80. Todestag von Edith Stein

Vordenkerin der Empathie

05:55 Minuten
Porträt von Edith Stein.
Einfühlung und Differenz: Angeregt durch Edmund Husserls Phänomenologie entwickelte Edith Stein eine Theorie der Empathie. © picture alliance / akg-images
Von Luca Rehse-Knauf |
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Erinnert wird sie oft als katholische Heilige. Doch die Philosophin Edith Stein entwickelte auch eine wegweisende Theorie der Einfühlung – die heute dabei hilft, digitale Kommunikation zu verstehen. Vor 80 Jahren wurde sie in Auschwitz ermordet.
„Schlag an den Stein, und Weisheit springt heraus“. So soll der Schuldirektor auf der Abiturfeier Edith Steins außerordentliche Leistungen kommentiert haben. Ihre intellektuelle Begabung macht sich früh in recht einseitig intellektuellen Interessen bemerkbar, zur Sorge der jüdischen Mutter.

Interessiert am Wesen des Menschen

Statt fromm ist sie nur wissbegierig, statt sich zur Religion zu bekennen, nennt sie sich schon in jungen Jahren Atheistin. Sie interessiert sich für das Wesen des Menschen und fängt ein Psychologiestudium an. Ihre Eigenart, alles und jeden zu hinterfragen, schlägt sich auch hier nieder und sie merkt schnell:
„Mein ganzes Psychologiestudium hatte mich ja nur zu der Einsicht geführt, dass diese Wissenschaft noch in den Kinderschuhen stecke, dass es ihr noch an dem notwendigen Fundament geklärter Grundbegriffe fehle und dass sie selbst nicht imstande sei, sich diese Grundbegriffe zu erarbeiten.“

Inspiriert vom Lehrer Husserl

„Manches Mädchen träumt von Busserl, Edith aber nur von Husserl“ dichten ihre Freundinnen und machen sich so auf freundliche Weise über Edith Steins Begeisterung für den Göttinger Philosophieprofessor Edmund Husserl lustig. Ein Freund empfiehlt ihr Husserls „Logische Untersuchungen“ und berichtet von der akademischen Stimmung in Göttingen. Überall werde philosophiert, Tag und Nacht, beim Essen und auf der Straße, man spreche nur noch von „Phänomenen“.
Phänomene sind das, was uns in unserem subjektiven Bewusstsein direkt gegeben ist. Husserls Phänomenologie will in diesem Sinne „zu den Sachen selbst“ gehen.

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„Man abstrahiert von theoretischen Vorannahmen – daher das Schlagwort 'zu den Sachen selbst' – und blickt darauf, wie Interaktionen, wie der Leib, andere Gefühle, wie eigene Gefühle, Erinnerungen und so weiter einem selbst erscheinen“, erklärt der Philosoph Thomas Szanto, Professor an der Universität Kopenhagen. Er forscht zur Phänomenologie und zu Edith Steins Theorien.

Nähe und Distanz zum Anderen

Die neue Philosophie der Phänomenologie ist genau das philosophische Grundgerüst, nach dem Edith Stein gesucht hat. Buchstäblich angezogen von den Ideen Husserls geht sie nach Göttingen und wird bald schon zu Husserls Musterschülerin und Assistentin.
In ihrer Dissertation entwickelt sie eine phänomenologische Theorie der Einfühlung. Die Frage ist, wie wir andere verstehen in ihren Wünschen, Absichten, Gefühlen und so weiter. In Abgrenzung zu Theorien, die diese Einfühlung dadurch erklären, dass man sich mit anderen identifiziert oder sich in sie hineinversetzt, zeichnet Edith Steins Ansatz unter anderem aus, dass wir stets zwischen uns und dem Anderen unterscheiden.
„Das heißt in der Einfühlung bin nicht ich mir selbst gegeben und projiziere meine eigenen Zustände auf den anderen, oder versuche aus meinen eigenen Gefühlen Schlüsse zu ziehen – kognitiv komplizierte Prozesse –, sondern ich erfasse den anderen als Anderen und diese Differenz zwischen uns bleibt bestehen", erläutert Thomas Szanto. "Das ist ganz wesentlich zu betonen, dass Einfühlung Differenz nicht einebnet, sondern diese Differenzen auch hervortreten lässt zuallererst.“

Emojis als erweiterte Körpersprache

Steins systematische Theorie der Einfühlung wird auch heute noch benutzt, etwa um soziale Kognition im Autismus zu erklären. Auch lassen sich damit Teile der virtuellen Kommunikation verständlich machen: Wie erklärt man das komplexe Verstehen der Anderen, wenn man etwa bloß mit ihnen chattet?
„Es gibt neueste Forschungen, die auf Stein direkt aufbauen und zeigen, dass Emojis zum Beispiel als eine Art symbolisch erweiterte Körpersprache gesehen werden können und auch sollten", so Szanto, "sogar Dynamiken wie man hin und her textet, Geschwindigkeiten wie man hin und her textet – das sind alles neue Arten und andere Arten als der direkte leibliche Austausch, die aber sehr wohl aufgefasst werden können, als eine Art erweiterter leiblicher Ausdruck."
Steins Theorie der Einfühlung helfe, diese Kommunikationsformen wesentlich besser zu verstehen, "als wenn man auf Spiegelneuronen aufbauen würde oder auf komplexe mentale Modelle und Theorien des Geistes, wo es schwerer zu verstehen ist, wie das funktionieren soll mit neuen Medien etwa“, unterstreicht Szanto.

Wandlung zur Ordensschwester

Nicht nur Steins Denken, sondern auch ihre bewegte Biografie inspiriert die Menschen bis heute. Später im Leben wandte sie sich von der Phänomenologie ab, ließ sich katholisch taufen, trat ins Kloster der Karmelitinnen ein und machte sich mit Vorträgen und Veröffentlichungen auch dort einen Namen.
Trotz religiöser Distanz fühlte sie sich dem jüdischen Volk sehr nahe. Umso härter traf sie die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Nach der Reichskristallnacht flüchtete die geborene Jüdin in die Niederlande. Im August 1942 wurde sie wie viele geflohene Jüdinnen und Juden von der SS gefasst und nach Auschwitz deportiert.
Laut überlebenden Zeitzeugen war sie dort im Reinen mit sich und ihrem Glauben, kümmerte sich um die Kinder verzweifelter Frauen und Männer und stiftete Ruhe in der Panik. Jahre nach ihrem Tod sprach Papst Johannes Paul II. sie heilig. Ihre in die USA emigrierte Schwester sagte dazu: Eine lebende Schwester wäre ihr lieber gewesen als eine tote Heilige.
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