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Mythos Kibbuz als Labor des Landes
Kein Privateigentum und alle sind gleich - so lebten anfangs viele Israelis. Der Kibbuz sollte weniger grausam als die übrige Welt sein. Fast so wie Israel für die Juden. In 70 Jahren veränderte sich einiges, viel wurde erreicht. Was fehlt? Frieden.
Als Israel vor 70 Jahren entstand, lebte etwa jeder zwölfte Bürger in einem Kibbuz. Jetzt sind es weit weniger: rund 1,8 Prozent der Bevölkerung. Aber immer noch stehen die Dörfer für die einstigen Träume der Staatsgründer. Was wurde daraus? Eine Rundreise durch Israel in vier Kibbuzim:
Erster Kibbuz: Tsuba - 70 Jahre alt, genauso wie Israel
Ein Versammlungsraum im Zentrum von Tsuba. Der Rat des Kibbuz tagt, 35 Frauen und Männer. Die Stimmung ist angespannt. Heute wird entschieden, welche neuen Familien in den Kibbuz einziehen dürfen. Und wer eine Absage bekommt. Als Yael Kerem vor 40 Jahren nach Tsuba kam, wurde sie aufgenommen. Seitdem ist die gebürtige Südafrikanerin Teil der Gemeinschaft.
"Hier in Tsuba sind viele Kinder aufgewachsen. Wenn sie Familien gegründet haben, wollen sie zurückkehren. Aber es gibt nicht genügend freie Häuser. Also müssen wir eine Auswahl treffen. Und das ist nicht leicht."
In Tsuba herrscht noch immer Basisdemokratie, wie im Gründungsjahr 1948. Mehr noch: Alle Bewohner, oder Freunde, wie sie sich hier nennen, bekommen das gleiche Budget. Egal, ob sie in der Kantine arbeiten oder die Verwaltung des Kibbuz leiten.
"Man wollte damals eine neue, eine bessere Gesellschaft aufbauen. Als der Staat gegründet wurde, kamen mit einem Mal Millionen von Menschen - und viele Dinge mussten aus dem Nichts aufgebaut werden. In einer Kooperative konnten sich die Menschen helfen, sie waren füreinander da. Dahinter verbirgt sich das Prinzip eines Kibbuz: Jeder gibt so viel, wie er kann und bekommt was er braucht."
Ruth Keren war von Anfang an dabei im Kibbuz Tsuba. Sie ist 88 Jahre alt.
"Das ist mein Zuhause. Hier bin ich im jungen Alter von 18 Jahren hergekommen. Ich habe hier geheiratet, und hier habe ich fünf Mädchen zur Welt gebracht."
Ruth Keren wurde 1930 in Berlin geboren. Drei Jahre später wanderte ihre jüdische Familie in das damalige Palästina aus. In jenem Jahr, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen.
Am Tag der Staatsgründung begann der Krieg
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ermordeten die Nazis sechs Millionen Juden. Drei Jahre später, im Mai 1948, verkündete David Ben-Gurion in Tel Aviv die Gründung des Staates Israel.
Die 88-jährige Ruth Kerren:
"Während der gesamten Geschichte war das jüdische Volk auf der Welt zerstreut. Und wir haben gesehen, was den Juden angetan wurde und was in der Schoah geschah. Ein eigener Staat – das ist die Basis für das jüdische Volk. Heute leben viele Juden in anderen Ländern und anscheinend geht es ihnen dort gut. Aber Israel ist ein Kern, der das jüdischen Volk vereint."
1948 war Ruth Keren Teil des Palmach. Jener Miliz, die später in der israelischen Armee aufging. Viel Zeit zum Feiern hatten Ruth und ihre Mitstreiter nicht, als Ben-Gurion die Staatsgründung ausrief, erinnert sich die 88-Jährige:
"Wir tanzten auf den Straßen und freuten uns. Aber sofort begannen die Kämpfe. Es gab keine Ruhe, die Kämpfe mit den Arabern begannen unmittelbar und die Leute, die im Palmach waren, waren Kämpfer. Ich habe dabei auch Freunde verloren."
Unmittelbar nach der Staatsgründung griffen die Armeen von fünf arabischen Ländern Israel an. Einen jüdischen Staat im Nahen Osten wollten sie um jeden Preis verhindern. Israel gewann den Krieg. Doch noch heute, 70 Jahre später, haben die meisten arabischen Länder den jüdischen Staat in ihrer Nachbarschaft nicht akzeptiert. Und bis heute gibt es keinen Frieden mit den direkten Nachbarn der Israelis: Den Palästinensern.
1948 flohen die meisten Palästinenser oder wurden vertrieben
Yael Kerem, die einst von Südafrika nach Israel auswanderte, führt durch ihren Kibbuz, durch Tsuba, der in der Nähe von Jerusalem liegt. In der Bibel steht, dass sich hier zur Zeit des Königs David eine jüdische Siedlung befand. Also vor rund 3000 Jahren. Später war Tsuba ein palästinensisches Dorf.
Zwei Männer arbeiten gerade in einem Vorgarten vor einem Haus.
"Sie sind Araber aus dem Dorf Ein Rafah. Ihr Großvater kam aus Tsuba."
Heute gibt es das palästinensische Tsuba nicht mehr. Die Überreste der alten Steinhäuser kann man auf einem Hügel in der Nähe des heutigen Kibbuz sehen. Der jüdische Palmach eroberte Tsuba während des Unabhängigkeitskrieges 1948. Die meisten arabischen Bewohner flohen schon vor den Kämpfen. Einige von ihnen und ihre Nachfahren leben heute in Ein Rafah, einem Nachbardorf. Andere flohen bis nach Jordanien und sind nie zurückgekehrt. Für jüdische Israelis ist der 70. Geburtstag ihres Staates ein Feiertag. Für die meisten Palästinenser ist es die "Nakba", eine Katastrophe. Hunderttausende Palästinenser flohen damals aus dem Gebiet, das heute Israel ist. Oder sie wurden vertrieben. Wie geht Yael Kerem damit um?
"Passt auf: In Israel gibt es Widersprüche und wir leben damit. Das ist ein Problem. Aber wenn es darum geht, ob es einen Staat für das jüdische Volk geben soll oder nicht, dann soll es einen Staat für das jüdische Volk geben. Es ist nicht einfach zu sagen, dass hier Araber waren, die vertrieben wurden und jetzt nicht mehr in ihr Haus zurückkehren. Deswegen gibt es seit 70 Jahren keinen Frieden – aber für das jüdische Volk ist die Bedeutung eines jüdischen Staates erst recht nach dem Holocaust das Wichtigste."
Amos Oz feiert den 70. Geburtstag Israels
Auch der israelische Schriftsteller Amos Oz hat eine Kibbuzgeschichte. Mit 14 Jahren zog er von Jerusalem in den Kibbuz Hulda im Zentrum von Israel. Die Gründung des Staates Israel vor 70 Jahren erlebte er als kleiner Junge in Jerusalem.
"Der 14. Mai 1948 war ein Freitag. Jerusalem stand damals bereits zwei oder drei Monate unter arabischer Belagerung. Ab und zu erreichten uns Versorgungskonvois. Und trotzdem litten wir an Hunger. In Jerusalem gab es damals auch kein sauberes Wasser. Stattdessen gab es Angst."
Amos Oz hat einmal gesagt: "Ich liebe Israel". Aber er fügte hinzu, dass er das Land eigentlich nicht möge. Ein Bekenntnis in einem Land voller Widersprüche. Amoz Oz will den Status Quo in seiner Heimat nicht akzeptieren, die israelische Besatzung des palästinensischen Westjordanlandes etwa, die nun bereits fünf Jahrzehnte währt. Den seit mehr als 70 Jahren ungelösten Konflikt mit den Palästinensern. Dass es seit Jahren keine Verhandlungen mehr gibt zwischen Israelis und Palästinensern. Trotzdem wird er den 70. Geburtstag von Israel feiern.
"Ich werde mein Glas erheben. Es ist nicht so, dass ich die heutige Zeit als Paradies empfinde. Aber ich wurde in der Zeit von Nazi-Deutschland geboren, von Hitler, Stalin, Mussolini. Ich wurde in einer kleinen Enklave geboren, in der sich verängstigte Juden befanden. Wir waren damals nur eine halbe Million. Wir hatten Hoffnungen, ja, aber keine klare Perspektive. Also: Unsere raue, blutige und grausame Welt von heute ist immer noch weniger rau, blutig und grausam, als in den 1940er Jahren."
Junge Israelis gehen wegen hoher Preise ins Ausland
Yael Kerem sitzt im Speisesaal des Kibbuz Tsuba. Für ihr Mittagessen hat sie nur wenig bezahlt. Vieles hier wird vom Kibbutz übernommen. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich der Kapitalismus in Israel außerhalb der Kibbuzim rasant entwickelt. Viele haben von dem enormen Wachstum der Privatwirtschaft profitiert. Andere können sich die immer höheren Preise kaum leisten. Yaels Sohn ist nach Kanada ausgewandert. Weil das Leben dort günstiger ist. Für Yael, eine bekennende Zionistin, ist das eine Katastrophe. In den vergangenen Jahren haben viele junge Israelis ihre Heimat verlassen, auch in Richtung Berlin. Dafür gibt es nicht nur finanzielle Gründe.
"Es gibt auch politische Probleme, jedenfalls sieht die politische Linke Israels das so, die wir vertreten. Die Rechte ist stärker geworden. Und manchmal haben wir das Gefühl, dass der Staat in Sachen Demokratie oder Menschenrechte, nicht in die Richtung geht, die wir uns wünschen. Vielen jungen Leute, die eher links stehen, fällt es dann schwerer, sich mit dem Staat zu identifizieren."
Doch Yael Kerem ist und bleibt Patriotin. Der 70. Geburtstag des Staates ist für sie ein Feiertag.
So sieht das auch Ruth Keren, die 88-jährige Pionierin von Tsuba. 1948 standen hier nur Zelte. Heute hat es die Gemeinschaft von 630 Bewohnern und eigenen Betrieben zu Wohlstand gebracht.
"Es macht mich stolz, was wir hier erreicht haben. Aber nicht alles, was in diesem Staat passiert, macht mich glücklich. Wir haben immer noch keinen Frieden mit unseren Nachbarn. Ständig ist unsere Sicherheit bedroht. Wir hoffen, dass es Frieden geben wird. Dann wird es sowohl ihnen als auch uns besser gehen."
Doch es gibt keinen Frieden mit den Nachbarn. Das zeigt sich auch im zweiten Kibbuz unserer Reise.
Zweiter Kibbuz: Zikim - drei Kilometer vom Gazastreifen
Vier Uhr nachmittags in Zikim. Auf den ersten Blick sieht der Kindergarten ziemlich gewöhnlich aus. Aber dann bleibt der Blick am Dach hängen: Es ist mit schweren Betonplatten verstärkt. Und die Fenster bestehen aus Panzerglas. Wenn militante Palästinenser im Gazastreifen eine Rakete in Richtung Norden schießen, wird in Zikim fast immer Alarm ausgelöst. Ein langsames, furchteinflößendes Heulen. Wenn sich die Kinder im Freien befinden, muss Lilach Gez schnell handeln. Sie ist die Kindergärtnerin der Dreijährigen. Um den Hals trägt sie eine Trillerpfeife.
"Ich übe oft mit ihnen. Ich pfeife, und dann wissen die Kinder, dass sie ins Haus müssen. Damit trainiere ich ihre Schnelligkeit und Wendigkeit. Im Ernstfall wird es dann nicht so stressig für die Kinder. Wenn es einen Alarm gibt, haben wir nur 15 Sekunden, um in den Kindergarten zu rennen und uns in Sicherheit zu bringen."
Nicht weit vom Kindergarten entfernt führt eine Metalltreppe auf das Dach eines alten arabischen Landhauses. Heute befindet sich das Gebäude mitten im Kibbuz Zikim. Von oben hat man einen guten Rundumblick. Gabo Altmark ist vor 22 Jahren nach Israel eingewandert. Ursprünglich stammt er aus Uruguay.
"Da ist das Mittelmeer, dort das Elektrizitätswerk, von dem auch etwas Strom in den Gazastreifen kommt. Aschkelon ist hier im Norden, da geht’s dann auch weiter nach Ashdod und Tel Aviv. Und diese ganzen Häuser dort drüben bis zum Meer, das ist schon der Gazastreifen. Man kann auch den Grenzzaun von hier aus sehen."
Gabo Altmark sagt: Das hier sei einer der schönsten Orte in ganz Israel. Und ja, sagt er, das bleibe so, auch wenn der Ort manchmal bedroht sei. Vor vier Jahren kam es zur letzten kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der israelischen Armee und der Hamas. Jener islamistischen Organisation, die den Gazastreifen noch immer kontrolliert. Damals gab es Tage, an denen mehr als 50 Mal Alarm ausgelöst wurde und fünf Raketen im Kibbuz einschlugen.
"Der Körper handelt ganz automatisch. Wir sind schon so sehr daran gewöhnt, dass wir nur den Beginn der Sirene hören müssen, und der Körper beginnt von allein zu handeln, entweder rennen wir in einem Schutzraum oder schmeißen uns auf den Boden."
Palästinenser fordern Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren
Verletzt oder gar getötet wurde bisher niemand in Zikim. Doch manche leiden unter posttraumatischen Störungen, einige Kinder machen nachts ins Bett, bis sie erwachsen sind. Den letzten Alarm in Zikim gab es vor wenigen Wochen. Ein Fehlalarm. Aber der Stress war wieder da. Israel kommt seit der Staatsgründung nicht zur Ruhe. Und während die Sicherheitslage in den meisten Orten des Landes aktuell eher gut ist, werden die Menschen in Zikim immer wieder daran erinnert: Der Konflikt mit den Palästinensern ist ungelöst.
Gabo Altmark blickt in Richtung Gazastreifen. Während des letzten Krieges mit Israel vor vier Jahren wurden nach Angaben der Vereinten Nationen fast 1.500 palästinensische Zivilisten getötet. Israel und Ägypten halten den Küstenstreifen seit Jahren weitgehend abgeriegelt. Sie begründen das mit Sicherheitsbedenken. Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist extrem schlecht. Das liegt auch an einem Machtkampf, den sich die rivalisierenden palästinensischen Parteien Hamas und Fatah liefern. Gabo Altmark sagt: Das alles fühle sich nicht gut an. Niemand könne sich freuen, wenn ein anderer leide.
In den vergangenen Wochen haben die Spannungen an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel deutlich zugenommen. Die Palästinenser fordern eine Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren, in das Gebiet, das heute Israel ist. Israel lehnt das ab.
Bei Protesten an der Grenze wurden Dutzende Palästinenser erschossen. Israel sagt, man habe sich gegen Angreifer verteidigt. Die Palästinenser entgegnen, dass sie nur friedlich demonstrieren. Kommt es in diesem Jahr erneut zum Krieg? Gabo Altmark macht sich große Sorgen.
"Ich habe das Gefühl, dass wir eine Gelegenheit verpassen. Was uns trennt, ist eigentlich nur ein Zaun, und ich glaube, dass auch auf der anderen Seite jemand wie ich lebt, der sich eigentlich nur Frieden wünscht, einen Ort, an dem er Kinder aufziehen kann, wie Zikim auf dieser Seite. Je mehr Zeit vergeht, desto weiter entfernt liegt diese Lösung. Jeden Tag entfernen wir uns von einer Lösung mit dem palästinensischen Volk mehr."
In Zikim ist es unmöglich, den Konflikt mit den Palästinensern zu vergessen oder zu verdrängen. Doch es gibt Orte in Israel, da treten die ungelösten Konflikte des Landes meistens in den Hintergrund. Unser nächster Halt ist so ein Ort.
Dritter Kibbuz: Ein Gev - im Norden am See Genezareth
Er ist der letzte richtige Fischer auf dem See Genezareth. Menachem Lev, 59 Jahre alt. Außer ihm fährt keiner mehr raus auf den See. Menachem sagt, es lohne sich immer weniger. Die staatliche Regulierung, die billige Konkurrenz durch Fischzüchter.
Die "Gil" ist ein mittelgroßer Fischkutter. Es ist neun Uhr morgens, die Sonne steht schon ziemlich hoch über dem See. Im Hintergrund verschwinden langsam die weißen Häuser und das Hotel des Kibbuz Ein Gev. Menachem Lev fischt hier schon seit 40 Jahren. Und er weiß, dass er berühmte Vorgänger hat.
"Ich habe die Ehre, auf den See aufzupassen. Den Fisch, den ich fange, hat schon Jesus Christus gegessen. Für mich ist es mein Arbeitsplatz auch ein Lebenswerk. Ich weiß, dass der See Genezareth für Israel die Trinkwasserflasche ist. Und für die Christen ein heiliger Ort, wie die Klagemauer für die Juden oder Mekka für die Muslime. Ich behüte diesen Ort: es ist ein Ort des Friedens."
Doch friedlich war es hier nicht immer. Menachem zeigt auf einen Hügel am Ufer.
"Hier war die Grenze, direkt bei Ein Gev. Dort drüben war ein syrisches Dorf. Der Kibbuz wurde noch vor Staatsgründung gegründet und bis zur Staatsgründung haben die Bewohner von Ein Gev und des syrischen Dorfes friedlich zusammen gelebt. Nach der Staatsgründung 1948 hat sich das geändert. Von dort aus haben sie Steine auf das Boot geschmissen und es auch beschossen."
Die vielen Kriege, in die Israel seit seiner Staatsgründung verwickelt war: Sie wurden auch hier, am See Genezareth ausgetragen. 1967 gewann Israel den Sechstagekrieg. Und besetzte die syrischen Golanhöhen. Seitdem kontrolliert Israel auch das Gebiet nordöstlich von Ein Gev.
Langsam ziehen Menachem und seine Besatzung das Netz zusammen. Die ersten Fische kommen zum Vorschein.
Kein schlechter Fang. Auf dem Weg zurück nach Ein Gev fragen wir Menachem, ob wir den Fisch in einem der Restaurants des Kibbuz essen können. Da gibt sich der Fischer plötzlich zugeknöpft. Nein, da gebe es seinen Fisch gar nicht. Er verkaufe nur noch an Gourmetrestaurants in der nächsten großen Stadt. Der Kibbuzfischer macht einen Bogen um seinen eigenen Kibbuz. Und er darf das, weil Ein Gev längst kein klassischer Kibbuz mehr ist. Die Gemeinschaft gibt es noch. Aber Ein Gev wurde schon vor Jahren privatisiert.
Keine Gleichheit mehr in drei von vier Kibbuzim
Birgit Ben-Shitrit findet das gut. Sie wurde als Birgit Struck in Hildesheim geboren. Vor fast 40 Jahren kam sie das erste Mal nach Ein Gev. Als Freiwillige. Sie lernte ihren späteren Mann kennen, einen Israeli - und blieb. Den klassischen kommunalen Kibbuz vermisst sie nicht.
"Die Leute waren unzufrieden. Die Struktur musste verändert werden. Es war ja zum Beispiel so, dass derjenige, der jetzt hier verantwortlich war für den Kibbuz, das gleiche Gehalt hatte, wie derjenige, der im Restaurant die Teller abgeputzt hat. Das kann man sich gar nicht vorstellen."
Alle sind gleich. Kein Privateigentum. Gleiches Gehalt für alle. Mit diesem Konzept wurden die israelischen Kibbuzim weltberühmt. Doch heute haben sich drei von vier Kibbuzim von dem Modell verabschiedet. Amos Oz zog es vor mehr als 60 Jahren in den Kibbuz Hulda weil er die Gleichheit suchte. Die Einheit.
"Was mit dem Traum passiert ist? Was mit jedem Traum geschieht. Wenn er einmal erfüllt ist, wird er fehlerhaft, enttäuschend. Diese Enttäuschung kann man nicht dem Kibbuz vorwerfen, oder Israel. Es liegt in der Natur der Träume, die nun einmal scheitern. Der Kibbuz ist gescheitert, weil die Menschen nun einmal nicht gemacht sind, um wie Brüder und Schwestern zu leben."
Vor sieben Jahren – 2011 - gingen zehntausende Israelis in Tel Aviv auf die Straße. Sie beklagten einen fehlenden Zusammenhalt in der Gesellschaft. Sie protestierten monatelang gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Ein Grundnahrungsmittel der Israelis wurde zum Symbol der Proteste: Hüttenkäse. Der junge Israeli Lion David konnte sich den Käse zwar leisten. Aber er fand, dass er unverschämt teuer war. Also ging auch er auf die Straße.
"Ich war mit meiner Frau bei den Hüttenkäse-Protesten dabei. Eines Abends sagte ich: Ich kann es nicht fassen, dass wir all das tun, damit der Hüttenkäse einen Schekel billiger wird. Es muss ein richtiger Wandel her. Es muss sich etwas grundsätzlich ändern. Und da merkten wir: Unsere Alternative ist der sozialistische Kibbuz."
Und so zogen Lion David und seine Familie nach Revivim.
Vierter Kibbuz: Revivim - mitten in der Wüste Negev
Der Frühling in der Wüste Negev fühlt sich an diesem Tag eher nach Hochsommer an. Es ist heiß, in einem riesigen Stall werden gerade die Kälber versorgt. Die Mitglieder der Gemeinschaft folgen seit Jahrzehnten dem Aufruf des Staatsgründers Ben-Gurion: Der hatte die Israelis aufgerufen, die Wüste zu besiedeln und sie urbar zu machen. In den kommenden Jahrzehnten bleibt vielen Israelis auch nichts anderes übrig: Die Bevölkerung wächst so rasant, dass im Zentrum des Landes der Platz knapp wird. Pläne für große Städte, mitten in der Wüste, hat die Regierung in Jerusalem längst entworfen.
Revivim ist ein reicher Kibbuz mit mehreren Fabriken, einst gegründet von jüdischen Flüchtlingen aus Europa. Und trotzdem ist er einer der letzten verbleibenden Kibbuzim, die kollektiv organisiert sind. Was hier erwirtschaftet wird, wird geteilt. Das ist es, was Lion David in die Wüste zog.
Lion David hat in Revivim etwas geschaffen, was man normalerweise in Tel Aviv erwarten würde: Ein Zentrum für angehende Gründer. Startups vom Land und aus der Wüste. Magdera – Brutstätte hat er sein Projekt genannt. Die Hühner von Revivim leben gleich nebenan. An einem Computer sitzt ein junger Mann und tippt Programmiercodes ein. Auf einem Tresen steht Gemüse – frisch vom Feld in Revivim. Lion David war schon früher ein erfolgreicher Manager. Er lebte in Tel Aviv und New York. Aber dann hatte er genug.
"Wir kamen her, weil wir etwas ändern wollten. Der Kibbuz war für uns das genaue Gegenteil von Tel Aviv. Die Wirtschaft ist sozialistisch. Man hat nicht wirklich was mit Geld zu tun. Es ist doch so: Wenn Du ein Start-up wegen des Geldes gründest, wirst Du keinen Erfolg haben. Und was wirklich zählt im Leben, sind die die Familie und die Gemeinde."
Lion David hat sich dem Kibbuz verschrieben. Falls Madgera ein großer finanzieller Erfolg wird, hat er persönlich kaum etwas davon. Der Gewinn geht an den Kibbuz. Aber, sagt Lion, er wisse, dass sich in der Gemeinschaft immer jemand um seine Kinder kümmert. Dass sie abgesichert sind. Sollen nun alle Israelis in einen Kibbuz wie Revivim ziehen? Nein, sagt. Das sei nicht realistisch. Er hofft aber, dass ganz Israel einige der Ideale übernimmt. Und er will zeigen, dass der klassische Kibbuz in Israel eine Zukunft hat.
Der Wunsch nach Frieden
Wir haben unsere Gesprächspartner gefragt, was sie sich für die Zukunft ihres Landes wünschen. Alle haben den gleichen Wunsch geäußert. Von Amos Oz ist es die kürzeste Antwort im ganzen Gespräch.
"This will be the shortest answer in the whole interview: Peace."
Sie alle sehnen sich nach einem Zustand, den Israel in den 70 Jahren seiner Existenz nie erreicht hat. Viele haben die Hoffnung beinahe aufgegeben.
Gabo Altmark zum Beispiel, der im Kibbuz Zikim an der Grenze zum Gazastreifen lebt.
"Unsere Väter zogen in den Krieg. Sie hofften, dass ihre Söhne später nicht mehr kämpfen müssen. Daraus wurde aber nichts. Heute sind aus den Vätern bereits Großväter geworden. Jetzt hoffen sie, dass ihre Enkelkinder nicht mehr in den Krieg ziehen müssen. All das begleitet unseren jungen Staat. Und es ist nichts, worauf wir stolz sein können, denn ein Krieg ist nichts Gutes. Aber es gehört in Israel zu unserem Leben."
In den kommenden Wochen könnten die Spannungen an der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen noch zunehmen. Und damit auch in Zikim. Den Kibbuz zu verlassen, das ist für Gabo Altmark dennoch undenkbar.
"Wir haben hier unser Leben aufgebaut. Wir gehen hier nicht weg. Das ist unser Ort. Wir werden hier weiterhin leben und auf diesen wunderbaren Ort aufpassen. In der Hoffnung, dass es irgendwann Frieden geben wird. Es ist schwierig. Aber wir bleiben. So ist es seit der Staatsgründung."