"No-Go-Areas" in der Kaiserzeit und heute
Vor 80 Jahren wurden von den Nazis die so genannten Nürnberger Gesetze verabschiedet und deutsche Juden systematisch aus Staat und Gesellschaft gedrängt. Und heute? Rassismus gibt es auch ohne entsprechende Gesetze, so der Tenor einer Konferenz in Berlin.
Die Nürnberger Gesetze seien ein beschämendes Beispiel für den deutschen Umgang mit dem "Dritten Reich" nach 1945, machte Heiko Maas gleich zu Beginn der Konferenz deutlich. Der Bundesjustizminister erinnerte in seinem Grußwort an Franz Maßfeller, jenen Beamten im Reichsjustizministerium, der das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes" formuliert und einen Kommentar zu den Rassegesetzen herausgegeben hatte.
Heiko Maas: "In diesem Kommentar schreibt Maßfeller - 'Reinheit des Blutes und Erbgesundheit des Deutschen Volkes sind die Voraussetzungen für den Bestand des deutschen Volkes. Während das Reichsbürgergesetz eine Scheidung fremden und deutschen Blutes nach politischen Gesichtspunkten ermöglicht, wollen die Rassengesetze die Zukunft der Nation in volksbiologischer Hinsicht auf Geschlechter hinaus sichern.'"
Während die Rassengesetze wenige Monate nach Kriegsende vom Alliierten Kontrollrat für ungültig erklärt wurden, konnte Maßfeller unbehelligt seine Karriere fortsetzen: im Bundesministerium der Justiz der neu gegründeten Bundesrepublik.
"Bis 1964 war Maßfeller dort als Ministerialrat tätig. Und wofür war er zuständig? Er leitete das Referat für Familienrecht und Personenstandsrecht."
Ideologische Wurzeln des Nationalsozialismus wirken weiter
Solche Kontinuitäten standen bei der eher historisch ausgerichteten Tagung zwar nicht im Mittelpunkt, und doch wurde immer wieder deutlich, dass die ideologischen Wurzeln des Nationalsolizialismus eben nicht nur Geschichte sind.
"Rassismus gibt es, auch wenn es keine Rassengesetze gibt, das ist ja ein Problem, mit dem wir uns in Deutschland ganz aktuell auseinandersetzen, und deshalb muss die Justiz dort sehr aufmerksam sein, und deshalb haben wir zum Beispiel vor wenigen Monaten das Strafgesetzbuch verändert und darauf hingewiesen, dass fremdenfeindliche, rassistische oder ansonsten menschenverachtende Motive bei der Strafzumessung stärker berücksichtigt werden müssen."
Dass Rassismus in Deutschland nicht der Vergangenheit angehört, davon ist auch Frank Bajohr überzeugt. Der Historiker vom Institut für Zeitgeschichte in München machte in seinem Vortrag deutlich, dass die Juden im Deutschen Reich längst VOR den Nürnberger Gesetzen – und der Machtübernahme der Nationalsozialisten überhaupt - ausgegrenzt wurden. Auf manchen Nord- und Ostseeinseln schlug ihnen genauso offener Antisemitismus entgegen wie in bayerischen Kurorten.
"Ich habe in meinem Vortrag den Begriff der 'No-Go-Area' verwandt, also ein Ort, an dem man theoretisch sein kann, aber wo es nicht unbedingt opportun ist, vielleicht zu sein, also als Jude tat man gut daran, schon um die Jahrhundertwende bestimmte Erholungsorte zu meiden, die als antisemitisch galten. Ich würde heute mit einem farbigen Freund vielleicht nicht Urlaub in der Sächsischen Schweiz machen, also ich würde mich zumindest fragen, könnten wir da mit Phänomenen konfrontiert sein, die wir nicht erleben wollen."
Die Konsequenz auf Seiten der diskriminierten Minderheiten sei oft: Orte und Situationen meiden!
"Zwar darf ich formal dorthin gehen, aber ich tue es nicht, um unliebsame Vorfälle zu vermeiden, um sicher zu sein, nicht angepöbelt zu werden, und das ist natürlich eine entsprechende Kontinuität zu Phänomenen, wie wir sie immer schon hatten und wie sie, wie die Nürnberger Gesetze zeigen, dann auch noch staatlicher Weise nicht nur sanktioniert, sondern im Gegenteil auch noch massiv gefördert werden, solche Phänomene."
Heute zeigen sich Rechtspopulisten eher islam-feindlich
Und doch warnt Bajohr davor, vorschnell eine klare Kontinuitätslinie von den Nürnberger Rassegesetzen ins Heute zu ziehen: Die Nürnberger Gesetze zielten eindeutig auf den Ausschluss der Juden aus dem deutschen Volk ab, heute würden andere ausgegrenzt.
"Die großen rechtspopulistischen Bewegungen in Europa stellen nicht mehr den Antisemitismus in den Mittelpunkt, weil sie auch sehen, dass damit kein Blumentopf zu gewinnen ist, sondern sind stark gegen Muslime eingestellt, eine massive Islam-Feindlichkeit, die sich mit so genannter Fremdenangst paart, und als mobilisierendes Element, man denke nur an die Pegida-Bewegung, hier instrumentalisiert wird."
Pegida allerdings ist in Deutschland längst ins gesellschaftliche Abseits gedrängt, mag man einwenden. Doch das übersieht, dass Ausgrenzung und Diskriminierung nicht nur an den Rändern der Gesellschaft ausgeübt werden, sondern tief in staatlichen Strukturen steckten, gibt Christoph Kreutzmüller von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz zu bedenken.:
"Bei den Nürnberger Gesetzen ist es natürlich, das ist ein Apartheidsregime, das dann etabliert wird, dass einer Bevölkerungsschicht verschiedene Wertigkeiten zugemessen werden durch eine Verwaltung, auch das ist etwas, worüber Verwaltung heute nachdenken muss, welche Wertung haben welche Bevölkerungsgruppen, darüber kann man am historischen Beispiel diskutieren und kann das dann transferieren auf die Frage, wie unterscheidet ihr denn, wer kriegt denn zuerst welchen Wohnraum, wenn wir jetzt über die Flüchtlingsproblematik nachdenken."
Verwaltungen müssen ihr Handeln reflektieren
Um nicht auszugrenzen oder zu diskriminieren, müssten Verwaltungen Entscheidungen nach dem Kriterium der Dringlichkeit treffen.
"Die Verwaltung, und wir mit der Verwaltung müssen natürlich reflektieren, was sind die Grundlagen. Ist es: 'Eine Mutter hat ein junges Kind'? Ist es: 'Flüchtling ist katholisch'? 'Mutter mit jungem Kind' würden wahrscheinlich alle unterschreiben, das ist wahrscheinlich ein vernünftiges Kriterium. 'Katholisch', was jetzt gerade in Polen passiert, ist vielleicht was anderes, ist ganz bestimmt etwas anderes - nur katholische Flüchtlinge ins Land reinzulassen."
Und so sind die Nürnberger Gesetze 80 Jahre nach ihrer Verabschiedung längst Geschichte, doch die Fragen nach Ausgrenzung einzelner Menschen und Gruppen aus Gesellschaft und Staat gewinnen immer wieder eine neue Aktualität.