Statt vor Ort wird der Befreiung nun digital gedacht
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Leichenberge und tausende zu Skeletten abgemagerte Menschen: Den Soldaten, die vor 75 Jahren das KZ Bergen-Belsen befreiten, bot sich ein Bild des Grauens. Der Jahrestag der Befreiung sollte nun feierlich begangen werden, doch die Coronakrise macht das unmöglich.
Anita Lasker-Wallfisch hatte die Mordfabrik Auschwitz überlebt, als der Exodus vom Osten nach dem Westen begann. 3000 Menschen, eingepfercht in Viehwaggons, darunter auch die junge Cellistin aus dem Häftlingsorchester von Birkenau. Im November 1944 erreichte der Transport das Konzentrationslager Bergen-Belsen:
"An der Rampe hielt der Zug. Dann hieß es: 'Raus, schnell, schnell!', und wir fingen an zu marschieren", erinnert sich Lasker-Wallfisch. "Es war ein langer Weg, das können Sie mir glauben."
1943 auf dem Gelände eines bereits existierenden Lagers für belgische, französische und sowjetische Kriegsgefangene errichtet, war Bergen-Belsen zunächst als so genanntes "Austauschlager" gedacht. Insgesamt rund 15.000 jüdische Häftlinge hielt die SS dort als Geiseln fest, um sie gegen im Ausland gefangene Deutsche einzutauschen.
Erweitert um das Zeltlager für weibliche Häftlinge und ein Männerlager wurde Belsen in den letzten Kriegsmonaten zum Ziel von Todesmärschen. Mit der Evakuierung der frontnahen Lager potenzierte sich das Massensterben:
"Wir wurden in riesige Zelte getrieben. Es goss in Strömen, die Zelte waren dem Wetter nicht gewachsen, und mitten in der Nacht fielen sie zusammen, und wir lagen da, begraben unter dem Zelt. Es ist unglaublich, was der menschliche Körper alles aushalten kann."
"So etwas wie Belsen hatte noch niemand gesehen"
Anita Lasker-Wallfisch, Jahrgang 1925, sitzt in ihrem Garten in London. Ihre vorbereitete Rede spricht sie in eine Kamera. Salmon Wallfisch, ihr Enkel, hat die Videobotschaft aus sicherer Distanz aufgenommen.
"Unsere Befreier hatten keine Ahnung, was sie vorfinden würden. So etwas wie Belsen hatte noch niemand gesehen."
Aus aller Welt wollten 500 Überlebende, Angehörige, Freunde anreisen. Doch Jens-Christian Wagner musste die große Gedenkveranstaltung und das Besuchsprogramm absagen:
"Das hat uns in den letzten vier Wochen alles ziemlich überrannt mit Corona", sagt der Historiker, der die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten leitet. Diese vom Land geförderte Stiftung soll die Gedenkstätte Bergen-Belsen als Ort der Erinnerung an die Leiden der Opfer des Nationalsozialismus erhalten und gestalten.
"Allgemein versuchen wir, aus der Not eine Tugend zu machen. Wir sagen immer, Gedenken braucht Wissen. Und das können wir natürlich mit digitalen Formaten, deren Inhalte wir selbst bestimmen, sehr viel besser machen als mit einer Präsenz-Gedenkveranstaltung."
Auf der Website der Stiftung sind nun Filme zu den zentralen Erinnerungsorten abrufbar. Die Geschichte Belsens endete nicht mit der Befreiung, denn viele Überlebende konnten den Ort des Schreckens nicht verlassen. Noch fünf weitere Jahre beheimatete das so genannte Displaced Persons Camp rund 50.000 Menschen, die kein Zuhause mehr hatten.
Die Grenze des Sagbaren ist nach rechts gerückt
"Shores beyond Shores", so lautet der Titel des Buches, in dem Irene Butter von ihren Erfahrungen im Konzentrationslager berichtet, das sie einige Monate vor der Befreiung als so genannte Austauschjüdin Richtung Amerika verlassen konnte. Doch erst in den 80er Jahren wurde sie sich ihrer Pflicht als Überlebende bewusst, die Stimme der Verstummten zu sein. Anlass war eine Fotoausstellung über Anne Frank, mit der sie im Lager Kontakt hatte, erzählt die heute fast 90-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin aus Michigan im Telefongespräch mit dem Deutschlandfunk.
Doch was tun, wenn es mit wachsendem Abstand immer weniger Zeitgenossen gibt, die noch Zeugnis ablegen könnten? Stiftungs-Geschäftsführer Wagner fühlte sich zuletzt häufiger an die klassischen Abwehrreflexe der Zeitzeugen- und Tätergeneration erinnert:
"Wir merken ganz allgemein in der Gesellschaft, dass die Grenzen des Sagbaren sich nach rechts verschoben haben. Wir merken in ganz Europa, dass autoritäre Ideen, dass völkische Ideen, dass Rassismus, dass Antisemitismus bei vielen hoffähig geworden sind. Und das geht selbstverständlich auch nicht an den Besuchern von Gedenkstätten spurlos vorbei."
Darüber diskutieren sie hier in Belsen gerade: Die Gedenkstättenpädagogik darf den Blick nicht nur auf Leichenberge in den KZs, sie sollte ihn viel stärker als bisher auch schon auf die Frühphase des Nationalsozialismus richten – mit ihren subtilen Formen von Ausgrenzung und schrittweiser Entrechtung, die dann zur Verfolgung wird und in der Ermordung von ganzen Bevölkerungsgruppen endet, die nicht in die propagierte Volksgemeinschaft zu passen schienen.
Lasker-Wallfischs Rat: Sprecht miteinander!
"Wenn es zum Beispiel in Ungarn gelingt, im Schatten von Corona ein Ermächtigungsgesetz durchzusetzen, das das Parlament aushebelt und dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán unbegrenzte Macht gibt, muss uns das mit sehr großer Sorge erfüllen", sagt Jens-Christian Wagner.
Aktualitätsbezüge scheut auch Anita Lasker-Wallfisch nicht. Die Mitbegründerin des English Chamber Orchestra hat in den späten 80er-Jahren ihren Eid gebrochen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Die 94-Jährige sitzt auf Podien, sucht die Begegnung und spricht Tacheles:
"Antisemitismus ist wieder in den Schlagzeilen, trotz der beeindruckendsten Gedenkfeiern läuft es parallel mit Überfällen auf Menschen jüdischer Abstammung – als ob das eine nichts mit dem anderen zu tun hat."
Ihr Rat an die Jugend – für eine Zeit nach der Corona-Pandemie:
"Sprecht miteinander, spielt Fußball miteinander, trinkt Kaffee miteinander, ladet euch in eure Häuser ein, erklärt euch eure verschiedenen Feiertage, und ihr werdet finden, dass ihr viel mehr gemeinsam habt, als euch trennt."