60 Jahre türkische Musik in Deutschland

Das Bewusstsein für eine lange Tradition wächst

06:23 Minuten
Der knapp sechzig Jahre alte Ozan Ata Canani schaut in die Kamera. Er trägt ein schwarzes Shirt, eine schwarze Lederjacke und hat eine Halbglatze. Der Hintergrund ist bunt mit Formen im orientalischen Stil.
Ozan Ata Canani sang zu türkischen Instrumenten auf Deutsch. Er kam mit elf Jahren nach Deutschland, seine Eltern lockten ihn mit einer Saz. © Frederike Wetzels
Von Philipp Kressmann |
Audio herunterladen
Am 30. Oktober jährt sich der Abschluss des Anwerbeabkommens mit der Türkei zum 60. Mal. Gleich die erste Generation der Zuwanderer hat sich musikalisch eingebracht. Die Lieder sind nicht nur musikalisch interessant, sondern auch als Zeitzeugnisse.

Und die Kinder dieser Menschen,
sind geteilt in zwei Welten,
ich bin Ata und frage Euch,
wo wir jetzt hingehören.

Das singt Ozan Ata Canani, ein Kind aus diesen zwei Welten. Er kam 1975 aus der Türkei nach Deutschland, im Alter von elf Jahren. Seine Eltern arbeiteten schon in Deutschland.
Ozan Ata Canani wollte die Türkei zunächst nicht verlassen. "Der Vater hat mich mal gefragt, was können wir tun, damit du freiwillig mit uns nach Deutschland rüberkommst", erinnert er sich. Da habe er gesagt: "Eine kleine Saz!"
Die Langhalslauten sind in der anatolischen Musik weit verbreitet, Ozan Ata Canani ließ die Saz nicht mehr los. Er spielte einen eigenwilligen Elektrosaz-Sound, in seinen Texten ging es um das Leben der sogenannten Gastarbeiter, und das waren seit dem Anwerbeabkommen 1961 auch türkische und kurdische Menschen.

Aus Türkei, aus Italien,
aus Portugal Spanien,
Griechenland, Jugoslawien,
kamen die Menschen hierher.

Gastarbeiterkind mit Songs auf Deutsch

Ozan Ata Canani, Jahrgang 1963, hätte ein Star werden können, doch das Debütalbum von ihm erschien erst in diesem Jahr. Er war das erste Gastarbeiterkind, das deutsche Songs schrieb.
"Ich habe 1978 angefangen, deutsche Lieder zu schreiben. Nur die Musik war zu orientalisch für die deutschen Ohren", sagt der Musiker heute. "Und die Leute aus der Türkei, die erste Gastarbeitergeneration, die haben mich ausgelacht. Denn die wussten nicht, was da in dem Text drinstand. Die waren fixiert auf Arbeiten und Geldsparen."

Singen über Rassismus

Der heute fast 60 Jahre alte Ozan Ata Canani hat selbst in Fabriken gearbeitet. Er sang über Rassismus sowie unfaire Arbeitsbedingungen. Im Song "Deutsche Freunde" kritisierte er die Politik. "Der Fehler von den deutschen Politikern war, wenn die irgendein Gesetz rausbringen wollten oder am debattieren waren, haben die vergessen, den Gastarbeiter als Mensch ganz oben draufzusetzen", sagt Ozan Ata Canani: "Wir wurden als Maschine gesehen, sozusagen. Die wollten uns weghaben, wegschmeißen, als ob wir eine kaputte Maschine wären!"
Ozan Ata Canani entdeckte ein Zitat von Max Frisch: "Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen".

Cem Karacas Klassiker "Es kamen Menschen an"

Das Zitat inspirierte auch den damals im deutschen Exil lebenden Anadolu-Rockmusiker Cem Karaca.
Sein Song "Es kamen Menschen an" ist ein Klassiker der deutsch-türkischen Musikproduktion.

Es wurden Arbeiter gerufen,
doch es kamen Menschen an,
Es wurden Arbeiter gerufen.

Karaca ist 2004 verstorben. 2013 wurde seine Musik wieder bekannter, dank der Kompilation "Songs of Gastarbeiter".

Kompilation "Songs of Gastarbeiter"

Imran Ayata und Bülent Kullukcu haben Gastarbeitermusik aus drei Jahrzehnten gesammelt. Die Kompilation ist eine Hommage an die Elterngeneration, die Trost in der Musik fand. Regisseur und Musiker Kullukcu sagt: "Man befindet sich in der Fremde, hat Heimweh zu seiner Familie, weil: Man fand sich hier. Damals in den Anfängen gab es ja noch nicht das Wort Integration, man fühlte sich hier nicht sonderlich willkommen."
Bei der Recherche fiel Bülent Kullukcu auf, dass damals ein neuer Stil an deutscher Musik entstand. Vieles wurde in Wohnheimen oder zu Hause aufgenommen. Sogar mit Sprechgesang wurde experimentiert: "Aşık Metin Türköz, der hat ja schon angefangen, rapmäßig, quasi in kleinen Phasen, bestimmte Sachen in die Lieder einzubauen und das dann halt zu wiederholen, auch im Loop und so."

Heute für mich schöne Tag,
morgen meine Geburtstag.

Traditionell türkische Musik wurde in neue Kontexte überführt, lange bevor Rap-Größen wie Eko Fresh oder die Microphone Mafia eine Saz oder Zurna mit Hip-Hop verknüpften und Gastarbeiter-Biografien würdigten.

Musikpioniere auf Hochzeiten

Bülent Kullukcu hat Pioniere entdeckt, etwa Derdiyoklar. Das Duo kam in den 70ern nach Deutschland und spielte anatolischen Disco-Folk, oft auf Hochzeiten.
"Sehr absurd, weil man denkt, auf so einer Hochzeit spielen sie so ganz traditionelle Musik und tanzen da den Halay und so weiter", sagt Bülent Kullukcu. "Dann spielt da so eine Band, die sehr avantgardistisch daherkommt und einen krautigen Türk-Rock spielt. Das ist schon sehr interessant gewesen."
Die Kompilation von Kullukcu und Ayata schuf mehr Bewusstsein für diese Musik.

Bağlama in die Konzertsäle

Heute führt das Erbe etwa die Hamburger Musikerin Derya Yıldırım weiter, auf ihre Weise: Sie hat das anatolische Instrument Bağlama studiert, auch aus der Familie der Langhalslauten.
Mit dem Ensemble Resonanz brachte sie ihre Liedersammlung in neue Klangwelten. "Das hat einfach Platz in einem Konzertsaal. Keiner fragt, wenn die Mandoline mit dem Orchester spielt, ob das europäische Musik ist oder nicht. Deswegen will ich auch, dass keiner das infrage stellt, wenn die Bağlama mit einem Streichorchester oder einem Ensemble transformierte anatolische Musik spielt, die einfach neue Musik ist."

"Outernational" – ein ganz spezieller Klang

Ihre Band Grup Şimşek beschreibt sich sogar als "outernational". Hier trifft etwa anatolischer Folk auf psychedelische Sounds.
Diese Schwere, diese Last, diese Tiefe, ja, dieser ganz spezielle Klang, wie das bis hierher gekommen ist: dass ich in der dritten Generation sogar quasi eine Aufgabe darin sehe, das Instrument einfach weiterzuspielen, weiterzutragen, weiter zu vererben. Ich würde schon gerne wollen, dass meine Kinder Saz spielen können."
Mehr zum Thema