Die Erfinderin von Nils Holgersson
Die fantastische Geschichte des Nils Holgersson, der mit einer Schar Wildgänse durch Schweden zieht, machte die Schriftstellerin Selma Lagerlöf berühmt. Aber sie war auch eine streitbare Pazifistin und trat vehement für die Frauenrechte ein. Die Literaturnobelpreisträgerin starb heute vor 75 Jahren.
Ein Zug auf dem Weg nach Stockholm. Eine Frau allein im Abteil. Draußen dämmert es. Stumm hält die Frau Zwiesprache mit ihrem toten Vater.
"Denk nur an all diese armen heimatlosen Kavaliere, die in deiner Jugend in Värmland umherzogen und Karten spielten und Lieder sangen. Und denk' an all die Alten, die in kleinen, grauen Hütten am Waldessaum saßen und von Nöck und Troll und von verzauberten Jungfrauen erzählten, die im Berg gefangen säßen. Die haben mich gelehrt, wie man über harte Felsen und schwarze Wälder Poesie ausbreiten kann."
"Denk nur an all diese armen heimatlosen Kavaliere, die in deiner Jugend in Värmland umherzogen und Karten spielten und Lieder sangen. Und denk' an all die Alten, die in kleinen, grauen Hütten am Waldessaum saßen und von Nöck und Troll und von verzauberten Jungfrauen erzählten, die im Berg gefangen säßen. Die haben mich gelehrt, wie man über harte Felsen und schwarze Wälder Poesie ausbreiten kann."
Die Reisende heißt Selma Lagerlöf. In wenigen Tagen, am 10. Dezember 1909, wird sie als erste Frau den Nobelpreis für Literatur bekommen - und dann erzählen, was ihr durch den Kopf ging, auf der Eisenbahnfahrt nach Stockholm. Selma Lagerlöfs Nobelpreisrede ist eine der bewegendsten und persönlichsten, die je gehalten wurden.
"Und, Vater, denk an all die bleichen und hohläugigen Mönche und Nonnen, die in dämmrigen Klöstern saßen, und Gesichte sahen und Stimmen hörten. Bei ihnen stehe ich in Schuld. Für all die Anleihen aus dem großen Legendenschatz, den sie gesammelt haben."
"Und, Vater, denk an all die bleichen und hohläugigen Mönche und Nonnen, die in dämmrigen Klöstern saßen, und Gesichte sahen und Stimmen hörten. Bei ihnen stehe ich in Schuld. Für all die Anleihen aus dem großen Legendenschatz, den sie gesammelt haben."
Selma Lagerlöf kommt 1858 auf Mårbacka zur Welt, dem elterlichen Landsitz in der Provinz Värmland. Das Kind wächst auf in Geborgenheit und eingehüllt in Geschichten; Geschichten erzählen hier alle. Die Bilderbuchkindheit, die Lagerlöf in ihren Memoiren beschwört, ist allerdings keine reine Idylle. Mit drei Jahren erkrankt Selma an einer rätselhaften Lähmung der Beine und bedarf jahrelanger ärztlicher Behandlung. Sie verbringt viel Zeit mit Büchern. Das hilft ihr, das Scheitern des bewunderten Vaters zu verkraften. Leutnant Lagerlöf ist dem Alkohol verfallen. Er wirtschaftet Mårbacka herunter. Kurz nachdem Selma das Elternhaus verlässt, um ein Lehrerinnenseminar zu besuchen, muss das Gut aufgegeben werden. Die Nobelpreisträgerin wird es später zurückkaufen können und auch selbst bewirtschaften.
Schuld und Erlösung sind ihre Themen
Lagerlöfs erster Roman, "Gösta Berling", erscheint 1891. Das Buch hat zunächst wenig Erfolg. Poetische Landschaftsbeschreibungen, elegische Schilderungen vergangener Zeiten, Märchenbilder, alte Sagen, Übersinnliches - solche Elemente einer verpönten Romantik passen nicht in eine Zeit, da sich ein gegenwartsgesättigter und sozialkritischer Realismus unter der Ägide August Strindbergs Bahn bricht in Schweden. Heute zählt Lagerlöfs Roman zur Weltliteratur, auch wegen seiner lange verkannten modernen, episodischen Form. Im Zentrum der nur lose verwobenen Romankapitel stehen die Abenteuer des trunksüchtigen Pfarrers Gösta Berling und einer Reihe eben jener Kavaliere, die Lagerlöf in ihrer Nobelpreisrede erwähnt: ehemalige Offiziere, die nach den Napoleonischen Kriegen ziel- und ruhelos durch Värmland streifen.
Am Ende ist Gösta Berling geläutert, eines der großen Themen Selma Lagerlöfs, das von Schuld und Erlösung. Ähnlich ergeht es Nils Holgersson, dem frechen kleinen Nichtsnutz, der Tiere quält und zur Strafe in einen Wichtel verwandelt wird. Auf seiner langen Reise mit den Wildgänsen lernt er, Verantwortung zu übernehmen und Freundschaften zu schließen.
"Als er oben auf der Uferböschung ankam, wandte er sich um und betrachtete die vielen Vogelscharen, die aufs Meer hinausflogen. Alle schrien ihre Lockrufe, nur eine Wildgansschar flog stumm davon ... und der Junge spürte eine solche Sehnsucht nach den Davonfliegenden, dass er fast wünschte, er wäre wieder Däumling, der mit einer Wildgansschar über Land und Meer fliegen konnte."
"Als er oben auf der Uferböschung ankam, wandte er sich um und betrachtete die vielen Vogelscharen, die aufs Meer hinausflogen. Alle schrien ihre Lockrufe, nur eine Wildgansschar flog stumm davon ... und der Junge spürte eine solche Sehnsucht nach den Davonfliegenden, dass er fast wünschte, er wäre wieder Däumling, der mit einer Wildgansschar über Land und Meer fliegen konnte."
Ursprünglich sollte Nils Holgersson ein Schulbuch werden, um schwedischen Kindern ihre weite Heimat nahezubringen, aus der Vogelperspektive. Drei Jahre lang war die Autorin dazu durch Schweden gereist, bis an den Polarkreis; wie sie, die so Heimatverbundene, überhaupt viele Reisen unternahm, durch Italien, Ägypten, Palästina und, in späteren Jahren, zu politischen Versammlungen in halb Europa. Sie war überzeugte Pazifistin, und sie engagierte sich für die Rechte der Frauen. Kurz vor ihrem Tod, am 16. März 1940, verhalf Selma Lagerlöf Nelly Sachs zur Flucht aus Deutschland. Der jüdischen Dichterin rettete es das Leben.