60 Jahre Sandmännchen

Um 18:50 ist Sandmann-Zeit

06:44 Minuten
Das Sandmännchen ist als Astronaut auf dem Mond unterwegs.
Das Sandmännchen war früher in alltäglichen DDR-Fahrzeugen unterwegs, heute bewegt es sich vielfältiger fort. © picture-alliance/Soeren Stache/dpa-Zentralbild/ZB
Winfried Kujas im Gespräch mit Julius Stucke |
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Ehe jedes Kind ins Bettchen muss ... kommt das Sandmännchen vorbei, und das seit 60 Jahren. Winfried Kujas hat es im Fernsehen betreut. Im Interview erzählt er, wie sich der Abendgruß verändert hat – und was er dem Sandmann für die Zukunft wünscht.
Julius Stucke: Wenn man diese Welt sehr, sehr grob vereinfacht, dann gibt es in Deutschland eigentlich nur zwei Arten von Menschen: Es gibt die, die mit, und die, die ohne das Sandmännchen aufgewachsen sind. Kleinlich könnte man natürlich einwenden, was ist denn jetzt mit Ost und was ist mit West. Aber erstens wollen wir nicht kleinlich sein, und zweitens ist Sandmann Ost insofern der entscheidende, weil er überlebt hat und morgen 60 wird.
Ich gehöre zu denen, die ohne aufgewachsen sind, dafür ist hier im Studio ein Mann, der vermutlich alles über unser Sandmännchen erzählen kann, Winfried Kujas. Er hat Sandmann im Fernsehen betreut ab den ersten Jahren. Er hat mehr als 100 Sandmännchen-Ausstellungen organisiert, betreut den Fundus des Sandmanns, und er ist definitiv der, den Sie anrufen sollten, wenn Sie bei "Wer wird Millionär" nach dem Sandmännchen gefragt werden.
Herr Kujas, Sie haben was mitgebracht aus Ihrem Fundus – ein Sandmännchen der ersten Stunde.
Kujas: Ja, ich habe ein Sandmännchen mitgebracht, das ist nicht aus der ersten Stunde. Denn das allererste Sandmännchen steht in der Ausstellung im Filmmuseum zurzeit. Wir sind froh, dass wir es überhaupt haben, eins von den alten, aber das ist ein Sandmännchen, das in Ausstellungen stehen könnte zu jeder Zeit.
Stucke: Muss das wieder zurück ins Fernsehen oder ist das wirklich nur noch Ausstellungsstück?
Kujas: Das geht ins Archiv zurück und wird meist nur zur Ausstellung gebraucht oder zu Fototerminen.
Stucke: 60 Jahre, das ist ja eine ziemlich lange Zeit. Hätten Sie am Anfang damit gerechnet, dass es so eine lange Zeit wird?
Kujas: Eigentlich ja und nein. Ich würde sagen: Ja, weil das Sandmännchen war eingebettet insgesamt im Kinderfernsehen, und es wurde ja auch getragen von vielen Abendgruß-Figuren wie Pittiplatsch, Schnatterinchen, Fuchs und Elster, oder, sage ich mal, im Realbereich mit dem Liederspielplatz, und damit war vorausgesehen, er hat ein großes Fundament gehabt.
Winfried Kujas hält eine Sandmännchen-Puppe in den Händen.
Winfried Kujas im November 2012 mit dem Sandmännchen. © picture-alliance / dpa-Zentralbild / Matthias Hiekel
Stucke: Gutes Team sozusagen. Wenn man es jetzt aus heutigen Zeiten betrachtet, in Zeiten von Animationsfilmen, die völlig anders funktionieren, völlig anders aussehen, da wirkt es aus heutigen Zeiten natürlich irgendwie einigermaßen altmodisch, vielleicht auch einfach, weil man es schon so, so lange kennt. Warum ist das aber so konstant geblieben? Was war so der Erfolgsmoment, der den Sandmann einfach bis heute überleben lassen hat?
Kujas: Ich glaube, das waren auch die Geschichten, und dann darf man eines nicht vergessen: Der Sandmann ist ja fast jeden Abend mit einem anderen Fortbewegungsmittel gekommen – oder Fahrzeug, wie man klassisch sagte auch. Und das machte das aus. Die Kinder waren ja schon immer gespannt: Womit kommt er heute? Oder: Wo befindet er sich heute? Wir hatten ja auch bestimmte Sandmann-Rahmenhandlungen, die entscheidend waren oder aussagekräftig waren. Zum Beispiel, in welchem Bezirk, Cottbus, Werder, Spreewald oder Niederfinow, Frankfurt (Oder), das Schiffshebewerk. So gab es verschiedene Bezirke, die so Merkmale hatten, so dass die Kinder dann sagen: Heute ist er bei uns ganz in der Nähe.

Mal im Wartburg, mal mit der Diesellok

Stucke: Ist denn diese Nähe heute noch vorhanden? Oder würden Sie sagen, das geht dann jetzt doch irgendwie verloren? Ich meine auch, vielleicht weil diese Fortbewegungsmittel damals noch als etwas ganz anderes herkamen, weil einfach die Reisemöglichkeiten ganz andere waren, als sie es heute sind?
Kujas: Na ja, das würde ich gar nicht mal sagen. Das waren Fahrzeuge oder Fortbewegungsmittel zum großen Teil aus der Realität. Es war ja der Robur-Bus, es war ein Wartburg, es war ein Trabant, es war die Diesellok, die man gesehen hatte, es waren Triebwagen, Züge, wo Kinder auch mit gefahren sind, alte Straßenbahnen oder später dann die Tatrabahn. Das waren alles Fahrzeuge, die die Kinder alltäglich auch erlebt haben. Heute sind es teilweise Fantasiefahrzeuge, die Sie, sage ich mal, in jedem Computerspiel höchstwahrscheinlich noch besser sehen können. Ich glaube nicht, dass das so lange durchhalten wird.

Mehr Reiselust

Stucke: Okay, das heißt, Sie sagen, das hat noch eine Zukunft, eine lange, oder würden Sie sagen, nein, irgendwann wird es abgelöst von anderen Geschichten?
Kujas: Also ich würde sagen, es hat Zukunft. Mir fehlt ein bisschen die Internationalität, die wir ja jetzt hätten. Nach der Wende konnten wir ja einmal in der Bundesrepublik viele Sachen besuchen. Jetzt haben wir das europaweit. Er könnte nach Frankreich, er könnte nach Rom, zu besonderen Anlässen, nicht als Reiseleiter, aber zumindest, dass man sagt, aha, heute ist er in Spanien, heute ist er in Schweden oder Norwegen. Das sind so Erkenntnisse, die die Kinder vor allen Dingen in dem Alter auch immer wieder wahrhaben wollen. Sie lesen es ja auch in Büchern. Ich habe eine Enkeltochter, die jetzt vier Jahre alt ist, das ist ein richtiger Bücherwurm, und die weiß schon so erstaunlich auch in der Welt Bescheid. Das würde das natürlich unterstützen.
Stucke: Der europäische Sandmann also, das wäre natürlich auch noch eine Option. Was ist denn – ich meine, es ist eine lange Zeit, klar, Details verändern sich in einer langen Zeit –, aber was ist denn so das Wesentliche, wo Sie sagen, okay, das ist heute anders als vor 60 Jahren beim Sandmann?
Kujas: Na ja, ich kann das ja nun sehr gut vergleichen. Erstmal hatten wir eine Standardzeit, da gab es nichts dran zu rütteln: 18:50 Uhr war die Sandmannzeit. Dann kam hinzu, die Länge war ja zehn Minuten, der Abendgruß. Wir hatten vorher eine Einstimmungsmusik, sage ich immer so, eine hinführende Musik. Die Kinder sitzen dann, und dann ging erst der Abendgruß los. Das heißt, das Lied fing an, das waren zwei Strophen damals vorn, dann der Abendgruß und eine Strophe zum Schluss. Heute kommt es mehr überraschend, das heißt also, die Zeit ist dran, es geht los, kurzer Vorspann, schon ist der Abendgruß und dann der Abspann. Das ist – mehr Tempo.

Fünf Gründe, warum das Sandmännchen eine große Zukunft hat − Gedanken von "Kakadu"-Redakteur Roland Krüger

Erstens: Das Sandmännchen steht wie keine andere Figur für das gelungene Zusammenwachsen von Ost und West. Wirtschaftlich erfolgreicher als Rotkäppchen-Sekt, fescher als das Ampelmännchen aus dem Osten, und bestimmt schwimmt es auch die 200 Meter Freistil schneller als Franziska van Almsick. Das West-Sandmännchen wurde von ihm sogar schon vor dem Mauerfall in die Wüste geschickt.

Zweitens: Vom Weltraum bis zur Wanderdüne, überall ist das Sandmännchen schon mal gewesen. Es beherrscht alle Weltsprachen, sogar sorbisch spricht es fließend. Im Porsche hat es schon gesessen und im Panzer womöglich auch. Und während James Bond immer erst noch eingewiesen werden muss, bevor er einen schießenden Kugelschreiber sachgerecht verwenden kann, beherrscht das Sandmännchen alle Tricks aus dem Effeff.

Drittens: Niemand streut uns den Schlafsand professioneller in die Augen als das Sandmännchen. Viele versuchen es ja. VW mit seinen Dieselmotoren, die Regierung mit ihrem Klimapaket oder die Briten mit märchenhaften Ideen zum Brexit.

Viertens: Das Sandmännchen zeigt Mut! Es steigt zwar auch mit einem harmlosen Märchen ein und lenkt zunächst noch mit einer unverfänglichen Musik ab, aber dann greift es vor unser aller Augen in seinen Sack und macht gar keinen Hehl daraus, was es vom Abendprogramm im Deutschen Fernsehen wirklich hält.

Und fünftens: Das Sandmännchen ist auf subtile Weise hochpolitisch. Wie schwebte es zwei Tage nach einer gelungenen Ballonflucht zweier Familien aus der DDR in die Wohnzimmer ein? Jawohl: Mit einem Heißluftballon! Und deshalb sitzen jeden Abend nicht nur Kinder vor dem Bildschirm, sondern erst recht alte weiße Männer, die panische Angst vor der Zukunft haben. Das Sandmännchen könnte ja ausgerechnet heute bei ihnen zur Landung ansetzen, etwa auf dem Rasen vor dem Weißen Haus. Sandmännchen – wir brauchen dich!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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