60. Dokumentarfilm-Festival DOK Leipzig

"Wildes Herz" räumt vier Preise ab

Die "Goldene Taube" zur Verleihung für den besten Dokumentar- und Animationsfilm des Dokumentar- und Animationsfilmfestivals "DOK Leipzig".
Die "Goldene Taube" zur Verleihung für den besten Dokumentar- und Animationsfilm des Dokumentar- und Animationsfilmfestivals "DOK Leipzig". © dpa / Peter Endig
Von Matthias Dell |
Mit der Preisvergabe endet das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilme DOK. Eine Goldene Taube ging an "Licu, a Romanian Story" als bester langer Dokumentarfilm, "Wildes Herz" hat gleich vier Preise abgeräumt. Matthias Dell präsentiert eine Auswahl der Wettbewerber.
Eröffnungsveranstaltungen von Festivals sind notwendig, aber häufig lästig. Es werden dann gerne wohlfeile Dinge gesagt – etwa, dass Dokumentarfilme häufiger in den öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen gezeigt werden sollten. Wie nachdrücklich diese Forderung ist, kann man daran sehen, dass sie in Leipzig seit Jahren aufgestellt wird. Dieses Mal war aber etwas anders:
"Manchmal muss man starke Entscheidungen treffen, um mit Traditionen zu brechen und Veränderungen anzustoßen."
Die derzeitige DOK-Festivalleiterin Leena Pasanen ist gewillt, im Sinne ihrer Überzeugungen auch zu handeln. So liefen im Deutschen Wettbewerb der 60. Festivalausgabe in diesem Jahr neun Filme, von denen nur einer unter weiblicher Ko-Regie entstanden war. Und deshalb verkündete Pasanen in ihrer wenig pathetischen Art, das zu ändern, wie sie im Interview erklärte:
"Für die Jahre 2018 und 2019 werden wir eine Quote für weibliche Regisseurinnen einführen. Danach werden wir schauen, was dieses Mittel bewirken kann."

Die Qualität der Filme war teilweise fragwürdig

Wie schlimm es um die Einreichungen bestellt sein muss, illustrierte der Film "Touching Concrete" über Hochhaus-Jungs in Johannesburg. Vor acht Jahren gedreht, diffus in der Erzählung und unreflektiert über seine Beobachterposition, erwies sich der Film von Ilja Stahl als großes Ärgernis.
Probleme gibt es auch bei David Sieveking:
"Bei allem Glück weiß ich wirklich nicht, wie ich jemals mit meinem Film fertig werden soll."
Sagt der Filmemacher am Ende seines neusten Films "Eingeimpft". Der Satz ist, wie vieles bei Sieveking, ein wenig kokett. Denn der Regisseur von "David wants to fly" und "Vergiss mein nicht" macht gerne sein Leben, sein Ich zum Schauplatz seiner Filme.
Banner werben am 27.10.2017 in einer Passage in Leipzig für das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm DOK Leipzig
Leipziger Dokfilm-Festival wird 60© dpa-Zentralbild / Sebastian Willnow
"Seitdem die Kinder da sind, führe ich nicht mehr Regie in meinem Leben"
Eine immer auch manipulative, schematische Methode. Für "Eingeimpft" heißt das, vom Streit mit seiner Frau Jessica zu berichten. Darüber, ob die Kinder der beiden geimpft werden sollen oder nicht. Auch wenn die Recherchen und Animationen des Films durchaus Informationswert haben – am Ende der Ich-basierten Erzählung fühlt man sich als Zuschauer unterfordert. Auch weil die Pointe von "Eingeimpft" so lächerlich wirkt:
"Wir haben uns schließlich für zwei Drei-Fach-Impfstoffe entschieden. Zaria wird gegen Tetanus, Diphterie und Keuchhusten geimpft, Yentl gegen Masern, Mumps und Röteln."
First World Problems, einer überindividualisierten Schicht, die es sich leisten kann, keine andere Sorgen zu haben in ihrer Fixierung auf das eigene Glück. Und den Erwartungen an die perfekte Tochter.
"Vielleicht beflügeln die Masern-Impfviren ja sogar ihre Kreativität."

Highlights gab es trotzdem

Als Korrektiv zur Harmlosigkeit von "Eingeimpft" bot sich im Deutschen Wettbewerb der Film "Sandmädchen" von Mark Michel an.
Vielleicht der brisanteste innerhalb des Wettbewerbs, mit einer schwer fassbaren Geschichte. Es geht um Veronika Raila, die mit schweren körperlichen Beeinträchtigungen zur Welt kam, nicht laufen kann und von ihrer Mutter gepflegt wird.
"Möchtest Du mir sagen, an was Du denkst? ... Aaaaohhr ... Ok, Dein Geheimnis"
Die hellen Bildern, die mit Texten von Veronika unterlegt sind, handeln von Kommunikation. Die Mutter spürt, was die Tochter sagen, was die von ihr geführte Veronika-Hand auf der Tastatur tippen will. Das ist nicht unproblematisch angesichts des schwachen, sprachlosen Körpers. Wenn die Mutter beschreibt, wie diese Form des Dialogs anfing beim Farbenlernen als Kind.
"Und hab dann ihr das rote Tüchlein vor die Nase gehalten und gesagt, schau, Veronika, ist das ein gelbes Tuch? Hat sie hat gesagt, nein. Das konnte sie damals, man hat das wirklich sehr gut gespürt. Ist das ein blaues Tuch? Nein. Ein grünes Tuch? Nein. Da hab ich gesagt, sie kann's, sie kann's. Ist das ein rotes Tuch? Da hat sie gesagt, nein. Auch auf einmal denk ich, die Oma hat sich doch ein bissele zu viel vorgemacht."
Denn man denkt, dass einem als Betrachter etwas vorgemacht wird: eine Mutter, die durch ihre Tochter hindurchkommuniziert, weil sie nicht akzeptieren kann, dass das Kind ein Pflegefall ist. Tatsächlich ist es andersrum: die Mutter ist das Medium der Tochter, und dass sich "Sandmädchen" in beide Richtungen lesen lässt, spricht für seine Qualität.
"Hyper, hyper, ich bin komplett im Arsch, weiß nicht, wohin mit mir, ich bin komplett Arsch, keine Ahnung, wie es weiter geht, ich bin komplett im Arsch, zu viele Fragen stell ich mir"
Besonders war auch der Dokumentarfilm "Wildes Herz" von Schauspieler Charly Hübner und Sebastian Schultz. Eine kraftvolle Coming-of-Age-Geschichte die von Jan "Monchi" Gorkow, den so kräftigen wie charismatischen Sänger der Band Feine Sahne Fischfilet. Monchi hat einen weiten Weg hinter sich: vom Hansa-Rostock-Hool zum Kopf der antifaschistischen Band, die schon mal im Verfassungsschutzbericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern auftauchte. Wegen eines Songs wie "Wut":
"Das Lied ist auch daraus entstanden, dass jeder Nazi-Marsch von der Polizei durchgeprügelt wurde, selbst gegen die größten Blockaden. Wenn in Demmin vor fünf, sechs Jahren kein Mensch gegen die Nazis demonstriert hat, und jetzt da 500 Leute sich auf die Straße setzen, und die Polizei 200 Neonazis mit Fackelaufmarsch am 8. Mai, am Tag der Befreiung, durchprügeln mit Wasserwerfern, Landtagspolitikerinnen dort angreifen, Antifaschistinnen angreifen, dann hat man einfach das Gefühl von Hilflosigkeit und das Gefühl von 'Fick Dich, Bulle'."
Gegen diese Hilflosigkeit, die zur aktuellen Stimmung im ganzen Land passt, hilft ironischerweise: dieser Film. Helfen die Geschichte und das entschiedene Engagement von Monchi und seiner Band. Wie hatte Leena Pasanen gesagt:
"Manchmal muss man starke Entscheidungen treffen, um mit Traditionen zu brechen und Veränderungen anzustoßen."

Die rumänische Produktion "Licu, a Romanian Story" ist beim Dokumentarfilmfestival DOK Leipzig als bester internationaler Beitrag mit der Goldenen Taube in der Kategorie "langer Dokumentarfilm" ausgezeichnet worden.

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