Mein 7. Oktober

Ein Tag, der uns verändert hat

Zwei Frauen umarmen sich bei einem Protest vor dem Büro von Premierminister Benjamin Netanyahu in Jerusalem, nachdem die israelische Armee am 1. September 2024 die Leichen von sechs Geiseln aus einem Tunnel in Rafah geborgen hatte.
Protest gegen Premierminister: Zwei Frauen umarmen sich in Jerusalem vor dem Büro von Benjamin Netanjahu, zuvor wurden die Leichen von sechs Geiseln geborgen. © picture alliance / newscom / DEBBIE HILL
Am 7. Oktober jährt sich der Angriff der Hamas auf Israel. Die Wunden sitzen tief – auf israelischer und palästinensischer Seite. Wie geht es den Menschen ein Jahr später?
Am 7. Oktober 2023 überfiel die Hamas Israel, 1200 Menschen wurden getötet und rund 240 Geiseln in den Gazastreifen entführt. Der Angriff jährt sich zum ersten Mal. Mehr als hundert Geiseln befinden sich weiterhin in Gefangenschaft; Zehntausende Palästinenser sind im Gazakrieg gestorben. Der Konflikt droht, weiter zu eskalieren und auf den Libanon überzugreifen.

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Gigi Lev: Das Leben nach dem Angriff

Für die Lehrerin Gigi Lev war der 7. Oktober ein tiefer Einschnitt. Sie kam vor 35 Jahren aus den USA in den Kibbuz Holit, nahe dem Gazastreifen. Den Angriff der Hamas überlebte sie mit ihrem Mann und einer Nachbarin, indem sie stundenlang im Sicherheitsraum ihres Hauses ausharrte:

Die Familie, die links neben mir wohnt, mein Mann, meine Nachbarin, die auf der rechten Seite lebt – wir haben es überlebt. Gegenüber von mir, in den ersten ein, zwei, drei Häusern, wurde jeder ermordet. In meiner Nachbarschaft wurden insgesamt neun Menschen getötet. Sie waren alle meine Nachbarn. Sie waren alle meine Freunde. Es waren Menschen, mit denen ich jahrelang gelebt habe. (…) Holit ist seit 35 Jahren mein Zuhause, also laufe ich einfach herum und stelle sicher, dass es noch da ist. Ich schaue mir die Bäume an, die Statuen, stelle sicher, dass alles noch da ist. Stelle sicher, dass mein Zuhause noch da ist.

Eine Rückkehr nach Holit ist für Gigi Lev erst möglich, wenn der Krieg endet.
Der weitgehend zerstörte Kibbuz Kfar Aza und eine einsame Israel-Fahne.
Mehrere Kibbuze in der Nähe des Gazastreifens wurden am 7. Oktober brutal von der Hamas überfallen, so auch der Kibbuz Kfar Aza. Viele Bewohner wurden ermordet. © picture alliance / CTK / Darvik Maca Vojtech

Liri Roman: Nach der Entführung seiner Schwester

Für Liri Roman war der 7. Oktober ein Wendepunkt. Der Architekt, Mitte 30, lebt in Giv'atayim bei Tel Aviv. Beim Hamas-Angriff auf Israel wurde seine Schwester Yarden Roman Gat als Geisel genommen. Nach 53 Tagen, am 29. November 2023, kam sie durch einen Gefangenenaustausch frei. Liri berichtet:

Menschen wurden getötet. Ich spreche auch über Gaza. (…) Solange sie leiden, wachsen ihre Kinder mit Hass auf, und wir werden in Zukunft Probleme haben. Wenn nicht alle ein gutes Leben haben, wird es immer Probleme geben. (…) Früher war ich super optimistisch, ich konnte das Komplexe der Verhandlungen und des Krieges verstehen sowie die verschiedenen Bedeutungen davon. Jetzt, nach einem Jahr, habe ich das Gefühl, dass wir nur noch Karten in der Politik spielen. (…) Ich habe das Gefühl, dass wir diesen Krieg hätten beenden können. Dass wir das Kapitel mit den Geiseln hätten abschließen können. Es war ein Jahr voller Auf und Ab in Israel. Jedes Mal in den Nachrichten gibt es neue Schlagzeilen, die von Fortschritten in den Verhandlungen sprechen. Aber dann stürzt alles wieder ein. Die ganze Gesellschaft erlebt hier diese Achterbahnfahrt mit.

Carmel Gat, die Schwester von Liris Schwager Alon, war ebenfalls unter den Geiseln. Am 1. September 2024 wurde sie als eine von sechs getöteten Geiseln aus einem Tunnel im Gazastreifen geborgen. Das israelische Militär vermutet, dass sie zwei bis drei Tage zuvor exekutiert wurde.
Ein Mann trauert während einer Demonstration vor dem Plakat von Carmel Gat.
Ein Mann trauert während einer Demonstration vor dem Plakat von Carmel Gat, der Schwester von Liris Schwager Alon.© picture alliance / dpa / Ilia Yefimovich

Eyal Nouri: Kampf für die Freilassung der Geiseln

Der Unternehmer Eyal Nouri kämpfte wochenlang für die Freilassung seiner Tante Adina Moshe, die am 7. Oktober aus dem Kibbuz Nir Oz entführt wurde, nachdem ihr Mann vor ihren Augen erschossen worden war. Am 24. November 2023 wurde sie zusammen mit zwölf Geiseln aus einem Tunnel befreit. Jede Woche demonstriert Eyal für die Freilassung der Geiseln und ein Abkommen mit der Hamas:

Sie lacht und weint gleichzeitig, alles in einer Minute. Das zeigt, dass sie noch immer dort ist, auch wenn ihr Körper hier ist, aber ihr Geist ist noch dort. Sie weiß, dass jede Minute zählt. Mit jeder Minute, in der wir die anderen Geiseln nicht zurückbringen, verlieren sie ihren Verstand, ihren Körper und ihren Geist. Einige werden sterben. Und wir werden nie dieselbe Person zurückbekommen. (…) Wir leben in einer sehr instabilen Situation und wissen nicht, was als Nächstes passiert. Aber wir hoffen auf eine bessere Zukunft, beginnend mit der Freilassung der Geiseln. Es ist nicht mehr das gleiche Leben. Wir lachen nicht mehr so wie früher. Aber das Erste, was geschehen muss, ist die Freilassung der Geiseln, dann können wir uns mit dem Trauma auseinandersetzen, denn die ganze Gesellschaft steht unter Schock.

Jules El-Khatib: Ein Ende der doppelten Standarts

Der Soziologe Jules El-Khatib hat palästinensische Wurzeln, er besitzt die deutsche sowie die israelische Staatsbürgerschaft. Ein Teil seiner Familie lebt im Gazastreifen. Er sagt:

Am 7. Oktober wurden 1.200 Menschen getötet. Ich habe es am Morgen erfahren und war schockiert. Im darauffolgenden Jahr wurden im Gazastreifen mindestens 41.000 Palästinenser getötet - und das Töten geht weiter. Jeden Tag aufs Neue schockieren mich dieses Leid, die Trauer und die Verzweiflung, weil man kaum etwas tun kann. Es hat aber auch verdeutlicht, dass wir eine Politik brauchen, die sich konsequent für Menschenrechte einsetzt. Und zwar immer, unabhängig davon, um wen es geht. Wir brauchen ein Ende der doppelten Standards. Es muss eine gleiche Behandlung von Israelis und Palästinensern geben. Zudem hat es gezeigt, dass es eine Zukunft im Nahen Osten nur geben kann, wenn alle Menschen Sicherheit und Perspektiven erhalten – unabhängig von ihrer Religion oder Herkunft.

Frauen halten Plakate hoch und rufen auf einer Demonstration in Jerusalem lautstark die Freilassung der Geiseln in Gaza ein.
Immer wieder protestieren Tausende Menschen in Jerusalem für die Freilassung der Geiseln im Gazastreifen.© picture alliance / ZUMAPRESS.com / Nir Alon

Ofer Waldman: Der 7. Oktober als Tag zur Mahnung

Nicht nur in Israel, auch in Deutschland hat der 7. Oktober 2023 viel verändert – vor allem für Menschen mit israelischen und palästinensischen Wurzeln. Seitdem ist die Zahl antisemitischer Vorfälle gestiegen, gleichzeitig hat auch der Hass gegen Muslime zugenommen. Ofer Waldman, israelischer Autor und Musiker, beschäftigt das:

Der 7. Oktober zerriss die Grenzen des Vorstellbaren für mich. Die Gräueltaten, die Misshandlungen, die Entführungen durch die Hamas und der Krieg, der darauf folgte, mit unermesslichem Tod und Leid in Gaza, zerschmettern immer wieder aufs Neue die eigene Vorstellungskraft. Der 7. Oktober und der Krieg, der darauf folgte, der nun auch zwischen der Hisbollah im Libanon und Israel tobt, löste ein Erdbeben aus, das bis heute andauert. Der 7. Oktober und die darauffolgende antisemitische und rassistische Welle weltweit haben mich aus der Welt herausgeworfen. Ich weiß, dass der Weg zurück in diese Welt darüber führt, auf Anerkennung für das Leid in Israel zu bestehen und ebenso darauf zu bestehen, dass das Leid der Menschen in Gaza und im Libanon anerkannt wird. Dass der Krieg aufhört, dass die Geiseln nach Hause kommen und dass dieser Tag zur Mahnung wird, eine politische Lösung für die Region zu finden. Es liegt an uns.

Shai Hoffmann: Warum der Austausch wichtig ist

Bei Shai Hoffmann hat der 7. Oktober Narben hinterlassen. Er ist deutscher Jude mit israelischen Wurzeln und arbeitet als Sozialunternehmer, Aktivist, Speaker und Moderator:

Der 7. Oktober hat vieles mit mir gemacht, hat vieles mit Juden und Jüdinnen gemacht, er hat aber auch vieles mit Palästinenserinnen und Palästinensern gemacht. Der 7. Oktober hat mich jüdischer gemacht, hat bei mir viele Identitätsfragen aufgeworfen, viele innere Konflikte hervorgerufen und gleichzeitig hat er mich auch bestärkt, wenn ich auf unsere Gesellschaft hier in Deutschland blicke. Dass wir Dialogarbeit, dass wir Trialogarbeit unbedingt brauchen, vor allem an Schulen mit Schülerinnen und Schülern, denn sie sind unsere Zukunft, die Gesellschaft, die Gemeinschaft formt. Wir müssen im Austausch bleiben und tunlichst vermeiden, dass Muslime, Musliminnen sowie Juden und Jüdinnen gegeneinander ausgespielt werden. Dafür müssen wir miteinander reden.

Eine Frau mit Kopftuch zeigt am 28. September 2024 während einer pro-palästinensischen und libanesischen Protestkundgebung in Berlin ihre Solidarität mit Libanon. Im Hintergrund sind palästinensische und libanesische Flaggen zu sehen.
Protest gegen Krieg: Eine Frau zeigt am 28. September 2024 während einer Demonstration in Berlin ihre Solidarität mit Libanon.© picture alliance / Middle East Images / Noemie de Bellaigue

Benjamin Hammer: Zweifel am Frieden

Der Journalist Benjamin Hammer arbeitete fünf Jahre als Korrespondent in Israel und den palästinensischen Gebieten. Er beobachtet, dass der Dialog immer mehr abnimmt. Er blickt mit Sorge in die Zukunft:

Ich bin im sicheren Berlin und von daher kann ich nur erahnen, welches Leid die Menschen auf beiden Seiten am 7. Oktober und während des Krieges im Anschluss erfahren haben. Am 7. Oktober ging mir ein Wort durch den Kopf: unfassbar. Ich hatte die schwer gesicherte Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel mehrfach passiert und dachte, dass es unmöglich sein würde, dass Hamas und islamischer Dschihad diese Grenze überwinden und Israel überfallen könnten. Ein Jahr später gehen mir vor allem zwei Dinge durch den Kopf. Erstens, die beiden vermeintlichen Lager – pro-israelisch, pro-palästinensisch, auch in Deutschland – stehen sich immer unerbittlicher gegenüber, und es wird immer mehr über und immer weniger miteinander gesprochen. Und die zweite Sache: Ich merke immer mehr, dass ich am 7. Oktober 2023 vorerst den letzten Glauben an einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern verloren habe.

Anne Françoise Weber: Besorgt über die Situation

Anne Françoise Weber ist deutsch-französische Sozialwissenschaftlerin und Journalistin. Sie kennt die Region gut:

Der Tag selbst hat mich erschüttert. (…) Ich habe im Libanon gelebt, in Israel und auch ein bisschen im Westjordanland. Dort sind überall Menschen, bei denen ich mich frage: Wie geht es ihnen jetzt? Aber ich bin auch über die Situation hier besorgt. Nach dem 7. Oktober habe ich ein Gespräch mit einer jüdischen Kollegin geführt, die in Tränen ausgebrochen ist. Ein paar Tage später hatte ich ein Gespräch mit einer muslimischen Kollegin, die ebenfalls in Tränen ausgebrochen ist. Beide fühlten sich von der Mehrheitsgesellschaft nicht verstanden. Umso mehr bewundere ich Menschen, die versuchen, beide Seiten zu verstehen, die sich vor Ort für Frieden einsetzen und auch hier dafür sorgen, dass beide Seiten gehört werden.


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