Kommentar zum Grundgesetz-Jubiläum

Feiern gegen politische Gewalt

03:50 Minuten
Eine Person hält ein Schild in der Hand, auf dem "Wir sind bunt" steht.
Kundgebung in Meiningen, Thüringen, im April 2024: Dem Rechtsextremismus eine unmissverständliche Absage erteilen. © imago / Müller-Stauffenberg
Von Christine Bratu · 26.05.2024
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Rechtsradikale Putschpläne, Gewalttaten, Hassreden – wer sich der extremen Rechten nicht aktiv entgegenstellt, trägt zu einer Verschiebung politischer Normen und Spielregeln bei, warnt die Philosophin Christine Bratu.
Wo man hinsieht: Plakate, Flyer, Werbefilmchen, die Festakte und Straßenfeste ankündigen und alle Bürger:innen aufgeregt dazu auffordern, gemeinsam das Grundgesetz zu feiern. Klar, das Grundgesetz war zum Zeitpunkt seiner Ratifizierung ein unglaublicher politischer und moralischer Fortschritt - und die Einsicht, dass jeder einzelne Mensch einfach als Mensch wertvoll und schützenswert ist, ist auch heute noch im besten Sinne revolutionär. Dennoch erscheint von oben verordnete Fröhlichkeit immer ein bisschen komisch, wie amateurhaft inszeniertes politisches Theater.

Angriffe auf offener Straße

Bevor wir das Ganze aber zu schnell als albern abtun, sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass gerade noch ein ganz anderes, deutlich düsteres Stück aufgeführt wird: Anfang Mai wurden in Dresden und Berlin Politiker:innen auf offener Straße angegriffen.
Die Reichsbürgergruppe, die gerade zusammen mit Herrn Reuß in Frankfurt am Main zum zweiten Mal vor Gericht steht, wollte offenbar den Bundestag stürmen, Abgeordnete erschießen, die Demokratie abschaffen. Und insgesamt ist die Zahl rechtextremistisch motivierter Übergriffe im Jahre 2023 um 23 Prozent auf 28.945 gestiegen – mit Abstand die größte Gruppe politisch motivierter Gewalttaten, wie man im soeben veröffentlichten Jahresbericht des Bundeskriminalamts nachlesen kann.
Solche Akte politischer Gewalt sind zwar hauptsächlich genau das – also: menschenverachtende Gewalt; darüber hinaus stellen sie aber immer auch eine an die Öffentlichkeit gerichtete politische Performance dar. Die unfassbare Dreistigkeit, mit der sie erfolgen, offenbart nämlich, dass hier nicht nur Fakten geschaffen, sondern auch Normen verschoben werden sollen. Mit anderen Worten: Die Täter:innen verwenden Gewalt nicht nur als politisches Mittel, sondern es geht ihnen auch darum, Gewalt als politisches Mittel zu legitimieren.

Einschreiten bei Hass und Hetze

Damit das funktioniert, muss das Publikum allerdings mitspielen. Die US-amerikanische Philosophin Ishani Maitra verdeutlicht dies anhand des folgenden (leider sehr realistischen) Beispiels: Stellen wir uns vor, eine Frau mit Kopftuch wird in der U-Bahn von einem Fahrgast islamophob und fremdenfeindlich angepöbelt.
Wenn alle Mitfahrenden zwar zusehen, aber niemand offen widerspricht, verletzt der Aggressor nicht nur die direkt Betroffene – er beschädigt auch die geltenden Regeln des wechselseitigen Miteinanders. Laut Maitra lässt das Schweigen der Mehrheit den Übergriff nicht also nicht nur geschehen, sondern es erklärt ihn für erlaubt.

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In Zeiten ansteigender politischer Gewalt braucht es also nicht nur Gesetze, die Betroffene besser schützen: Wenn wir solch schamlose Versuche, die politischen Spielregeln zu verändern, nicht durch unser Schweigen absegnen wollen, müssen wir ihnen eine unmissverständliche Absage erteilen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan.

Übungen in wehrhafter Demokratie

Im ausgepolsterten Aufnahmestudio herrscht ein anderes Klima als auf mancher deutschen Straße im Europawahlkampf. Und wenn man hört, dass die Bundesinnenministerin den Zugriff auf das Melderegister erschweren will, damit Politiker:innen ihre Wohnadressen geheim halten und sich so besser vor Übergriffen schützen können, bekommt man eher Angst als Feierlaune. 
Aber gerade weil dies alles so zum Fürchten ist, sollten wir für das Grundgesetz auf die Straße gehen. Denn wo Gewalt als politisches Mittel normalisiert werden soll, werden friedliche Veranstaltungen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung plötzlich zu einer Übung in wehrhafter Demokratie. Und bekanntlich soll man ja die Feste feiern, wie sie fallen.
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