750 Seiten in 54 Minuten
Der wichtigste deutsche Hörspielpreis wird seit 1951 für ein "Original-Hörspiel verliehen, das in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert". Bearbeitungen literarischer Vorlagen sind nur dann zugelassen, wenn aus ihnen ein selbstständiges radiophones Kunstwerk entstanden ist. Das aktuelle Preisträgerstück ist die Bearbeitung eines Buches, aber nicht die eines Romans, sondern die eines wirtschaftswissenschaftlichen Werkes aus dem Jahr 1867: "Das Kapital" von Karl Marx.
Rimini Protokoll: Karl Marx: Das Kapital. Erster Band
Sprecher: "Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. Ein Hörspiel von Helgard Haug und Daniel Wetzel - Rimini Protokoll."
Kuczynski: "Das Kapital ist ein wissenschaftliches Werk, es hat 750 Seiten, wie soll ich 750 Seiten herüberbringen in 54 Minuten? Natürlich, ich kann das Kapital durchblättern, nicht - alle 8 Sekunden muss ich umblättern, weil ich habe nur 4 Sekunden Zeit pro Seite, oder ich kann ja auch mal eine Zeile lesen: "Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert. Aber dieser ... " ja, wenn man's halbiert quasi" (halbiert wird eingespielt), "wenn man's viertelt, geht's vielleicht auch noch," (geviertelt wird eingespielt), "- aber auf 'ne Zehntelsekunde! - Das ist weg. Da ist gar nichts mehr da."
Lolette: ""Es ist ein innerer, unauflösbarer Widerspruch in dieses Projekt eingeschlossen: 'Karl Marx: Das Kapital, Band eins' ist ein Hörspiel und ist wieder keins, es will dieses Buch zum Gegenstand haben und kann mit diesem Vorhaben nicht gelingen, das Hörspiel findet statt und findet nicht statt."
Inspizient: "Achtung der Einlass läuft, offene Bühne. Der Einlass läuft. Die Beleuchtung bitte Stellwerk besetzen. Ton, bitte."
Helgard Haug: "Kapital war eben auch so 'n Thema wo wir erstmal uns gefreut haben, dass es auf einem Spielplan stehen wird, dass es in einer Hörspielbroschüre stehen wird, also allein, dass man dahin schreibt: 'Karl Marx: Das Kapital Erster Band' das ist einfach ein großer Spaß gewesen, sich das vorzustellen.
Ich glaub, der Motor für die Arbeit war schon das Gefühl, ein großes Defizit zu haben selber, also das Buch nicht zu kennen, das Kapital nicht im Studium gelesen zu haben oder nicht in der politische Arbeit kennengelernt zu haben, sondern um dieses Buch herumgekommen zu sein."
Sagt Helgard Haug (Jahrgang 1969) und neben Daniel Wetzel eine der Autorinnen des Hörspiels. Doch es ist nicht das Buch selbst, dass auf der Theaterbühne wie im Hörspiel seine Kraft entfaltet, sondern es sind die Experten des Alltags, die beschreiben, welche Rolle das "Kapital" in ihrem Leben gespielt hat, oder noch spielt. Da kommen ein Ex-Maoist, ein Ex-Gewerkschafter, ein blinder Callcenter-Agent, eine Übersetzerin und eine Prostituierte zu Wort. Schauspieler stehen beim "Kapital, Band Eins" nicht auf der Bühne oder vor dem Mikrophon.
Helgard Haug: "Also es sind ja immer gegenseitige Castingprozesse. Also die Protagonisten casten uns ja auch jeweils, also es ist ja nicht so, dass Herr Kuczynski darauf gewartet hat, dass wir kommen und sagen, jetzt müssen Sie mal auf einer Bühne stehen oder jeder andere auch in diesem Stück hat sich ja nicht beim Theater beworben und wollte auf der Bühne stehen."
Weder der Marx-Forscher Thomas Kuczynski, der an einer "idealen" Edition des "Kapitals" arbeitet noch der lettische Filmregisseur Talivaldis Margevics haben sich auf die Bühne gedrängt. Letzterer erzählte eher nebenbei, wie er als Kind einmal fast selbst zur Ware geworden wäre, nämlich als eine Polin ihn in den Nachkriegswirren seiner Mutter abkaufen wollte. Der Sachbuchautor Ulf Mailänder andererseits, der sich auf die Autobiographien von Wirtschaftskriminellen spezialisiert hat, demonstriert seine Entertainmentqualitäten gleich in einer Doppelrolle:
Rimini Protokoll: Karl Marx: Das Kapital. Erster Band
Mailänder: "Also Lolette, ich muss Ihnen jetzt mal was gestehen: ich bin gar nicht dieser Anlagebetrüger, als der ich mich eben ausgegeben habe."
Lolette: "Ist nicht wahr."
Mailänder: "Der heißt in Wirklichkeit Harksen und ich habe seine Autobiographie geschrieben."
Lolette: "Ich glaub das nicht."
Mailänder: "Na ja, mache Leute sind Hochstapler, und andere tun nur so."
Lolette: "Also, das ist nicht okay."
Helgard Haug: "Protokoll ist etwas, das nehmen wir ernst, also wir protokollieren, wenn wir Menschen treffen, also jetzt gar nicht faktisch mit Stift und Zettel oder Computer sofort dabei, sondern schreiben so innerlich mit. Und daraus werden Texte."
Und was passiert, wenn den Akteuren diese Texte dann zurückgespielt werden?
Helgard Haug: "Ja, wenn wir dann den Text zurückgeben, fängt eigentlich der Kampf an, weil dann wird entweder gesagt: 'So habe ich das aber überhaupt nicht gesagt' und dann geht es irgendwie darum, also entweder drauf zu bestehen, zu sagen, doch, doch, du hast das so gesagt oder Sie haben das so gesagt oder dann zu gucken, also wie würden sie es jetzt formulieren."
Rimini Protokoll: Karl Marx: Das Kapital. Erster Band
Mailänder: "Ich wollte es einfach haben. Ah - ich hasse diesen Satz. Weil er stimmt nicht - es stimmt einfach nicht. Dieser Satz ist so beschissen."
Lolette: "Würde ich genauso empfinden."
Mailänder: "Das ist doch ein peinlicher Satz. Habenwollen! Was ist denn Habenwollen. Das ist einfach Scheiße, wenn man was haben will, das ist pervers. Haben - haben. Meine Güte, weil ich eine Bibliothek habe und irgendwann dachte ich: in der Bibliothek stehen alle wichtigen Bücher und dazu gehört auch das Kapital. Aber dieses: Ich wollte es einfach haben."
Kuczynski: "Punkt."
Mailänder: "Nein, nein, nein, nein. Ich wollte es nicht haben, ich habe es einfach nur gekauft."
Kuczynski: "Na, dann sag das doch so."
Das Widerständige findet ebenso Eingang in das Hörspiel, wie auch seine Vorgeschichte als Theaterstück - sogar die Materialität des zugrunde liegenden Buches wird hörbar gemacht. Damit erfüllt "Karl Marx: Das Kapital Erster Band" von Rimini Protokoll die Forderung des Hörspielpreises der Kriegsblinden genau, nämlich in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert zu haben.
Sprecher: "Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. Ein Hörspiel von Helgard Haug und Daniel Wetzel - Rimini Protokoll."
Kuczynski: "Das Kapital ist ein wissenschaftliches Werk, es hat 750 Seiten, wie soll ich 750 Seiten herüberbringen in 54 Minuten? Natürlich, ich kann das Kapital durchblättern, nicht - alle 8 Sekunden muss ich umblättern, weil ich habe nur 4 Sekunden Zeit pro Seite, oder ich kann ja auch mal eine Zeile lesen: "Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert. Aber dieser ... " ja, wenn man's halbiert quasi" (halbiert wird eingespielt), "wenn man's viertelt, geht's vielleicht auch noch," (geviertelt wird eingespielt), "- aber auf 'ne Zehntelsekunde! - Das ist weg. Da ist gar nichts mehr da."
Lolette: ""Es ist ein innerer, unauflösbarer Widerspruch in dieses Projekt eingeschlossen: 'Karl Marx: Das Kapital, Band eins' ist ein Hörspiel und ist wieder keins, es will dieses Buch zum Gegenstand haben und kann mit diesem Vorhaben nicht gelingen, das Hörspiel findet statt und findet nicht statt."
Inspizient: "Achtung der Einlass läuft, offene Bühne. Der Einlass läuft. Die Beleuchtung bitte Stellwerk besetzen. Ton, bitte."
Helgard Haug: "Kapital war eben auch so 'n Thema wo wir erstmal uns gefreut haben, dass es auf einem Spielplan stehen wird, dass es in einer Hörspielbroschüre stehen wird, also allein, dass man dahin schreibt: 'Karl Marx: Das Kapital Erster Band' das ist einfach ein großer Spaß gewesen, sich das vorzustellen.
Ich glaub, der Motor für die Arbeit war schon das Gefühl, ein großes Defizit zu haben selber, also das Buch nicht zu kennen, das Kapital nicht im Studium gelesen zu haben oder nicht in der politische Arbeit kennengelernt zu haben, sondern um dieses Buch herumgekommen zu sein."
Sagt Helgard Haug (Jahrgang 1969) und neben Daniel Wetzel eine der Autorinnen des Hörspiels. Doch es ist nicht das Buch selbst, dass auf der Theaterbühne wie im Hörspiel seine Kraft entfaltet, sondern es sind die Experten des Alltags, die beschreiben, welche Rolle das "Kapital" in ihrem Leben gespielt hat, oder noch spielt. Da kommen ein Ex-Maoist, ein Ex-Gewerkschafter, ein blinder Callcenter-Agent, eine Übersetzerin und eine Prostituierte zu Wort. Schauspieler stehen beim "Kapital, Band Eins" nicht auf der Bühne oder vor dem Mikrophon.
Helgard Haug: "Also es sind ja immer gegenseitige Castingprozesse. Also die Protagonisten casten uns ja auch jeweils, also es ist ja nicht so, dass Herr Kuczynski darauf gewartet hat, dass wir kommen und sagen, jetzt müssen Sie mal auf einer Bühne stehen oder jeder andere auch in diesem Stück hat sich ja nicht beim Theater beworben und wollte auf der Bühne stehen."
Weder der Marx-Forscher Thomas Kuczynski, der an einer "idealen" Edition des "Kapitals" arbeitet noch der lettische Filmregisseur Talivaldis Margevics haben sich auf die Bühne gedrängt. Letzterer erzählte eher nebenbei, wie er als Kind einmal fast selbst zur Ware geworden wäre, nämlich als eine Polin ihn in den Nachkriegswirren seiner Mutter abkaufen wollte. Der Sachbuchautor Ulf Mailänder andererseits, der sich auf die Autobiographien von Wirtschaftskriminellen spezialisiert hat, demonstriert seine Entertainmentqualitäten gleich in einer Doppelrolle:
Rimini Protokoll: Karl Marx: Das Kapital. Erster Band
Mailänder: "Also Lolette, ich muss Ihnen jetzt mal was gestehen: ich bin gar nicht dieser Anlagebetrüger, als der ich mich eben ausgegeben habe."
Lolette: "Ist nicht wahr."
Mailänder: "Der heißt in Wirklichkeit Harksen und ich habe seine Autobiographie geschrieben."
Lolette: "Ich glaub das nicht."
Mailänder: "Na ja, mache Leute sind Hochstapler, und andere tun nur so."
Lolette: "Also, das ist nicht okay."
Helgard Haug: "Protokoll ist etwas, das nehmen wir ernst, also wir protokollieren, wenn wir Menschen treffen, also jetzt gar nicht faktisch mit Stift und Zettel oder Computer sofort dabei, sondern schreiben so innerlich mit. Und daraus werden Texte."
Und was passiert, wenn den Akteuren diese Texte dann zurückgespielt werden?
Helgard Haug: "Ja, wenn wir dann den Text zurückgeben, fängt eigentlich der Kampf an, weil dann wird entweder gesagt: 'So habe ich das aber überhaupt nicht gesagt' und dann geht es irgendwie darum, also entweder drauf zu bestehen, zu sagen, doch, doch, du hast das so gesagt oder Sie haben das so gesagt oder dann zu gucken, also wie würden sie es jetzt formulieren."
Rimini Protokoll: Karl Marx: Das Kapital. Erster Band
Mailänder: "Ich wollte es einfach haben. Ah - ich hasse diesen Satz. Weil er stimmt nicht - es stimmt einfach nicht. Dieser Satz ist so beschissen."
Lolette: "Würde ich genauso empfinden."
Mailänder: "Das ist doch ein peinlicher Satz. Habenwollen! Was ist denn Habenwollen. Das ist einfach Scheiße, wenn man was haben will, das ist pervers. Haben - haben. Meine Güte, weil ich eine Bibliothek habe und irgendwann dachte ich: in der Bibliothek stehen alle wichtigen Bücher und dazu gehört auch das Kapital. Aber dieses: Ich wollte es einfach haben."
Kuczynski: "Punkt."
Mailänder: "Nein, nein, nein, nein. Ich wollte es nicht haben, ich habe es einfach nur gekauft."
Kuczynski: "Na, dann sag das doch so."
Das Widerständige findet ebenso Eingang in das Hörspiel, wie auch seine Vorgeschichte als Theaterstück - sogar die Materialität des zugrunde liegenden Buches wird hörbar gemacht. Damit erfüllt "Karl Marx: Das Kapital Erster Band" von Rimini Protokoll die Forderung des Hörspielpreises der Kriegsblinden genau, nämlich in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert zu haben.