Klangkörper mit internationalem Renommee
Es ist eines der weltweit führenden Konzertorchester: Vor 70 Jahren wurde das NDR Sinfonieorchester gegründet. Am Wochenende feierten die Musiker das Jubiläum in Hamburg. Die bislang neun Chefdirigenten prägten das Orchester in unterschiedlicher Weise.
Düstere Klänge in einer schwierigen Zeit. Am 1. November des Jahres 1945 spielt ein neu gegründetes Rundfunksinfonieorchester sein erstes Konzert in der Hamburger Laeiszhalle, mit Beethovens Egmont-Ouvertüre, dem Brahms-Doppelkonzert und der fünften Tschaikowsky-Sinfonie. Am Pult steht der 45-jährige Dirigent, Geiger und promovierte Musikwissenschaftler Hans-Schmidt-Isserstedt.
Schmidt-Isserstedt, zuvor unter anderem Direktor der Deutschen Oper in Berlin, hatte die Gefangenenlager in Norddeutschland auf der Suche nach Musikern für das neue Orchester durchstreift. Binnen kurzer Zeit schweißt er sie zu einem homogenen Ensemble zusammen. Mit klaren, prägnanten Gesten und feinem Gehör formt der Kapellmeister einen charakteristischen Klang.
Schmidt-Isserstedt: "Vielleicht gibt es in den patinierteren Orchestern noch ein idealeres, klassisches Ebenmaß. Aber diese Fülle und diese sinnliche Wärme sind, glaube ich, einzigartig bei diesem Orchester."
Der neue Klangkörper, der zunächst Sinfonieorchester von Radio Hamburg und dann bis 1956 NWDR-Sinfonieorchester heißt, erspielt sich schon bald ein internationales Renommee – mit Auslandsreisen nach England und Paris, aber auch in die Sowjetunion.
Hans Schmidt-Isserstedt prägt das Orchester ein Vierteljahrhundert lang. Anfang der 70-Jahre erfolgt dann ein Umbruch. Jüngere Musiker rücken nach – darunter übrigens auch die ersten Frauen außer der Harfenistin. Eine Ära geht zu Ende.
Vertragsauflösung nach gravierenden Meinungsverschiedenheiten
In die großen Fußstapfen von Schmidt-Isserstedt tritt der erst 40-jährige Moshe Atzmon als neuer Chefdirigent. Der in Budapest geborene Israeli setzt vor allem Akzente mit der Musik von Gustav Mahler – eine mutige Entscheidung, denn Mahlers Sinfonien gehörten damals, zu Beginn der 70er-Jahre, noch lange nicht zum Standardrepertoire.
Atzmon: "Ich habe eine besondere Affinität mit Mahler. Ich finde, das ist eine ganz außergewöhnliche Musik. Schmerz, Liebe, Glück, alles – spricht durch Musik von allen menschlichen Empfindungen. Und er macht das in einer Sprache, von der ich glaube, sie spricht sehr direkt zu unserer Zeit."
Nach gravierenden Meinungsverschiedenheiten mit dem Orchester löst Moshe Atzmon seinen Vertrag im Jahr 1976 vorzeitig. Auch sein Nachfolger, Klaus Tennstedt, bleibt nur drei Jahre, von 1979 bis 1981. Er vertieft den Mahler-Schwerpunkt und widmet sich außerdem verstärkt den Sinfonien von Anton Bruckner. Damit ist der Weg für die nächste große Ära bereitet.
Günter Wand ist von 1982 bis 1991 Chefdirigent und bleibt dem NDR-Sinfonieorchester bis zu seinem Tod im Jahr 2002 als Ehrendirigent eng verbunden. Er leitet denkwürdige Aufführungen der Sinfonien von Beethoven, Schubert, Brahms und immer wieder Bruckner. Wand ist ein Kapellmeister alter Schule, der eine tiefe Verantwortung gegenüber den Partituren empfindet. Vor Bruckners Meisterwerken hegt er eine solche Ehrfurcht, dass er sich erst nach dem 60. Lebensjahr zutraut, sie aufzuführen:
"Ich habe lange Zeit gebraucht, um die großartigen Bögen der Architektur in Bruckners Werken nicht nur zu erkennen – schon dafür habe ich lange gebraucht –, sondern auch um die Ruhe zu haben sie als Interpret zu vermitteln."
Durchlässiger Klang
Auf die Ära Wand folgen zwei kürzere Episoden unter John Eliot Gardiner und Herbert Blomstedt. 1998 beginnt dann ein neues Kapitel mit Christoph Eschenbach. Er widmet sich vor allem den Werken des 19. und 20. Jahrhunderts und führt das NDR-Sinfonieorchester auch ins neue Jahrtausend: Mit einem Konzert am 2. Januar 2000 unter dem Motto "Sieben Horizonte", in dem Eschenbach sieben Uraufführungen von Komponisten wie Wolfgang Rihm oder Matthias Pintscher dirigiert.
"Ich wollte neueste Musik haben an diesem Tag. Ich glaube, die Signalwirkung ist sehr wichtig. Dass wir sehen, dass neue Musik wichtig ist und gelebt werden kann."
Im Jahr 2004 übernimmt Christoph von Dohnanyi den Chefposten beim NDR Sinfonieorchester. Der renommierte Maestro – zuvor 18 Jahre lang beim Cleveland Orchestra – demonstriert eine große Bandbreite. Seine Programme reichen vom frühen Haydn über Mozart, Mendelssohn und Mahler bis zu Ligeti. Dohnanyis gewichtiges Schlusswort ist eine Aufführung sämtlicher Beethoven-Sinfonien binnen einer Woche im Mai 2010.
Nach einem Jahr ohne Chefdirigenten beginnt mit der Spielzeit 2011/2012 ein neues Kapitel. Seit dieser Zeit prägt Thomas Hengelbrock das künstlerische Profil des NDR Sinfonieorchesters – mit einem durchlässigen Klang, der sich flexibel dem jeweiligen Repertoire anpasst. Dieses Repertoire ist ungewöhnlich breit gefächert: Bachs Johannespassion trifft bei Hengelbrock auf die Ekklesiastische Aktion von Bernd Alois Zimmermann, Jörg Widmanns Trauermarsch auf Bruckners siebte Sinfonie, Solokonzerte auf Opernarien. Mit solchen stilistisch vielfältigen und dramaturgisch eng verzahnten Programmen folgt Thomas Hengelbrock seiner Vorstellung von der Aufgabe eines Rundfunksinfonieorchesters:
"Es geht nicht an, dass wir ganz große Bereiche so genannten Spezialensembles – für die zeitgenössische oder für die barocke oder mittlerweile auch die klassische Musik – überlassen. Dazu haben wir auch mittlerweile viel zu viele gut ausgebildete und neugierige Musiker in den Orchestern. Die bringen auch die Voraussetzung mit, dass wir mit ihnen auf die Suche nach neuen Stilen gehen können."