
Karla Fohrbeck: "Ein schönes Beispiel ist der Preisträger von damals, Jürgen Becker, der mir einen großen Brief schrieb – handschriftlich – und nach einer Seite schrieb: Eigentlich habe ich jetzt gesagt, dass ich doch kommen muss."
90 Jahre, schwarzer Hut, schwarzer Mantel, Sonnenbrille
Am Nürnberger Hauptbahnhof trudeln sie ein, die Beckers, die Enzensbergers, die Romanciers Barbara Frischmuth und Friedrich Christian Delius, großer Auftritt von Andrzej Wirth, Theaterkritiker und "Berlins letzter Dandy", wie der Tagesspiegel ihn bezeichnet. Der 90-Jährige mit schwarzem Hut, schwarzem Mantel, schwarzer Sonnenbrille – und Rollator.
"Herr Wirth, ganz kurz, wie war die Fahrt?"
"Gelungen, wissen Sie, mit einem Abenteuer: das mein Walking Stick verloren ist. Also muss ich einen neuen kriegen, um wieder umzufallen."
Ein wenig Galgenhumor, ein wenig Wehmut. Jürgen Becker, 85, sitzt am nächsten Morgen vor dem Gasthof Pulvermühle und reflektiert das gemeinsame Essen am Vorabend. Hier in dem abgelegenen Gasthof haben sie 1967 getagt, 80 Autoren – zum Werkstattgespräch, wie der legendäre Organisator Hans Werner Richter es nannte. Er war es, der einlud, und der sie während der Tagung auf den so genannten elektrischen Stuhl bat.
Triumph oder vernichtende Niederlage
Jürgen Becker: "Und da gab es die feste Regel, ich lese nicht länger als 20 Minuten und dann haben nur die Gruppe, die Kritiker, wer immer, die Kollegen das Wort. Ich als Autor darf nichts sagen. Und da weiß man im Vorhinein nicht, wie es ausgeht. Und da konnte man einen Triumph davontragen oder man war vernichtet. Und die Fälle hat's ja gegeben, ich weiß von Kollegen, die nach einer vernichtenden Kritik an diesem Text nicht weitergeschrieben haben."
1967 wird die Gruppe 47 in ihrer Provinzherberge auch von Studentenprotesten erfasst. Eine Gesandtschaft des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes fordert laut skandierend die Autoren auf, eine Resolution gegen den Axel-Springer-Verlag zu verabschieden.
Jürgen Becker: "Das spaltete natürlich die Gruppe, denn es gab welche, die sagten, doch, mit den Studenten reden wir und die sollen mitmachen, hier. Und andere sagten, nee, also, wir sind die Gruppe 47, wir brauchen nicht so ein paar Studenten aus Erlangen, die uns beibringen sollen, was der Kampf gegen den Imperialismus ist."
Resolution gegen den Springer-Verlag
Am Ende kam die Resolution doch zustande. Die Gruppe 47 behält ihr progressives Image – auch wenn es 1967 für andere Emanzipationskämpfe wohl noch zu früh ist. Romanschriftstellerin Elisabeth Plessen, damals eine der Jüngsten:
"Als ich das erste Mal eingeladen wurde, das war hier zur Pulvermühle, fragte mich ein Kollege aus meiner Generation: Du? Dich hat Hans-Werner eingeladen? Hast du mit ihm geschlafen? Das war mir nicht eingefallen, dass man das fragen könnte."
Auch dass die männlichen Autoren ihre Frauen mitbringen durften, die Autorinnen aber nicht ihre Männer – das wurde damals nie thematisiert. Eine bittere Erkenntnis über eine schreibende Zunft, die eben auch Spiegel ihrer Gesellschaft war.
Das Jubiläumswochenende nun in Waischenfeld, es ist kein Werkstattgespräch, sondern vor allem ein Literaturfestival für die Öffentlichkeit. Die Autoren lesen auf der Burg, und auf Bühnen im Örtchen verteilt. Text-Kritik aus dem Plenum ist nicht eingeplant, was manche Autoren ein bisschen schade finden. Wohlwollend lauschen Becker und Enzensberger dem Nachwuchs - Nora Bossong etwa, die im Podiumsgespräch mit Simon Strauss erörtert, warum es heute die Gruppe 47 nicht mehr geben könnte. Ein Grund sei das gesellschaftliche Gewicht des Intellektuellen.
Bossong will ein europäisches Schriftstellertreffen
Nora Bossong: "Dass es wirklich eine andere Stellung hat. Und: Auch das hat natürlich wiederum mit der Veränderung der Gesellschaft zu tun, aber es hat vielleicht auch was mit der Veränderung zu tun, wie sich Schriftsteller verstehen und wie sie sich auch in Gruppen zusammentun und sich zusammen Gehör verschaffen. Oder eben doch sich in ihren einzelnen Facebook-Statusmeldungen ein bisschen verlieren."
Bossong und Strauss wollen nicht in ihren Statusmeldungen vereinsamen, sondern nun gemeinsam ein europäisches Schriftstellertreffen initiieren. Ganz auf eigene Faust – und nicht im Schatten einer Autorentagung, die längst Legende geworden ist.