Noch immer radikal
05:02 Minuten
Vor 60 Jahren veröffentlichte der auf Erotik-Literatur spezialisierte Verlag Olympia Press "Naked Lunch". Damals löste das Buch von Beat-Autor William S. Burroughs einen Skandal aus. Benedikt Herber weiß, warum der Roman noch heute relevant ist.
Szene aus dem Film "Naked Lunch" von David Cronenberg: "Habe ich Ihnen schon von dem Mann erzählt, der seinem Arsch beibrachte zu reden? Er konnte seinen Unterleib rhythmisch heben und senken und dabei Worte furzen. Etwas Ähnliches habe ich vorher noch nie gehört: Es war ein blubbernder, heiserer, stockender Ton. Ein Ton, den man riechen konnte. Dann entwickelte er so etwas wie zahnähnliche, spitze Widerhaken. Damit konnte er sogar essen."
Im Drogenrausch verfasst
In seinem Kinofilm "Naked Lunch" von 1991 zeichnet Regisseur David Cronenberg die Entstehung des gleichnamigen Kultromans von William S. Burroughs nach. 1959 erstmals veröffentlicht, wurde das im Drogenrausch verfasste Werk mit seinen apokalyptischen Bildern zum Skandalbuch - und von mehreren Gerichten in den USA verboten. Es sei "ein widerlicher Gifthauch ununterbrochener Perversion" und "literarischer Abschaum", heißt es in einem Urteil.
Der Amerikanist Sascha Pöhlmann sieht die Gründe für diese Verdammung:
"Der Roman ist voll von Mord und Totschlag, von Sex, von Drogen. Setzt sich mit jedem Tabu auseinander, das sich die amerikanische Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt vorstellen konnte. Und deswegen ist er auch tatsächlich in den USA nicht veröffentlicht worden oder wurde verboten, bis dann ein Gerichtsurteil das wieder aufgehoben hat."
1966 fällt der Supreme Court in Massachusetts eine Entscheidung für die Freiheit der Literatur. Er attestiert "Naked Lunch" einen gesellschaftlichen Wert. Denn Burroughs ist in dieser Zeit nicht der Einzige, der die Tabus der amerikanischen Gesellschaft bricht. Eine Gruppe von literarischen Querköpfen findet sich in New York zusammen. Jack Kerouac und Allen Ginsberg sind die bekanntesten von ihnen. Sie hören Jazz, konsumieren Drogen, leben die Freiheit - auf den Straßen Amerikas. "On the Road" heißt Kerouacs berühmtester Roman. Es ist Amerikas alternativer Traum. Bald gibt es einen Namen für diese junge Generation von Künstlern: Beatniks, Beats, Hipster.
Mit 40 Jahren zog Burroughs nach Tanger
"Naked Lunch" ist aber nicht in New York entstanden, Burroughs schrieb das Werk in Marokko. Als 40-jähriger war er in die Hafenstadt Tanger gezogen.
Sascha Pöhlmann: "Ich glaube, dass es schon eine Flucht aus Amerika war. Seine Biografie ist voll von Episoden, die man sich nicht ausdenken kann. Und eine davon ist, dass er tragischerweise seine Frau erschossen hat. Bei einem dieser bizarren Wilhelm-Tell-Spiele. Beide extrem im Drogenrausch. Und er hat sie dann getötet."
Burroughs wollte seiner Frau ein Glas Wasser vom Kopf schießen, traf sie aber im Kopf. In Tanger, das als El Dorado Nordafrikas gilt, lebt er ein Leben im Rausch, mit Prostitution und Drogen.
"Als die anderen Mitglieder der Beats ihn dort mal besucht haben, haben sie ihn letztlich nach einem monatelangen, fast jahrelangen Drogenrausch dort vorgefunden. Und waren wirklich entsetzt, wie sie ihn da vorgefunden haben. Und gleichzeitig haben sie dort auch vorgefunden, dass er dieses Manuskript verfasst hat. Das dann irgendwie zu 'Naked Lunch' wurde."
Kerouac und Ginsberg sortieren die Papierstapel und setzen die losen Erzählstränge zum Roman zusammen – wenn man dieses eruptive Konglomerat überhaupt einen Roman nennen will.
Der Mund von einer gallertartigen Masse bedeckt
"Er fängt vielleicht so an wie ein relativ normaler Roman. Aber es dauert nur ein paar Seiten, bis man merkt, er funktioniert einfach nicht so. Immer wenn man denkt, man hat vielleicht eine Figur identifiziert, an die man sich halten kann oder so eine Art Handlung – auch nur ein Fragment – dann bricht es ab und bewegt sich wieder in eine andere Richtung."
Szene aus dem Film von David Cronenberg: "Als er irgendwann morgens aufwachte, stellte er fest, dass sein Mund wie der Schwanz einer Kaulquappe mit einer gallertartigen Masse bedeckt war. Immer wieder riss er sich das Zeug vom Mund, aber die Stücke klebten an seinen Händen wie warmes Gelee, sie wuchsen dort fest. Und am Ende war sein Mund vollkommen versiegelt. Es war regelrecht im Kopf gefangen. Abgeschnitten."
"Naked Lunch" hat Sascha Pöhlmann an der Ludwig Maximilians Universität in München mit seinen Studenten besprochen. Auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach Erschienen können junge Leute etwas mit Borroughs‘ Buch anfangen.
"Es funktioniert immer noch – als Konventionsbruch. Als Text, der den Leser dazu bringt, sich radikal als Leser zu hinterfragen. Und das fand ich erstaunlich. Dass sozusagen dieser Bruch der Konvention auch 60 Jahre später noch funktioniert. Wo ganz viele andere Konventionsbrüche inzwischen einfach Mainstream geworden sind. 'Naked Lunch' ist immer noch radikal."