50 Jahre Wachstumskritik

Wider besseres Wissen

Ein Exemplar von "Die Grenzen des Wachstum" steht vor einem Spiegel auf einem Tisch.
Vor 50 Jahren präsentiert und veröffentlicht: Den Bericht "Die Grenzen des Wachstum" hatte der Club of Rome in Auftrag gegeben. © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Ein Einwurf von Martin Ahrends |
1972 überreichten Wissenschaftler dem Club of Rome einen Bericht zum Zustand der Welt. "Die Grenzen des Wachstums" war der Bestseller der entstehenden Ökobewegung. Was aber dieses Wissen wirklich bewirkt hat, fragt sich der Publizist Martin Ahrends.
Vor knapp 50 Jahren las ich als Ostberliner Philosophiestudent zum ersten Mal von den Grenzen des Wachstums, die Kunde war aus Amerika sogar zu uns gedrungen, in einem verbotenen Buch, das meine Großmama beim Tagesbesuch aus Westberlin herüberschmuggelte.
Eine grüne Partei konnten wir in der DDR nicht gründen, doch eine wachsende Umweltbewegung gab es dort wie überall auf der Welt. Wer das ökologische Potenzial unserer nicht kapitalistischen Wirtschaftsform aber öffentlich diskutieren wollte, wurde totgeschwiegen.

Verordnete Kommunikationswüste in der DDR

DDR-Philosophen wie Rudolf Bahro und Wolfgang Harich hatten über die Wachstumsgrenzen nachgedacht, Monika Maron hatte sie in ihrem Buch „Flugasche“ eindringlich beschrieben.
Für ihre Themen gab es keinen Platz in den DDR-Medien, wir lebten in einer staatlich verordneten Kommunikationswüste. Nur unter dem Dach der evangelischen Kirche gab es so etwas wie eine inoffizielle grüne Öffentlichkeit, die Berliner Umweltbibliothek sprach sich auch dank westlicher Medien herum.
1980 gründete sich in Westdeutschland eine grüne Partei, uns jüngeren DDR-Philosophen wurde schmerzlich bewusst, dass bei uns wichtige Zeit vertan wurde, die man im Westen besser nutzte. Nachdem ich 1984 nach Hamburg ausreisen durfte, empfand ich die offenen Debatten um Zukunftsfragen als sehr befreiend.

Offene Debatte in Westdeutschland

Wenn westdeutsche Automobilkonzerne China und Indien mit Verbrennern überschwemmten, als man in fernöstlichen Metropolen gewöhnt war, Transporte von Mensch und Material mit allerart Lastenrädern zu praktizieren, so durfte das öffentlich angeprangert werden. Lastenräder galten in westlichen Metropolen schon bald als erstrebenswertes Mobilitätskonzept.
Jeder Laie weiß heute, dass man in besonders erfolgreichen Unternehmen über Jahrzehnte sehenden Auges in die falsche Richtung marschiert ist, mit allen Tricks der Lobbyarbeit, zuletzt mit Abgas-Betrügereien. All das konnte ungestraft recherchiert und öffentlich benannt werden.
Denn im Gegensatz zur DDR gibt es in der Bundesrepublik eine vierte Gewalt: freie Medien. Doch auch hier grasen heilige Kühe. Die Prognosen des Club of Rome haben sich vielfach bestätigt, dennoch scheint es bis heute undenkbar, dass sich in einer Meldung vom stagnierenden Wirtschaftswachstum auch eine positive Nachricht verbergen könnte.

Wirtschaftswachstum weiter positiv konnotiert

Auf allen Frequenzen nehme ich eine durchweg positive Konnotation wahr, wenn steigende Produktions- und Verkaufszahlen gemeldet werden. Entsprechende Trübsal teilt sich mit, wenn von sinkenden Zuwachsprozenten die Rede ist.
Nach den Nachrichten dann wieder die schlimmen Hintergrundberichte: Dass in Rumäniens Karpaten die Bäume fallen, illegal. Eben noch war der Vorgang in einer guten Nachricht verborgen: Vom anspringenden Wachstumsmotor in Südeuropa. Ich höre den anspringenden Motor einer Kettensäge.
Wenn Perus Wälder den neuen Plantagen weichen müssen für Blaubeeren, die um die halbe Welt zu uns reisen, dann bleibt davon in den Nachrichten nur eine positive Wachstumszahl. Diese Zahl steigt auch, wenn ein deutscher Chemiekonzern Neonicotinoide in die ganze Welt exportiert.

Schizophrenie einer Lebensweise

Wäre es nicht an der Zeit, Wachstumsmeldungen nicht wie Wasserstandsmeldungen rein quantitativ zu definieren, sondern immer auch qualitative Maßstäbe anzulegen? Ich möchte wissen, was genau da wächst oder eben abgeholzt wird, wenn die weltweit verflochtene Wirtschaft boomt.
Ich will in den Nachrichten nicht dieselbe Schizophrenie geboten bekommen, die in den Hintergrundberichten so zutreffend beklagt wird. Die Schizophrenie unserer Wirtschafts- und Lebensweise.
Wenn also 50 Jahre nach dem Report des Club of Rome in jedem Radio- und Fernsehsender von mehr oder weniger „erfreulichen Wachstumszahlen“ die Rede ist, dann ist das zumindest blauäugig.

Martin Ahrends, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung „Die Zeit“ und seit 1996 freier Autor und Publizist.

Porträtfoto von Martin Ahrends
© privat
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