Vom Nestbeschmutzer zur journalistischen Institution
Am 4. Januar 1947 erschien die erste Ausgabe des Wochenmagazins "Der Spiegel", herausgegeben von Rudolf Augstein. In der Folge entwickelte sich das Blatt zum journalistisch-kritischen Begleiter der Bonner Republik. Heute kämpft es gegen sinkende Auflagen.
Sommer, Sonne, Fernweh und Wohlstand im Wohnzimmer beschäftigte die frisch entnazifizierten Bewohner der drei deutschen Westsektoren 1947, mehr wollten sie nicht wissen. Deshalb hatte die britische Militärregierung ein Nachrichtenmagazin nach englischem und amerikanischem Vorbild konzipiert, um den Deutschen endlich wieder "objektive Nachrichten" zu vermitteln.
Die Verlegerlizenz vergaben sie in Hannover an einen Rudolf Augstein, der das Blatt DER SPIEGEL nannte.
Dieser Augstein war 23, ein Heißsporn, der weniger politisch als rebellisch war - kein Linker, wie oft angenommen wurde, sondern ein ausgemachter Nationalist, aber einer, dem es auf die Wahrheit ankam und der sich gerne mit den Herrschenden anlegte.
Alte Nazi-Kader in der Redaktion
Die verblüffende Informiertheit verdankte der Verleger zunächst auch alten Nazi-Kadern: Ein Berliner Ex-Gestapo-Chef durfte 1949 eine lange Serie schreiben, und ehemalige SS-Hauptsturmführer waren langjährige Ressortleiter.
Ob DER SPIEGEL gedanklich links oder rechts war, wurde über die Zeiten und je nach Ideologie stets unterschiedlich bewertet. Aber wie Hans-Magnus Enzensberger bereits 1957 in einer SPIEGEL-Schelte doch lobend anmerkte:
"Er ist das einzige Blatt, das auf Interessenverbände, Ministerialbürokratien und Funktionäre keinerlei Rücksicht nimmt; das einzige, das zu keiner Form jener freiwilligen Selbstzensur bereit ist, die in der westdeutschen Publizistik gang und gäbe ist; das einzige, das den Mächten nicht deshalb schon seine Reverenz erweist, weil sie an der Macht sind."
Und das brockte ihm 1962 schließlich die so genannte SPIEGEL-Affäre ein: Unter dem Titel Bedingt abwehrbereit hatte er über die militärische Situation in Deutschland und der NATO berichtet.
Wegen angeblichen Verdachts des Landesverrats besetzte die Polizei in einer Oktobernacht die Redaktions- und Verlagsräume; der Herausgeber, der Verlagsdirektor und mehrere Redakteure wurden festgenommen und bis zu 103 Tage in Untersuchungshaft gehalten.
Konrad Adenauer:" Nun, meine Damen und Herren, wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande!"
Am Ende musste der Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß vorübergehend gehen, und DER SPIEGEL war plötzlich eine nationale Institution und die Presse als vierte Macht im Staate BRD etabliert.
"Liberal, im Zweifel links"
Demo 1967: "Alle, die den Springer lesen, töten auch die Vietnamesen..."
Mit den 68ern konnte Augstein nicht so viel anfangen: Er definiert die Linie des Magazins jetzt als "liberal, im Zweifel links". Damit dieser Standpunkt, im Zweifel, auch als kollektive Haltung rüberkam, standen jahrzehntelang keine Autorennamen unter den Texten.
Allerdings rebellierten die Mitarbeiter nach den Rebellionen auf der Straße auch immer mehr gegen den autoritären Führungsstil des Alten, weshalb der 1974 den genialen Schachzug hinlegte, die Mitarbeiter mit 50 Prozent am SPIEGEL zu beteiligen - was sie ganz schnell verstummen ließ.
Uwe Barschel: "Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort…"
Routinemäßig mussten immer wieder mal Politiker nach SPIEGEL-Enthüllungen zurücktreten; zu politischen Markste.linen wurden die Flick- oder die Barschel-Affäre. Und etliche Magazine versuchten all die Jahrzehnte, es dem Spiegel nachzumachen, aber der Platzhirsch röhrte alle weg - bis dann 1993 der FOCUS kam, der auf Meinung und Haltung im Blatt pfiff.
Focus-Chef Markworth: "Fakten, Fakten, Fakten…"
Journalismus mit Pep
Als Antwort setzte Augstein dann den Fernsehmann Stefan Aust, den Macher des neuen Spiegel TV, als Chefredakteur durch. Dieser Ex-Linke brachte das Blatt, mit rittmeisterlicher Attitüde, von der steifen Art des analysierenden Amtsblattes weg hin zu mehr Pep, den man vom Pop gelernt hatte: Journalismus als ernsthaftere Branche des Showbiz.
Inzwischen ist DER SPIEGEL alt und wunderlich geworden und die Haltung verwechselbar.
Auch nach dem Rausschmiss von Aust und verschiedenen Versuchen, das Blatt und das Online-Portal wieder originell und gut zu machen, sinkt die Auflage immer weiter. Das wird wohl an den digitalen Verwerfungen der Branche liegen, aber auch daran, dass aus dem Sand im politischen Getriebe Mitspieler im Mainstream geworden sind - kaum mehr investigativ unterwegs und garantiert meinungsfrei.