70 Jahre Kinsey-Report

Sex-Schock im prüden Amerika

Der amerikanische Biologe und Sexualforscher Alfred Kinsey im August 1953.
Der amerikanische Biologe und Sexualforscher Alfred Kinsey im August 1953. © picture-alliance/ dpa
Von Marc Hoffmann |
Das Buch schlägt ein wie eine Bombe: Vor 70 Jahren wird der erste Kinsey-Report in den USA veröffentlicht. Das Buch will unvoreingenommen über die Sexualität des Menschen informieren. Konservative und Traditionalisten sind empört.
Vor dem Kinsey-Schock herrschte das große Schweigen im prüden Amerika. Alice Binkley erinnert sich, wie sie ihre Fragen zur Sexualität bei einem Arzt loswerden wollte. Doch der Doktor schickte sie weg und wollte lieber mit ihrem Verlobten sprechen.
Die junge Studentin Binkley schreibt sich stattdessen 1938 in einen Ehevorbereitungskurs ein, an der Universität von Indiana. Vorne am Pult steht Biologieprofessor Alfred Kinsey.
Sex als das Normalste der Welt. Doch was wirklich in den Betten und Köpfen der Amerikaner vorgeht, ist ein Rätsel.

Ein Meilenstein

Man wisse ja mehr über das Sexleben von Tieren als von uns Menschen, klagt Sexualforscher Kinsey später, 1956, in einem seltenen Fernsehinterview. Das Interesse des unbekannten Wespenforschers ist geweckt. Akribisch führt Kinsey unzählige Interviews. Anonym und, wie er stets betonte, vorurteilsfrei.
Schon sein erstes Buch schlägt ein wie eine Bombe. Heute vor 70 Jahren erscheint der erste Kinsey-Report zum Sexualverhalten des Mannes. Ein Meilenstein, sagt Dr. Justin Lehmiller heute. Er ist Sexualforscher an der Ball State University in Indiana.
"Es gab keine anderen Quellen, wo man sich über Sexualität informieren konnte, außer bei religiösen Einrichtungen, bei den moralischen Autoritäten. Das Internet gab es ja noch nicht. Und das medizinisch-wissenschaftliche Verständnis war auch sehr beschränkt. Durch Kinseys Veröffentlichung erfuhren viele das erste Mal unvoreingenommen über Sexualität."
Kinseys Bericht schockiert Amerika: Die Hälfte der befragten Männer sei zu einem gewissen Grad bisexuell, ist zu lesen. 90 Prozent masturbierten. Ein Drittel gehe fremd. Fünf Jahre später legt Kinsey mit einem Buch über das weibliche Sexleben nach und avanciert zum Aufklärer der Nation.

Kritik von Konservativen und Traditionalisten

Von anderen wurde Kinsey heftig attackiert. Konservative, Traditionalisten wie die Autorin Judith Reisman, die Kinsey und seinen Nachfolgern am renommierten Kinsey-Institut vorwirft, die klassische Familie zerstört zu haben und Millionen Kindern zu schaden. Die übersexualisierte Gesellschaft fördere den Missbrauch, lautet ihre These.
So bringen Kritiker auch immer wieder Kinseys Arbeit mit Pädophilie in Verbindung. Der Historiker James Jones hat ein Buch über Kinseys Leben verfasst und erklärt im Interview mit NPR:
"Es ist wahr, dass unter den Befragten auch Pädophile waren. Kinsey nutzte auch ihre Daten, um das sexuelle Verhalten der Amerikaner zu erklären."
Dem privaten Alfred Kinsey attestiert Biograf Jones ein kompliziertes Verhältnis zur eigenen Sexualität – möglicherweise der Antrieb für die wissenschaftliche Neugier.
Auch wenn sie heute sicher etwas anders forschen würden, sagt Sexualpsychologe Lehmiller, Kinsey habe den Weg bereitet und trotzdem gebe es in der amerikanischen Öffentlichkeit weiterhin Vorbehalte gegenüber der Sexualforschung, so Lehmiller. Es sei immer noch ein weiter Weg.
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