727 Minuten Hörzeit müssen nicht lang sein
"Mittelreich" ist der Debüt-Roman des Schauspielers Josef Bierbichler. Er beschreibt in diesem Epos eine bäuerliche Gastwirtfamilie im 20. Jahrhundert. Und für das zugehörige Hörbuch liest die schauspielerische Urgewalt selbst. Ein Mehrwert.
"Nun lass den doch auch mal ran. Sagt der alte Mann und schlägt mit seiner Linken nach dem flatterhafte Vogel."
So sanft, wie es beginnt! Doch man wird sich noch umhören müssen.
"Ist nicht alles für dich; hier kriegt jeder was ab, nicht nur die von die Großen. Auf der Rücken seiner rechten Hand wippt fett ein Spatz und sticht mit seinem Schnabel nach dem Krümel Brot in seiner Linken."
Aber, wer den Bierbichler in den letzten Jahren - schauspielerische rohe wie zarte Urgewalt - erlebt hat, wird sich kaum vorstellen können, dass das ländlich-bäuerliche Idyll Bestand haben wird. Das wird uns um die Ohren fliegen. Massiv und brachial. "Mittelreich" vermisst in allen Tönen die Geschichte einer Wirtsfamilie am Starnberger See durch das 20. Jahrhundert hindurch. Eine Geschichte über das Land…
"In der Dorfkapelle beginnen die Glocken das Mittagsgeläut."
…eine Geschichte über drei Generationen…
"Diesmal ist es ein Madel!"
…beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, als der älteste Sohn des Seewirts einen Kopfschuss erhält und sein jüngerer Bruder das väterliche Erbe übernehmen muss. Muss, denn ursprünglich fühlte dieser Bauer den tiefen Wunsch, Künstler zu werden.
Irgendwann, als ein Jahrhundertsturm das Anwesen am See fast vernichtet, da erfolgt der folgenlose Ausbruch. Da gibt der Schriftsteller und Schauspieler und hier nun auch der Vorleser Josef Bierbichler eine Vorstellung davon, was ein Ausbruch sein kann.
"Wieder spürt er diesen Sturm. Als sein vertrautes Element. Als könnte er mit ihm zusammen wachsen."
Bierbichler legt los:
"Ich bin für diesen Auftrag nicht geeignet. Verfluchtes Erbe, schreit er. Verfluchter Zwang. Ich will der Knecht nicht sein von diesem alten Krempel, den ihr verfluchten Ahnen hier gebündelt habt. Mehr als Hunderte von Jahren lang. Ich hasse dieses Haus und diesen ganzen Heimatkram. Ich will heraus. Heraus aus allem, was ich muss. Ich will nur das noch machen, was ich kann."
Wenn sich die Kritiker beim Roman-Debüt von Josef Bierbichler vor der Sprachgewalt des Textes tief verbeugten, dürfen wir Hörer dem folgen angesichts der Sprechgewalt, der mit anderen Worten grandiosen Vorlesekraft wie Feinheit. Es gibt Passagen in dieser Lesung, die fast unheimlich intensiv wirken, die den Text großartig präsentieren.
Die Szene nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise: 50er-Jahre, Wirtschaftswunderland, die Schrecken von Krieg und Nazi-Terror werden unterm Teppich gehalten, aber manchmal kommt was hoch. Einem Neffen des Nachbarbauern passiert das, als er einen der gerade aufkommenden neuen Trecker in einem möchtegern-harmlosen Vergleich loben will. Also quatscht er von der Fahrtechnik des Treckers im Vergleich zur SS und den Juden im KZ:
"Wenn die nicht mehr richtig gezogen haben, dann hat die SS Gas gegeben oder ..."
Doch Herr Tutcek, Landarbeiter und seit Jahren beim Seewirt, beginnt, diesen Teppich, unter dem alles liegt, hochzuklappen:
"Warum du hast das gesagt? - Was? - Warum du hast das gesagt? - Was gesagt? - Das mit die KZ und die SS. - Warum? Warum soll ich das nicht gesagt haben? Hä? Was ist denn daran so besonders? - Hast du schon mal gesehen eine KZ? Sag, hast du schon mal gesehen? Und drinnen die SS in dem KZ? Hast du? Ja? Kennst du das? Oder redest du nur dumm und Quatsch? Sag!"
Es wirkt fast bedrohlich, wie Josef Bierbichler hier die Spannung anzieht und in ihr die Gewalt hochsteigen lässt. Die Pausen, der bayerische Dialekt, der Rhythmus, der Wechsel vom Leisen zum Lauten bei dieser Geschichte des Herrn Tutcek, des Juden, der das KZ überlebte, der seine eigene Frau aber, um andere zu retten, erdrosselte.
"Warum du redest darüber. - Warum? - Ja. Warum ist es dir eingefallen. Warum? - Warum? - Ja! - Vielleicht, weil man es kennt."
Josef Bierbichlers Lesung ist voll von solchen Momenten, die uns die Luft anhalten lassen. Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht: 727 Minuten Hörzeit müssen nicht lang sein. Und so geht die Geschichte über die Seewirt-Familie zu Ende, die uns viel Blut, Geburt und Tod, absurde Komik, Schrecken, Dumpfheit und Verstricktheit präsentiert. Das fiktive Ich des Romans gibt am Ende ein kurzes schriftstellerische Credo:
"Das meiste von Viktors Gerede habe ich nachempfunden. Nachher erfunden. Heißt das. Aber das langt ja auch."
Eben, am Anfang, vor ein paar Minuten, ging´s um den ersten Satz, dieses trügerische Idyll. Wen wundert´s, dass der letzte Satz von "Mittelreich" nach diesem Horrortrip durch die Geschichte einer Familie vom Versöhnlichen so weit entfernt ist. Doch in dem Ton, den Josef Bierbichler hier anschlägt…
"Die Erde ist keine Heimat."
…liegt da nicht sogar ein wenig tröstliche Gelassenheit, dass es so ist, weil wir es so eingerichtet haben?
"Die Erde ist keine Heimat. Im Taubenschlag lässt sich´s gut warten."
Besprochen von Hartwig Tegeler
Josef Bierbichler: Mittelreich
Ungekürzte Autorenlesung auf 10 CDs
Der Audio Verlag, Berlin 2011
727 Minuten, 39,99 Euro
Links bei dradio.de
Bierbichler inszeniert das Holzhacken als Vergangenheitsbewältigung
Krisen in altbekannter Ästhetik
So sanft, wie es beginnt! Doch man wird sich noch umhören müssen.
"Ist nicht alles für dich; hier kriegt jeder was ab, nicht nur die von die Großen. Auf der Rücken seiner rechten Hand wippt fett ein Spatz und sticht mit seinem Schnabel nach dem Krümel Brot in seiner Linken."
Aber, wer den Bierbichler in den letzten Jahren - schauspielerische rohe wie zarte Urgewalt - erlebt hat, wird sich kaum vorstellen können, dass das ländlich-bäuerliche Idyll Bestand haben wird. Das wird uns um die Ohren fliegen. Massiv und brachial. "Mittelreich" vermisst in allen Tönen die Geschichte einer Wirtsfamilie am Starnberger See durch das 20. Jahrhundert hindurch. Eine Geschichte über das Land…
"In der Dorfkapelle beginnen die Glocken das Mittagsgeläut."
…eine Geschichte über drei Generationen…
"Diesmal ist es ein Madel!"
…beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, als der älteste Sohn des Seewirts einen Kopfschuss erhält und sein jüngerer Bruder das väterliche Erbe übernehmen muss. Muss, denn ursprünglich fühlte dieser Bauer den tiefen Wunsch, Künstler zu werden.
Irgendwann, als ein Jahrhundertsturm das Anwesen am See fast vernichtet, da erfolgt der folgenlose Ausbruch. Da gibt der Schriftsteller und Schauspieler und hier nun auch der Vorleser Josef Bierbichler eine Vorstellung davon, was ein Ausbruch sein kann.
"Wieder spürt er diesen Sturm. Als sein vertrautes Element. Als könnte er mit ihm zusammen wachsen."
Bierbichler legt los:
"Ich bin für diesen Auftrag nicht geeignet. Verfluchtes Erbe, schreit er. Verfluchter Zwang. Ich will der Knecht nicht sein von diesem alten Krempel, den ihr verfluchten Ahnen hier gebündelt habt. Mehr als Hunderte von Jahren lang. Ich hasse dieses Haus und diesen ganzen Heimatkram. Ich will heraus. Heraus aus allem, was ich muss. Ich will nur das noch machen, was ich kann."
Wenn sich die Kritiker beim Roman-Debüt von Josef Bierbichler vor der Sprachgewalt des Textes tief verbeugten, dürfen wir Hörer dem folgen angesichts der Sprechgewalt, der mit anderen Worten grandiosen Vorlesekraft wie Feinheit. Es gibt Passagen in dieser Lesung, die fast unheimlich intensiv wirken, die den Text großartig präsentieren.
Die Szene nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise: 50er-Jahre, Wirtschaftswunderland, die Schrecken von Krieg und Nazi-Terror werden unterm Teppich gehalten, aber manchmal kommt was hoch. Einem Neffen des Nachbarbauern passiert das, als er einen der gerade aufkommenden neuen Trecker in einem möchtegern-harmlosen Vergleich loben will. Also quatscht er von der Fahrtechnik des Treckers im Vergleich zur SS und den Juden im KZ:
"Wenn die nicht mehr richtig gezogen haben, dann hat die SS Gas gegeben oder ..."
Doch Herr Tutcek, Landarbeiter und seit Jahren beim Seewirt, beginnt, diesen Teppich, unter dem alles liegt, hochzuklappen:
"Warum du hast das gesagt? - Was? - Warum du hast das gesagt? - Was gesagt? - Das mit die KZ und die SS. - Warum? Warum soll ich das nicht gesagt haben? Hä? Was ist denn daran so besonders? - Hast du schon mal gesehen eine KZ? Sag, hast du schon mal gesehen? Und drinnen die SS in dem KZ? Hast du? Ja? Kennst du das? Oder redest du nur dumm und Quatsch? Sag!"
Es wirkt fast bedrohlich, wie Josef Bierbichler hier die Spannung anzieht und in ihr die Gewalt hochsteigen lässt. Die Pausen, der bayerische Dialekt, der Rhythmus, der Wechsel vom Leisen zum Lauten bei dieser Geschichte des Herrn Tutcek, des Juden, der das KZ überlebte, der seine eigene Frau aber, um andere zu retten, erdrosselte.
"Warum du redest darüber. - Warum? - Ja. Warum ist es dir eingefallen. Warum? - Warum? - Ja! - Vielleicht, weil man es kennt."
Josef Bierbichlers Lesung ist voll von solchen Momenten, die uns die Luft anhalten lassen. Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht: 727 Minuten Hörzeit müssen nicht lang sein. Und so geht die Geschichte über die Seewirt-Familie zu Ende, die uns viel Blut, Geburt und Tod, absurde Komik, Schrecken, Dumpfheit und Verstricktheit präsentiert. Das fiktive Ich des Romans gibt am Ende ein kurzes schriftstellerische Credo:
"Das meiste von Viktors Gerede habe ich nachempfunden. Nachher erfunden. Heißt das. Aber das langt ja auch."
Eben, am Anfang, vor ein paar Minuten, ging´s um den ersten Satz, dieses trügerische Idyll. Wen wundert´s, dass der letzte Satz von "Mittelreich" nach diesem Horrortrip durch die Geschichte einer Familie vom Versöhnlichen so weit entfernt ist. Doch in dem Ton, den Josef Bierbichler hier anschlägt…
"Die Erde ist keine Heimat."
…liegt da nicht sogar ein wenig tröstliche Gelassenheit, dass es so ist, weil wir es so eingerichtet haben?
"Die Erde ist keine Heimat. Im Taubenschlag lässt sich´s gut warten."
Besprochen von Hartwig Tegeler
Josef Bierbichler: Mittelreich
Ungekürzte Autorenlesung auf 10 CDs
Der Audio Verlag, Berlin 2011
727 Minuten, 39,99 Euro
Links bei dradio.de
Bierbichler inszeniert das Holzhacken als Vergangenheitsbewältigung
Krisen in altbekannter Ästhetik