50 Jahre "What's Going On" von Marvin Gaye

Schluss mit Schmusen und Kuscheln

06:11 Minuten
Portrait des Sängers Marvin Gaye
Marvin Gaye drohte damit, Motown zu verlassen, wenn er nicht "What's Going On" aufnehmen dürfe. Das Label knickte ein - und sollte es nicht bereuen. © imago / ZUMA / Globe Photo
Von Laf Überland |
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Die Plattenfirma Motown war eine Hitfabrik, aber alles andere als bekannt für Musik mit politischem Bewusstsein. Dann kam vor 50 Jahren Marvin Gayes "What’s Going On" heraus und riss die heile Soul-Welt in Stücke.
Das Konzeptalbum überraschte 1971 mit hochpolitischen Themen und einem völlig neuen Sound. Es gilt heute als Meisterwerk und taucht in diversen Listen der besten Alben aller Zeiten sehr weit oben auf.
Mit einer Party fängt das Album an – wahrscheinlich zur Begrüßung des Vietnam-Kriegsheimkehrers - aber nach ein paar Sekunden drängt die Wirklichkeit herein!

Ein Schmusesänger im tiefen Loch

Marvin Gaye war 1970 in ein tiefes Loch gefallen: Seine Duettpartnerin Tammi Terrell war an einem Hirntumor gestorben, Marvin selbst litt unter seiner Koksabhängigkeit, zudem machte ihm seine unglückliche Ehe – ausgerechnet mit der Schwester des Bosses seines Labels – das Leben schwer.
Jedenfalls fand das R&B-Sexsymbol, es müsse Schluss sein damit, mit Songs über das Schmusen und den alltäglichen privaten Beziehungsclinch sein Publikum zu sedieren. Da passte es gut, dass Obie Benson von den Four Tops auf ihn zukam: Der hatte 1969 aus dem Tourbus heraus gesehen, wie die Polizei von Berkeley, Kalifornien, Demonstranten im Park zusammenschlug und mit Schrotflinten beschoss, und frage sich: Was ist bei uns bloß los? What’s going on?
Da seine Four Tops kein Lied darüber singen wollten, bot er es Marvin Gaye an.

Flüche vom Labelboss

Unter dichten Marihuanaschwaden und dem Geruch von Scotch wurde das Stück dann aufgenommen. Motown-Boss Berry Gordy allerdings fluchte, als Gaye ihm das Stück vorspielte. Er habe noch nie so ein schlechtes Stück gehört.
Marvin Gaye zuhause mit seinem Sohn Marvin Gaye III.
Marvin Gaye etwa in der Zeit, als er 'What's Going On' aufnahm.© picture alliance / abacapress / Detroit Free Press / TNS / Ed Haun
Auch wenn andere afroamerikanische Musiker längst angefangen hatten, Soul-Protestsongs zu singen: Das Letzte, was der Motown-Fließband-Frohsinns-Fabrikant wollte, war, dass die Fans darüber nachdachten, was in der Welt passiert.
Aber Marvin setzte ihm die Pistole auf die Brust und drohte, nie wieder für ihn aufzunehmen. Also kam die Single raus – und stürmte an die Spitze der Charts.

Konzeptalbum über den Zustand der USA

Prompt gab der Chef bei Gaye ein ganzes Album dieser Art in Auftrag, das der Sänger – unerhört! – sogar selbst produzieren durfte: Und das – wurde ein Monster, das die Soul-Welt veränderte: "What’s Going On".
In Harlem, so erzählte der Gitarrist George Benson mal, schallte dieses Album aus allen offenen Kneipentüren und allen vorbeifahrenden Autos in diesem Sommer '71.
Ein Konzeptalbum über den Zustand der USA, aus der Sicht eines Kriegsheimkehrers erzählt: Die Dringlichkeit der Anliegen darauf verdichtete sich dadurch, dass die meisten Stücke ineinander übergingen – wie Medleys über die Probleme, die vor allem die schwarze Community der USA Anfang der Siebziger umtrieben.
In der Umwelthymne "Mercy Mercy (The Ecology)" fragte er: Wieviel mehr Missbrauch kann die Erde aushalten?
Und er sang davon, was den jungen GIs passiert, wenn sie nach Vietnam gehen – und was, wenn sie dann zurückkommen.
"What's Going On" klang völlig anders als Marvin Gayes zehn Alben davor: Lässig, aber dunkel, mit verschraubten Harmonien wogte es wie Ebbe und Flut durch die Gefühlszustände – zwischen Gospel und Jazz, zwischen Hoffnung und Depression, während er mit sich selbst singt.

Die Tränen der Welt

Auf dem Cover steht Marvin Gaye mit hochgeklapptem Mantelkragen im strömenden Regen – als liefen die Tränen der Welt an ihm hinab. Und es ist enttäuschend, dass sie heute immer noch laufen könnten, weil all die Themen dieses Albums noch genauso aktuell sind wie vor fünfzig Jahren: Wenn er zum Beispiel im letzten Stück "Inner City Blues" die Armut als Ursache des Übels besingt – auf diese sanfte Art, die seine Aussage noch quälender macht: "Ich würde gern schreien, so wie sie mit meinem Leben umgehen – das ist kein Leben, das ist kein Leben ..."
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