Der Traum von Europa als einem Staat
Der Schriftsteller Claudio Magris ist mit einer literarischen Reise entlang der Donau berühmt geworden. Wie der Fluss sollten auch Nationen keine Grenzen kennen, meint er: Europa sei "die einzige mögliche Zukunft für uns".
Ulrike Timm: "Keine Reise ist zu lang und zu gefährlich, wenn sie nach Hause zurückführt." Der Satz aus einem seiner Bücher könnte auch für Claudio Magris selber stehen. Er lebt in Triest, im Nordosten Italiens, nahe Slowenien, Österreich und Kroatien, und der Germanist und Schriftsteller Claudio Magris ist ein euphorischer Europäer. Mitteleuropa ist sein literarischer und wohl auch sein emotionaler Ort. Die Donau hat er von der Quelle bis zur Mündung bereist. So entstand sein in Deutschland wohl immer noch bekanntestes Buch "Donau, Biografie eines Flusses". In ganz vielen kleinen Begegnungen bereist man zugleich die gesamte europäische Kultur und Zeitgeschichte. Claudio Magris, ein wirklicher Homme de lettres, ist Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, er wird 75 Jahre alt. Guten Morgen, Herr Magris!
Claudio Magris: Guten Morgen! Danke für dieses Interesse. Ich freue mich sehr, mit Ihnen zu sprechen.
Timm: Herr Magris, Triest, dieser Schnittpunkt der Welten, war wohl auch entscheidend dafür, dass Sie Deutsch lernten und Germanist und Schriftsteller wurden, oder?
Magris: Ja, indirekter Weise, denn ich bin in Triest geboren und aufgewachsen. Ich habe Triest mit 18 Jahren dann verlassen, um in Turin zu studieren. Aber die Tatsache - zum Beispiel meine Mutter hat fließend Deutsch gesprochen, mein Vater nicht. Die Familie meiner Mutter war, sagen wir, typisch im Sinne der Triestinität. Das heißt, mein Großvater war italienischer Philosoph, der aber fließend Kroatisch und Deutsch natürlich gesprochen hat, dessen Kultur vielleicht mehr deutsch als italienisch war, und so weiter. Und als ich in der zweiten Klasse der Mittelschule war, haben meine Eltern für mich entschlossen, Deutsch als Fremdsprache zu lernen. Das war unglaublich wichtig, auch durch diese Gestalt des Lehrers, der auch ein Kauz war, der uns wirklich ein großes Interesse, positiv und negativ, polemisch, leidenschaftlich für alles erweckt hat, was mit Deutschland zu tun hatte, mehr in diesem Falle für Deutschland, für die deutsche Kultur als für die österreichische und mitteleuropäische Kultur.
Timm: Herr Magris, Ihr in Deutschland immer noch bekanntestes Buch ist diese Reise einmal durch Mitteleuropa, die Donau entlang. Da haben viele Mitteleuropa auch ganz neu kennengelernt und es ist immer das scheinbar Kleine, das Ihnen wichtig ist. Die Donauquelle ist ein Wasserhahn, Sie suchen ausgerechnet in der Slowakei vergeblich nach Bier. Im scheinbar Unwichtigen finden Sie die Essenz. Woher kommt diese Einstellung?
Magris: Wissen Sie, schon Joseph Roth hat gesagt, die kleinen Geschichten entfalten die große Geschichte. Und was mich interessiert ist nicht das Kleine, sondern, sagen wir, das Menschliche, und auch vor allem, was wirklich geschieht. Mich interessieren die menschlichen Schicksale, die manchmal rührend, manchmal auch weinerlich, tragisch, melancholisch sind. Wenn ich schreibe, habe ich immer das Gefühl, ein Mosaik zu machen. Jeder kleine Stein entspricht einem Stück Realität, einem bisschen Leben. Natürlich: Mit diesen verschiedenen Steinen mache ich eine ganz erfundene Figur, abgesehen davon, ob sie gut oder schlecht ist. Diese Genauigkeit, wie die Etymologie sagt: Philologie hat mit der Liebe zu tun und das hat auch mit der Zärtlichkeit viel Realität.
Und natürlich gibt es in diesem auch manche Recherche von Totalität. Deswegen habe ich ein bisschen selbstironisch mich selbst in der Gestalt des Ingenieurs Neweklowsky porträtiert, dieser Mann, der das ganze Leben meiner wahnsinnigen Recherche von allen, allen, auch unsinnigen Details gewiesen hat, die mit der Donau zu tun hat. Aber eigentlich ist das Buch natürlich keine Reportage, es ist ein versteckter Roman, die Geschichte, wo die Donau natürlich die konkrete Donau ist, so wie die konkreten Länder, Nationen, Kulturen sind. Es ist auch ein Buch über die Grenzen, über die Schwierigkeitsgrenzen, und ich meine nicht nur nationale, politische Grenzen, sondern auch moralische, religiöse, sprachliche Grenzen zu überwinden. Aber es ist eigentlich die Geschichte des Lebens, der Reise durch das Leben und am Ende des Todes des Reisenden.
Der "kleine Wahnsinn, der im Schreiben liegt"
Timm: Und ich finde, man hört dem Schriftsteller und auch dem großen Germanisten Claudio Magris jetzt schon an, dass sein Ort immer das Kaffeehaus ist, wo die Geschichten des Lebens ja auch erzählt werden. Feiern Sie Ihren Geburtstag eigentlich auch im Kaffeehaus?
Magris: Na ja, feiern nicht. Ich werde ganz einfach natürlich wie immer mit ein paar Freunden und Freundinnen meinen Kaffee, in diesem Fall nicht um zu arbeiten, zu kritzeln und zu schreiben, sondern nur um zu schwätzen, was auch sehr wichtig ist. Wissen Sie, im Kaffee bin ich sehr gerne. Es ist immer schwieriger, über solche Sachen zu sprechen. Es gibt immer die Gefahr, sich selbst zu stilisieren, als ob ich den Wiener oder französischen Kaffeehaus-Literaten spielen wollte. Aber ganz einfach: Es gefällt mir. Mir gefällt, wenn ich alleine bin mit dem kleinen Wahnsinn, der immer im Schreiben liegt, aber doch in der Mitte der Leute, denn es ist auch gut, wenn man glaubt, die Welt mit dem Schreiben irgendwie in Ordnung zu bringen. In diesem kleinen Berühren von Allmächtigkeit ist es nicht schlecht, Leute um sich herum zu sehen, die das völlig belanglos betrachten.
Timm: Sie sind auch ein Habsburg-Diagnostiker. Sie kennen sich bei Musil, bei Werfel, bei Zweig und bei Joseph Roth aus wie kaum ein zweiter und haben mal gesagt, die klassische Moderne sei viel zeitgemäßer als vieles, was heute erscheint. Was finden Sie dort, was Sie woanders nicht finden?
Magris: Ja, eine Sache. Erstens ein stärkeres Gefühl der Vielfalt von Identität. Wenn mein Freund Johannes Urzidil, der deutscher Dichter jüdischer Herkunft war aus Prag, der die Trauerrede bei der Beerdigung Kafkas gehalten hat, sich selbst als hinternational bezeichnet, hinter den Nationen. Oder dieses Gefühl einer Vielfalt, die nicht nur die Nationalität betrifft, sondern auch die Fragwürdigkeit des Ich, eine unglaubliche, scheinbar traditionelle, aber unglaublich moderne, fast beunruhigenderweise eine Kultur auch der Leere, des Bewusstseins der Leere, das heißt Wien als Wetterstation für Weltuntergang, wie Karl Kraus sagte, das finde ich überhaupt wichtig, auch um unsere Zukunft besser zu erwarten oder zu verstehen.
Timm: Wir sprechen mit dem Homme de lettres, Claudio Magris, hier im Deutschlandradio Kultur. Er wird 75 Jahre alt. – Herr Magris, Sie saßen zwei Jahre im italienischen Senat, 1994 bis '96. Hat Ihnen die aktive Politik, hat die Ihnen eigentlich Spaß gemacht?
Magris: Nein. Ich habe es getan gegen meine Natur, denn in dem Moment, dieser plötzliche Aufstieg von Berlusconi und die Tatsache, dass fünf Kräfte in Triest von den alten Konservativen, Liberalen, die aber aus moralischen Gründen gegen Berlusconi waren, bis zur extremen Linken mich aufgefordert haben zu kandidieren - da hatte ich das sehr unangenehme Gefühl, es tun zu müssen, zu sollen. Und das ist gegen meine Natur, denn das Repräsentieren ist gegen meine Natur. Hätte ich Rektor werden müssen, hätte ich die Uni verlassen.
Europa ist "die einzig mögliche Zukunft für uns"
Timm: Ich höre heraus, der aktive Politiker Magris war eine Episode. – Sie haben sich so viel beschäftigt mit Mitteleuropa, literarisch, historisch, als Intellektueller. Wenn Sie heute auf Europa schauen, tun Sie das mit Optimismus oder mit Pessimismus?
Magris: Ich bin, wie Gramsci sagte, sehr Pessimist mit der Vernunft, aber doch Optimist mit dem Willen. Das heißt, ich glaube immer noch, dass Europa die einzige mögliche Zukunft für uns ist, denn die Probleme sind heute europäisch. Es ist lächerlich zum Beispiel, dass ein allgemeines Problem wie die Migration verschiedene Gesetze hat, ein Gesetz in Holland, ein anderes in Italien. Natürlich gibt es unglaubliche Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten liegen in diesem schrecklichen Erwachen von kleinen Mikronationalismen, in der Unfähigkeit der Europäischen Union, doch eine mutige Politik zu haben.
Wissen Sie, es ist auch nicht leicht. Zum ersten Mal in der Geschichte versucht man, eine größere politische Einheit nicht mit dem Krieg zu schaffen, denn bis jetzt sind alle historischen, auch großartige politischen Staaten das Ergebnis eines Krieges oder vieler Kriege gewesen. Das wollen wir natürlich nicht, aber es ist natürlich viel schwieriger. Ich träume von einem europäischen Staat, natürlich föderalistisch dezentralisiert, aber doch mit einem Parlament, mit Grundgesetzen, die gültig sind für alle. Das ist die einzige mögliche Zukunft. In diesem Sinne muss ich sagen, dass heute Deutschland – ich will weder Deutschland, noch die Regierung verherrlichen – doch Deutschland ist ein so wichtiges Land, in dessen Parlament, im Gegensatz zu Italien, zu Frankreich und so weiter kein Vertreter von extremen Bewegungen sitzt, in dieser neuen Technik, wo die Web-Welt noch nicht die Demokratie ersetzt hat, und so weiter. In dem Sinne finde ich dieses Misstrauen, dieses heutige Misstrauen gegen Deutschland überhaupt falsch.
Timm: Der Schriftsteller und Germanist Claudio Magris, einer der wenigen echten Homme de lettres Europas. Dieses Gespräch führten wir aus Anlass seines 75. Geburtstages. Wir wollen ihm damit gratulieren. Herr Magris, bleiben Sie gesund und so produktiv wie Sie sind. Herzlichen Dank fürs Gespräch.
Magris: Danke! Alles, alles Gute Ihnen und allen, die Sie lieben.
Timm: Danke schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.