74. Filmfestspiele in Locarno

Hervorragende Filme und eine weise Jury

19:14 Minuten
Das Open-Air-Kino in Locarno
Kino auf der Piazza Grande: Unter Filmfreunden gilt Locarno als die Perle unter den Filmfestivals - auch wegen dieser großen Open-Air-Leinwand. © picture alliance/Keystone/Urs Flüeler
Von Patrick Wellinski · 14.08.2021
Audio herunterladen
Die Filmfestspiele von Locarno enden mit einem Goldenen Leoparden für den indonesischen Regisseur Edwin. Auch die restlichen Jury-Entscheidungen überzeugen. Der neue Festivalleiter setzt ein klares Signal für populäres Kino mit künstlerischem Anspruch.
Der Goldene Leopard von Locarno geht an "Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas" (Vengeance Is Mine, All Others Pay Cash) des indonesischen Regisseurs Edwin. Mit dieser gelungenen Entscheidung der Jury unter der Leitung von Eliza Hittman geht der 74. Jahrgang des traditionsreichen Filmfestivals zu Ende.

Macho-Klischees genüsslich seziert

Der Film erzählt von einem impotenten Kämpfer, der sich in eine Straßenkämpferin verliebt. Edwin seziert das genre-übliche Macho-Klischee des omnipotenten Kämpfers, der hart und unschlagbar die Welt rettet. Er hat ein tolles Auge für die Schwächen und Traumata seiner Figuren und zitiert mit großer Leidenschaft die Kung-Fu-Filme der 70er- und 80er-Jahre.
Auch in den übrigen Auszeichnungen überzeugt die Jury. Deren Spezialpreis geht an den chinesischen Wettbewerbsfilm "Jiao ma tang hui" (A New Old Play). Anhand des Lebensschicksals eines Peking-Opernsängers lässt der Regisseur Qiu Jiongjigong darin die gesamte Geschichte Chinas im 20. Jahrhunderts Revue passieren.

Abel Ferrara spaltet die Kritik

Für Kontroversen dürfte der Preis an den besten Regisseur sorgen: Ausgezeichnet wird der Italoamerikaner Abel Ferrara für seinen Paranoia-Thriller "Zeros and Ones". Die Low-Budget-Produktion erzählt von einem Soldaten (Ethan Hawke), der in einen großen Krieg katapultiert wird, der in Rom tobt. Ein unsichtbarer Feind bedroht die Welt, die Kirchen, die Ordnung.
Der Film zeichnet sich durch verschiedenste Arten der Bildgestaltung aus: Es gibt Internet-, Infrarot-, Hand- und Handykameras, die die Perspektive einer klassischen Erzählung nahezu auflösen. Einen Eindruck davon vermittelt dieser Ausschnitt:
Der Film hat die Kritik gespalten. Er provoziert mit seiner Undurchdringbarkeit und fasziniert doch gleichermaßen.

Eine junge Frau gegen einen gewalttätigen Vater

Die Auszeichnungen fürs beste Schauspiel hingegen dürften auf breiten Konsens stoßen: Ausgezeichnet wurde die Debütantin Anastasiya Krasovskaya. In "Gerda" spielt sie eine junge Frau, die ihre depressive Mutter vor dem gewalttätigen Vater schützen muss und noch dazu den Lebensunterhalt als Prostituierte verdient. Einen Eindruck ihres intensiven Spiels vermittelt dieser Ausschnitt:
Der Preis für den besten Hauptdarsteller geht gleichermaßen an Mohamed Mellali und Valero Escolar. Im katalanischen Film "Seis días Correntes" spielen die beiden Laien ein ungleiches Klempner-Paar, das sich mit ihren Vorurteilen auseinandersetzen muss.

"Mit ihrer Performance gelingt es Saskia Rosendahl, von einer Stimmung in einer Region zu erzählen, und dazu genügt ein einziger Blick" [AUDIO] , sagt unsere Filmkritikerin Anke Leweke. Die deutsche Schauspielerin wurde für ihre Leistung in "Niemand ist bei den Kälbern" mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet. In dem Film werden die unerfüllten Träume einer 24-jährigen Christin erzählt, die im Kälberstall unter der trügerischen Idylle des Landlebens zu ersticken droht.

Saskia Rosendahl hält ihren Leoparden beim 74. Filmfestival in Locarno in die Kamera.
© picture alliance/Keystone | Urs Flueeler

Gelungener erster Jahrgang des neuen Leiters

Insgesamt war das 74. Internationale Festival von Locarno ein gelungener Einstand für den neuen künstlerischen Leiter Giona A. Nazzaro, der das Festival stärker als Experimentierstube des Genre-Kinos ausrichten möchte.
Ihm ist es dabei wichtig, ein möglichst großes Publikum zu erreichen, ohne den künstlerischen Anspruch zu vergessen. Das ist ihm gelungen.
Man kann also gespannt sein, wie sich dieses traditionsreiche Festival unter seiner Leitung weiter entwickeln wird.

Die Gewinner im Überblick

- Goldener Leopard: "Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas" (Edwin)
- Spezialpreis der Jury: "Jiao ma tang hui" (Qiu Jiongjigong)
- Beste Regie: Abel Ferrara für "Zeros and Ones"
- Beste Darstellerin: Anastasiya Krasovskaya für "Gerda"
- Bester Darsteller (ex aequo): Mohamed Mellali und Valero Escolar für "Sis Dies Corrents"

Lobend erwähnt

- "Espíritu Sagrado" (Chema García Ibarra)
- "Soul of a Beast" (Lorenz Merz)

Mehr zum Thema