Die Familie, die links neben mir wohnt, mein Mann, meine Nachbarin, die auf der rechten Seite lebt – wir haben es überlebt. Gegenüber von mir, in den ersten ein, zwei, drei Häusern, wurde jeder ermordet. In meiner Nachbarschaft wurden insgesamt neun Menschen getötet. Sie waren alle meine Nachbarn. Sie waren alle meine Freunde. Es waren Menschen, mit denen ich jahrelang gelebt habe. (…) Holit ist seit 35 Jahren mein Zuhause, also laufe ich einfach herum und stelle sicher, dass es noch da ist. Ich schaue mir die Bäume an, die Statuen, stelle sicher, dass alles noch da ist. Stelle sicher, dass mein Zuhause noch da ist.
Ein Tag, der uns verändert hat
Gigi Lev: Das Leben nach dem Angriff
Liri Roman: Nach der Entführung seiner Schwester
Menschen wurden getötet. Ich spreche auch über Gaza. (…) Solange sie leiden, wachsen ihre Kinder mit Hass auf, und wir werden in Zukunft Probleme haben. Wenn nicht alle ein gutes Leben haben, wird es immer Probleme geben. (…) Früher war ich super optimistisch, ich konnte das Komplexe der Verhandlungen und des Krieges verstehen sowie die verschiedenen Bedeutungen davon. Jetzt, nach einem Jahr, habe ich das Gefühl, dass wir nur noch Karten in der Politik spielen. (…) Ich habe das Gefühl, dass wir diesen Krieg hätten beenden können. Dass wir das Kapitel mit den Geiseln hätten abschließen können. Es war ein Jahr voller Auf und Ab in Israel. Jedes Mal in den Nachrichten gibt es neue Schlagzeilen, die von Fortschritten in den Verhandlungen sprechen. Aber dann stürzt alles wieder ein. Die ganze Gesellschaft erlebt hier diese Achterbahnfahrt mit.
Eyal Nouri: Kampf für die Freilassung der Geiseln
Sie lacht und weint gleichzeitig, alles in einer Minute. Das zeigt, dass sie noch immer dort ist, auch wenn ihr Körper hier ist, aber ihr Geist ist noch dort. Sie weiß, dass jede Minute zählt. Mit jeder Minute, in der wir die anderen Geiseln nicht zurückbringen, verlieren sie ihren Verstand, ihren Körper und ihren Geist. Einige werden sterben. Und wir werden nie dieselbe Person zurückbekommen. (…) Wir leben in einer sehr instabilen Situation und wissen nicht, was als Nächstes passiert. Aber wir hoffen auf eine bessere Zukunft, beginnend mit der Freilassung der Geiseln. Es ist nicht mehr das gleiche Leben. Wir lachen nicht mehr so wie früher. Aber das Erste, was geschehen muss, ist die Freilassung der Geiseln, dann können wir uns mit dem Trauma auseinandersetzen, denn die ganze Gesellschaft steht unter Schock.
Jules El-Khatib: Ein Ende der doppelten Standarts
Am 7. Oktober wurden 1.200 Menschen getötet. Ich habe es am Morgen erfahren und war schockiert. Im darauffolgenden Jahr wurden im Gazastreifen mindestens 41.000 Palästinenser getötet - und das Töten geht weiter. Jeden Tag aufs Neue schockieren mich dieses Leid, die Trauer und die Verzweiflung, weil man kaum etwas tun kann. Es hat aber auch verdeutlicht, dass wir eine Politik brauchen, die sich konsequent für Menschenrechte einsetzt. Und zwar immer, unabhängig davon, um wen es geht. Wir brauchen ein Ende der doppelten Standards. Es muss eine gleiche Behandlung von Israelis und Palästinensern geben. Zudem hat es gezeigt, dass es eine Zukunft im Nahen Osten nur geben kann, wenn alle Menschen Sicherheit und Perspektiven erhalten – unabhängig von ihrer Religion oder Herkunft.
Ofer Waldman: Der 7. Oktober als Tag zur Mahnung
Der 7. Oktober zerriss die Grenzen des Vorstellbaren für mich. Die Gräueltaten, die Misshandlungen, die Entführungen durch die Hamas und der Krieg, der darauf folgte, mit unermesslichem Tod und Leid in Gaza, zerschmettern immer wieder aufs Neue die eigene Vorstellungskraft. Der 7. Oktober und der Krieg, der darauf folgte, der nun auch zwischen der Hisbollah im Libanon und Israel tobt, löste ein Erdbeben aus, das bis heute andauert. Der 7. Oktober und die darauffolgende antisemitische und rassistische Welle weltweit haben mich aus der Welt herausgeworfen. Ich weiß, dass der Weg zurück in diese Welt darüber führt, auf Anerkennung für das Leid in Israel zu bestehen und ebenso darauf zu bestehen, dass das Leid der Menschen in Gaza und im Libanon anerkannt wird. Dass der Krieg aufhört, dass die Geiseln nach Hause kommen und dass dieser Tag zur Mahnung wird, eine politische Lösung für die Region zu finden. Es liegt an uns.
Shai Hoffmann: Warum der Austausch wichtig ist
Der 7. Oktober hat vieles mit mir gemacht, hat vieles mit Juden und Jüdinnen gemacht, er hat aber auch vieles mit Palästinenserinnen und Palästinensern gemacht. Der 7. Oktober hat mich jüdischer gemacht, hat bei mir viele Identitätsfragen aufgeworfen, viele innere Konflikte hervorgerufen und gleichzeitig hat er mich auch bestärkt, wenn ich auf unsere Gesellschaft hier in Deutschland blicke. Dass wir Dialogarbeit, dass wir Trialogarbeit unbedingt brauchen, vor allem an Schulen mit Schülerinnen und Schülern, denn sie sind unsere Zukunft, die Gesellschaft, die Gemeinschaft formt. Wir müssen im Austausch bleiben und tunlichst vermeiden, dass Muslime, Musliminnen sowie Juden und Jüdinnen gegeneinander ausgespielt werden. Dafür müssen wir miteinander reden.
Benjamin Hammer: Zweifel am Frieden
Ich bin im sicheren Berlin und von daher kann ich nur erahnen, welches Leid die Menschen auf beiden Seiten am 7. Oktober und während des Krieges im Anschluss erfahren haben. Am 7. Oktober ging mir ein Wort durch den Kopf: unfassbar. Ich hatte die schwer gesicherte Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel mehrfach passiert und dachte, dass es unmöglich sein würde, dass Hamas und islamischer Dschihad diese Grenze überwinden und Israel überfallen könnten. Ein Jahr später gehen mir vor allem zwei Dinge durch den Kopf. Erstens, die beiden vermeintlichen Lager – pro-israelisch, pro-palästinensisch, auch in Deutschland – stehen sich immer unerbittlicher gegenüber, und es wird immer mehr über und immer weniger miteinander gesprochen. Und die zweite Sache: Ich merke immer mehr, dass ich am 7. Oktober 2023 vorerst den letzten Glauben an einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern verloren habe.
Anne Françoise Weber: Besorgt über die Situation
Der Tag selbst hat mich erschüttert. (…) Ich habe im Libanon gelebt, in Israel und auch ein bisschen im Westjordanland. Dort sind überall Menschen, bei denen ich mich frage: Wie geht es ihnen jetzt? Aber ich bin auch über die Situation hier besorgt. Nach dem 7. Oktober habe ich ein Gespräch mit einer jüdischen Kollegin geführt, die in Tränen ausgebrochen ist. Ein paar Tage später hatte ich ein Gespräch mit einer muslimischen Kollegin, die ebenfalls in Tränen ausgebrochen ist. Beide fühlten sich von der Mehrheitsgesellschaft nicht verstanden. Umso mehr bewundere ich Menschen, die versuchen, beide Seiten zu verstehen, die sich vor Ort für Frieden einsetzen und auch hier dafür sorgen, dass beide Seiten gehört werden.