Russlandfeldzug war "der Beginn des Holocausts"
Ein epochales Verbrechen - das war der deutsche Überfall vom 22. Juni 1941 auf die Sowjetunion. Warum das Gedenken in Deutschland am 75. Jahrestag eher verhalten ausfällt, erklärt Jörg Morré, Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Karlshorst.
Vor 75 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel Nazideutschland die Sowjetunion. Geplant war, das riesige Land in einem nur acht Wochen dauernden Blitzkrieg zu erobern. Stattdessen wurde es ein mehrjähriger, extrem blutiger Vernichtungskrieg, der allein auf sowjetischer Seite 27 Millionen Menschen das Leben kostete und den die Deutschen trotzdem nicht gewinnen konnten. Dem 75. Jahrestag dieses epochalen Verbrechens wird in Deutschland eher verhalten gedacht.
Der Krieg ist für unsere Gesellschaft "sehr weit weg"
"Wir haben uns daran gewöhnt, seit den 90er-Jahren sehr eloquent immer von dem Vernichtungskrieg zu reden", sagt Jörg Morré, Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst.
"Was das wirklich heißt – da möchte ich ein bisschen Reklame für mein Museum machen –, das sollte man sich vielleicht immer mal wieder angucken, das kann man ganz gut im Museum Karlshorst, wir zeigen das.Aber der Krieg ist natürlich für unsere Gesellschaft sehr, sehr, sehr weit weg. Und ob das jetzt also irgendwie der Dreißigjährige Krieg war oder der Vernichtungskrieg, verschwimmt für die Schüler heute so ein bisschen. Die Erlebnisgeneration ist weg, das ist sicherlich auch noch ein Aspekt. Wir müssen eben uns doch gedanklich enorm wieder anstrengen, das nicht in Vergessenheit geraten zu lassen."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Unternehmen Barbarossa hieß er, der barbarische Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, morgen also vor 75 Jahren. In Moskau, der einstigen sowjetischen Hauptstadt, wird heute schon daran erinnert, morgen dann auch in Berlin, wo eine vom Deutsch-Russischen Museum Karlshorst organisierte Gedenkveranstaltung im Deutschen Historischen Museum stattfinden wird, unter anderem mit Bundestagspräsident Norbert Lammert. Jörg Morré ist Direktor dieses Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst und jetzt in Moskau am Telefon. Schönen guten Morgen!
Jörg Morré: Ja, guten Morgen!
von Billerbeck: 1941 überfiel Hitler-Deutschland die Sowjetunion, Operation Barbarossa hieß das. Was ist damals passiert?
Morré: Also, erst mal war das ein riesiger Feldzug, der gegen Russland gestartet wurde, es sollte ein sogenannter Blitzkrieg durchgeführt werden. Man ging davon aus, innerhalb von acht Wochen die Sowjetunion militärisch besiegen zu können. Aber ungefähr ein halbes Jahr zuvor liefen die Planungen schon los, dass es nicht nur darum ging, die Sowjetunion militärisch zu besiegen, sondern sie als Land, als Gesellschaft als Ideologie restlos zu zerstören, was dann eben zu dem sogenannten Vernichtungskrieg führte, der sich gegen die Zivilbevölkerung richtete, 27 Millionen Tote, Sie haben das in der Anmoderation schon gesagt. Unglaubliche Verluste, aus unserer Sicht kann man sagen, der Beginn des Holocausts. Die Bilanz dieses Krieges war einfach schrecklich.
In Russland ist die Erinnerung "unheimlich präsent"
von Billerbeck: Weit mehr also, 27 Millionen Sowjetbürger starben, verhungerte, verdursteten, wurden erschossen, eingesperrt, zur Zwangsarbeit gepresst. Deutschland, so hat es Exkanzler Schröder gerade in einem Interview in der "Süddeutschen" gesagt, hat damals ein epochales Verbrechen begangen. Warum waren die Völker der Sowjetunion nach all dem, was passiert ist, trotzdem zu einer Versöhnung bereit?
Morré: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, erst mal natürlich in der Erkenntnis, dass man Geschichte verarbeiten muss, um es ganz allgemein zu sagen. Dann gerade jetzt für mein Museum, wir arbeiten seit über 20 Jahren zusammen, vor allen Dingen mit der russischen Föderation … Na ja, es ist ein bisschen Gras darüber gewachsen, obgleich die Erinnerung hier in Russland nach wie vor unheimlich präsent ist. Ich verstehe es ehrlich gesagt bis heute auch nicht so ganz. Man kann es auch landläufig mit der großen russischen Seele begründen, das trägt aber alles nicht. Ich glaube, das ist wirklich mehr so eine übergeordnete Erkenntnis, man muss sich der Geschichte stellen, auch den dunklen Kapiteln, und sich dann daran abarbeiten.
von Billerbeck: Heute, 75 Jahre später, engagieren sich die Deutschen wieder in Osteuropa, und zwar mit Führungsaufgaben in der NATO. Wie kommt denn das bei den Russen und nicht nur bei ihnen an?
Morré: Das wird schon sehr skeptisch gesehen, wobei es erstaunlicherweise irgendwie, also in meiner Arbeit, muss ich sagen, ein bisschen zerfällt. Die geschichtliche Erinnerung, die sicherlich in Russland und Deutschland komplett auf unterschiedlichen Gleisen läuft, das hat auch damit zu tun: Hier wird an den Sieg erinnert, der Sieg hat was mit militärischer Stärke zu tun, das ist auch das, was hier das Leitmotiv in der Innenpolitik Russlands ist. Und auf der Ebene ist die NATO natürlich der Gegner.
Unterschwellige Fraternisierungsangebote
Dass die Deutschen da mitmachen, wird sehr wohl gesehen, das wird auch nicht gut geheißen. Mir wird dann immer auf der kollegialen Ebene so angeboten, na ja, ihr müsst da ja mitmachen, eigentlich könnten ja Russland und Deutschland gute Freunde sein, aber ihr müsst da ja mitmachen, weil es die USA gibt, weil es die NATO gibt. Und dann ist man so persönlich ein bisschen raus und man kriegt so eine Art, ja, Fraternisierungsangebot unterschwellig und kommt dann eben wieder ganz gut zusammen.
von Billerbeck: Wenn man sich anschaut, was in Deutschland an Erinnerungspolitik geleistet wird, wo steht da heute noch, wie es gerade Exbundeskanzler Gerhard Schröder in der "Süddeutschen" fragte, wo ist sie da noch die selbstkritische Auseinandersetzung eben mit diesem Krieg gegen die Sowjetunion?
Morré: Die verblasst ein bisschen. Wir haben uns daran gewöhnt, seit den 90er-Jahren sehr eloquent immer von dem Vernichtungskrieg zu reden. Was das wirklich heißt – da möchte ich ein bisschen Reklame für mein Museum machen –, das sollte man sich vielleicht immer mal wieder angucken, das kann man ganz gut im Museum Karlshorst, wir zeigen das. Aber der Krieg ist natürlich für unsere Gesellschaft sehr, sehr, sehr weit weg. Und ob das jetzt also irgendwie der Dreißigjährige Krieg war oder der Vernichtungskrieg, verschwimmt für die Schüler heute so ein bisschen. Die Erlebnisgeneration ist weg, das ist sicherlich auch noch ein Aspekt. Wir müssen eben uns doch gedanklich enorm wieder anstrengen, das nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Krieg für viele Junge "total abstrakt"
von Billerbeck: Trotzdem gibt es ja auch andere Ereignisse, wir denken an 100 Jahre Schlacht bei der Verdun, die sehr groß erinnert wurden. Der Historiker Götz Aly hat neulich in der "Berliner Zeitung" geschrieben, in einem ansonsten erinnerungsbeflissenen Land herrsche Gedenken an diesen Krieg auf Sparflamme. Warum ist das so?
Morré: Ich glaube, weil wir eine unheimliche Friedenssehnsucht haben, weil es uns gut geht. Da will man an diese bösen Dinge der Vergangenheit nicht denken. Und noch mal, also, Krieg ist für viele Mitglieder der Gesellschaft, gerade die Jungen, die in der Regel immer in den Krieg ziehen müssen, einfach total abstrakt. Und die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg lief ja auch in Deutschland extrem schleppend an, das muss man noch dazu sagen. Alle anderen Länder hatten da schon längst sich vorbereitet auf das Jubiläum, in Deutschland war da noch ganz wenig passiert. Und ein bisschen sehe ich das dieses Mal auch mit dem Jubiläum des 75. Jahrestages des Überfalls, es ist nicht mehr so der Aufreger, wie es vielleicht noch vor fünf Jahren war.
von Billerbeck: Jörg Morré war das, Direktor des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst, live aus Moskau, wo heute schon an den Überfall vor 75. Jahren, den Deutschland auf die Sowjetunion begangen hat, erinnert wird. Ich danke Ihnen!
Morré: Ja, bitte, gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.