Eine rebellische Kinderheldin feiert Geburtstag
"Die kleine Hexe" von Otfried Preußler wirbelt seit 1957 deutsche Kinderzimmer durcheinander. Gegen die Vorgaben der Älteren handeln und lustvoll Grenzen überschreiten – so probiert sich die junge Heldin aus. In der damaligen Literatur ein Novum.
Susanne Preußler-Bitsch: "Eines Abends behaupteten mal meine großen Schwestern, sie könnten heute Abend nichts ins Bett gehen, sie hätten so schreckliche Angst vor den bösen Hexen."
Böse Hexen? Die gibt es doch gar nicht mehr, behauptete Otfried Preußler schnell. Er wollte die Töchter beruhigen.
Susanne Preußler-Bitsch: "Warum gibt es denn keine bösen Hexen mehr? Und dieser Frage musste er sich dann stellen: Ja, warum gibt es denn eigentlich keine bösen Hexen mehr? Und darauf musste er eine Antwort finden, mit der seine Töchter zufrieden waren. Und so entstand letztendlich die Geschichte von der guten, kleinen Hexe."
Die kleine Hexe will dazugehören, aber sie selbst bleiben
"Es war eine kleine Hexe, die war erst 127 Jahre alt, und das ist ja für eine kleine Hexe gar kein Alter."
127 Jahre, die kleine Hexe ist damit ein Kind unter den alten Hexen. Doch sie will dazugehören, zu den Großen. Und dieser dringende Wunsch und der stete Versuch, ihn zu erfüllen ohne die eigene Integrität zu verlieren, ist Thema dieser Geschichte.
Susanne Preußler-Bitsch: "Und in der vom Heranwachsen erzählt wird, ja, und in der sich auch all die kindlichen Nöten, Freunden, Fragen und Ärgernisse widerspiegeln, die man als Kind auch tagtäglich erfährt auf dem Weg zum groß werden. Und man erfährt, wie man damit umgehen kann."
Die Preußler-Hexe darf auf ihrem Weg zum Großwerden experimentieren und lustvoll Grenzen überschreiten. 1957, im Erscheinungsjahr des Buches, war das zunächst ein Novum.
Susanne Preußler-Bitsch: "Und man hat es wohl auch akzeptiert, dass es eines der ersten antiautoritären Kinderbücher war und dass man eigentlich eine kleine Hexe erlebt, die sich nach moderner Ansicht ziemlich emanzipiert und gegen die allgemeine Meinung stemmt."
Aus "Die kleine Hexe": "Ich weiß, was ich mache! Ich reite heute Nacht auf den Blocksberg." Der Rabe erschrak: "Auf den Blocksberg? Das haben dir doch die großen Hexen verboten, sie wollen beim Hexentanz unter sich sein." "Pah", rief die kleine Hexe, "verboten ist vieles."
Zeitlos aktuelle ethische Diskussionen
Wie der Tanz auf dem Blocksberg endet, wissen die Leserinnen und Leser: Kleine Hexe muss den langen, steinigen Weg zurück nach Hause zu Fuß bewältigen. Der Besen ist in den Feuerflammen der Walpurgisnacht verschwunden. Geläutert? Nein, aber ab jetzt geht es nicht mehr um das reine Lustprinzip. Die kleine Hexe muss Verantwortung übernehmen und bei jedem Einsatz ihrer magischen Kräfte zwischen Gut und Böse unterscheiden.
Tutor auf diesem Weg ist der Rabe Abraxas, der, so das Buch, "ihr in allen Dingen die Meinung sagte und nie ein Blatt vor den Schnabel nehmen kann". Diese reflektierenden, ethisch-moralischen Gespräche zwischen Titelfigur und Tier sind dabei zeitlos aktuell. Es geht unter anderem um Arm und Reich, Tierquälerei, Mobbing und Machtverhältnisse.
Rabe Abraxas wiederholt dabei immer wieder die Quintessenz: "Gute Hexen dürfen nichts Böses anrichten!"
Gute Hexen dürfen nichts Böses anrichten - Otfried Preußler führt den klassischen Hexenbegriff ad absurdum. In "Freitagsbesuch" klopfen auch an die Tür der kleinen Hexe zwei Kinder, die sich im Wald verlaufen haben. Und was tut sie, kleine Hexe? Sie bietet den beiden ein Heißgetränk an - der Backofen bleibt kalt - und weist Vroni und Thomas nach einem fröhlichen Nachmittag im Hexenhäuschen den Weg zurück in die Stadt.
Dass sie an diesem Nachmittag auch noch ein paar niedliche Haustierchen auf den Küchentisch gezaubert hat - am Freitag ist Hexen eigentlich tabu - muss die Oberhexe Rumpelpumpel ja nicht wissen.
Denn "Gutes tun", erfährt der Leser in "Der kleinen Hexe", muss keineswegs langweilig sein.