Florian Goldberg, geboren 1962, hat in Tübingen und Köln Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht.
Die Sache mit der Vergangenheitsbewältigung
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Die Deutschen haben den größten Krieg der Menschheitsgeschichte initiiert und den fabrikmäßigen, millionenfachen Mord erfunden. Im Rückblick auf den NS-Terror bedeute Vergangenheitsbewältigung die "Bereitschaft beunruhigt zu bleiben", meint Autor Florian Goldberg.
Irgendwann nach 1945, die genauen Angaben können wir getrost Wikipedia überlassen, dämmerte den Deutschen, dass sie sich der eigenen dunklen Vergangenheit würden stellen müssen. Man hatte einer schwerkriminellen Führungsclique zugejubelt, den größten Krieg der Menschheitsgeschichte vom Zaun gebrochen und nebenbei noch den fabrikmäßigen, millionenfachen Mord erfunden.
Vielleicht war es ja doch angebracht, einmal genauer hinzusehen. Das Wort von der Vergangenheitsbewältigung machte die Runde.
Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung hochkomplexer und schmerzhafter Zusammenhänge. Tatsächlich war der Widerstand gewaltig – in der Politik wie in der Bevölkerung. Allzu viele hatten irgendjemanden mit furchtbar schmutzigen Händen im persönlichen Umfeld, sofern es sich nicht ohnehin um die eigenen handelte. Wer wollte das schon so genau wissen. Zudem war das Land geteilt, weshalb sich der Osten die Hände höchstoffiziell in antifaschistischer Unschuld wusch, während sich der Westen auf seine Frontstellung im Kampf gegen den Kommunismus berief.
Auch die Opfer müssen die Vergangenheit bewältigen
Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik hieß also: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!" Hier mal eine Reparationsleistung, dort mal ein Kriegsverbrecherprozess. Aber ansonsten Schlussstrich im deutschen Walde und Reintegration der alten Kader ins öffentliche Leben. Die Globkes lassen grüßen. Wirklich Bewegung in die Sache kam erst mit den 68ern, die gegen das wirtschaftswunderliche Schweigegelübde der Elterngeneration anbrüllten: "Macht endlich den Mund auf!"
Dabei geriet schon mal aus dem Blick, dass es auch noch andere gab, die ihre Vergangenheit zu bewältigen hatten. Jene, die ihre Kinder, Väter, Mütter, Verwandten, ihre Liebespartner, ihre Freunde in den Mordfabriken verloren und sie vielleicht selbst nur knapp überlebt hatten. Während sie, um nicht zu verzweifeln, ihre Vergangenheit bewältigen mussten, nahm ihnen ein unbelehrbarer Teil der Deutschen insgeheim übel, dass man die seine bewältigen sollte. Das Wort vom "Schuldkult" kam auf und wechselte über die Jahrzehnte vom verdrucksten Raunen zur lautstarken Beschwerde, die gerade wieder ihren Weg ins Parlament gefunden hat: Irgendwann muss es doch mal gut sein!
Interessanterweise ist es das längst: nämlich für jene vielen in Deutschland lebenden Menschen, die in den letzten 75 Jahren zugehört, mitgefühlt und ihre Schlüsse aus dem Kulturbruch des so genannten "Dritten Reiches" gezogen haben. Für sie ist es gut, weil es niemals gut sein kann. Gut also nicht im Sinne einer letzten Absolution, sondern der Bereitschaft beunruhigt zu bleiben: beunruhigt von der stets lauernden Möglichkeit des Vorurteils, der Herzlosigkeit, des Kleinmuts und der direkten Gewalt, die von uns als einzelnen jederzeit Besitz ergreifen kann, um von dort sich bis in die Kollektive zu fressen. Eine Möglichkeit, die im Menschsein selbst begründet liegt und daher in mir und in dir immer wieder bemerkt und transformiert werden muss.
Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung
Für uns hat die Auseinandersetzung mit dem Bruch den Willen zu einer neuen Kultur begründet: der Offenheit, Wachsamkeit und grenzenlosen Kommunikation – gerade auch, wo sie schmerzhaft wird. Für uns, deren Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Glaube und sexuelle Ausrichtung übrigens nur eine untergeordnete Rolle spielen, hat das Wort von der Vergangenheitsbewältigung längst die Bedeutung gewonnen, die sie für die Einsichtsvolleren von Anfang an hatte: Erst der klare Blick auf die Vergangenheit erlaubt die Bewältigung der Gegenwart und damit die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft!
Es geht nicht um Schuld oder Unschuld.
Es geht um Verantwortung für unser geteiltes Menschsein.