Mahnende Worte an die Politik
Kein Grund für Schuldgefühle bei den Nachgeborenen, aber auch kein Schlussstrich: Bei seiner Rede zum 8. Mai im Bundestag wiederholte der Historiker Heinrich August Winkler Allgemeinplätze. Doch es gab auch deutliche Forderungen an die Politik.
60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Europahymne im Deutschen Bundestag. Die Blechbläser stehen mit ihren im aus der Kuppel einfallenden Licht gold-glänzenden Instrumenten vor den Spitzen der Staatsorgane und den gutbesetzen Reihen des Plenums. In ihrem Rücken auf der Bank des Bundesrats die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer. Auf den Tribünen Botschafter, junge Besucher, alte Männer. Einige von ihnen tragen die Veteranenorden der Siegermächte von 1945.
"Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung",
zitiert Bundestagspräsident Norbert Lammert die berühmte Rede, die Richard von Weizsäcker vor 30 Jahren vor dem Bundestag in Bonn gehalten hatte. Der Satz sorgte damals für geschichtspolitische Kontroversen. In diesen Tagen gehört er – in leichten Variationen – zum festen Repertoire der Reden auf Soldatenfriedhöfen, in KZ- und Kriegsgefangenengedenkstätten.
Schrittweise Hinwendung zu Werten Freiheit und Demokratie
Das Gedenken ist die Zeit der Selbstvergewisserung. Der Historiker Heinrich August Winkler ist als Redner in den Bundestag geladen. Er schildert die Geschichte der Bundesrepublik vom Einschnitt im Mai 1945 bis in die Gegenwart als eine Erfolgsgeschichte und schrittweise Hinwendung zu den westlichen Werten der Freiheit und Demokratie:
"Es gibt vieles Gelungene in dieser Geschichte – nicht zuletzt in der Zeit nach 1945 – über das sich die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland freuen und worauf sie stolz sein können."
Jede Generation, so Winkler, müsse sich die deutsche Geschichte neu erarbeiten. Auch mit ihren dunklen Seiten. Niemand der Nachgeboren müsse sich für die Taten schuldig fühlen, die von früheren Generationen verübt wurden, aber:
"Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen."
Nie wieder über die Köpfe Polens und der baltischen Republiken hinweg
Selbstvergewisserung besteht auch in der Wiederholung von Allgemeinplätzen. Doch Heinrich August Winkler wendet die Lehren der Geschichte ganz in die Gegenwart. Mit Blick auf die Ukraine und die imperialen Ambitionen Russlands fügt er dem Satz "Nie wieder", der Jahrzehnte lang pazifistische Parole war, eine neue Bedeutung hinzu:
"Nie wieder dürfen Polen und die baltischen Republiken den Eindruck gewinnen, als werde zwischen Berlin und Moskau irgendetwas über ihre Köpfe hinweg und auf ihre Kosten entschieden."
Mit dem 1938 in Königsberg geborenen Heinrich August Winkler hat sich der Bundestag heute einen Geschichtswissenschaftler eingeladen, der – vielleicht als einer der letzten seiner Zunft – die Rolle des großen Meistererzählers und Mahners der Politik ausfüllt. Ein Repräsentant der alten, westlich geprägten Bundesrepublik wendet den Blick am Ende seiner Rede in die östlich geprägte Gegenwart. Das Parlament applaudierte stehend.