Gestern unterdrückt, heute national
21:44 Minuten
Nach jahrhundertelanger muslimischer Regentschaft und britischem Kolonialismus ist Indien seit 74 Jahren unabhängig. Die Regierungspartei BJP setzt auf Hindu-Nationalismus, kämpft gegen jeden „fremden“ Einfluss. Ist das eine späte Entkolonisierung?
Rund 40 Minuten braucht die Metro von Delhi nach Faridabad. Eine Industriestadt mit 1,4 Millionen Einwohnern. Hier wohnt Abhishek Sharma. Der 32-jährige hat Hotelmanagement gelernt und arbeitet seit fünf Jahren als Reiseführer. Er hat sich in die wechselvolle Geschichte der indischen Hauptstadt eingelesen und kennt ihre zahlreichen Monumente.
Abhishek – in dunkler Jeans und grauem Hemd – schlendert durch eine schmale Gasse eines dörflich anmutenden Viertels. Eine Kuh käut wieder, ein Gemüsehändler schiebt seinen Karren mit Tomaten, Zwiebeln und grünen Chilis vorbei.
"Das ist lustig für uns"
Abhisheks Familie ist gerade für einen Monat ins heimatliche Dorf im Himalaja zurückgekehrt. Aber die befreundeten Nachbarn, die sind da.
"Normalerweise machen die Menschen hier andere Jobs. Seine Arbeit als Fremdenführer ist unüblich. Sein Bruder ist IT-Ingenieur. Ich bin auch Ingenieur. Deshalb ist das lustig für uns", sagt Manoj Sharma
Er sitzt in seinem Wohnzimmer auf einer Couch, er arbeitet als Elektroingenieur bei dem indischen Automobilunternehmen Maruti. Abhishek, fügt er hinzu, kenne sich dafür gut mit der indischen Geschichte aus.
"Abhishek hat hart dafür gearbeitet. Ich weiß beispielsweise kaum etwas über die britische Herrschaft, obwohl wir es in der Schule gelernt haben. Aber er braucht das Wissen jetzt für seinen Job."
Zwischen dem Fluss Yamuna und dem Markt Chandni Chowk in Old Delhi. Abhishek steht direkt vor dem Roten Fort, einer symmetrisch angelegten Festung aus rotem Sandstein.
"Die meisten Menschen kennen diesen Teil der Stadt als Old Delhi", erklärt er. "Sogar Inder kennen den echten Namen der Stadt nicht. Er wurde von den Briten entfernt, weil es ein schwierig auszusprechender Name war und mit der Mogulherrschaft verknüpft ist. Aber Shahajahanabad ist der richtige Name des Ortes, an dem wir hier stehen."
Old Delhi ist eigentlich nach dem muslimischen Mogulherrscher Shah Jahan benannt. Er ließ das heutige Unesco-Weltkulturerbe erbauen als er 1638 beschloss die Hauptstadt von Agra nach Delhi zu verlagern.
Delhi - gut gelegen, heftig umkämpft
Abhishek nennt – hinter seinem schwarzen Mund-Nase-Schutz aus Baumwolle – die wichtigsten Eckdaten: Mehr als 600 Jahre lang regierten muslimische Dynastien Indien. Ab dem 13. Jahrhundert zunächst als Herrscher des Sultanats von Delhi, ab 1526 dann als Kaiser des Mogulreichs.
Der letzte Mogulkaiser wurde 1858 von den Briten abgesetzt. Da Delhi strategisch günstig liege, fährt der Touristenführer fort, sei die Stadt schon immer umkämpft gewesen.
"Delhi war auch als Stadt der Mauer bekannt. Warum? Sie war von Mauern umgeben. Zum Schutz wurden um die ganze Stadt Mauern gebaut. Und es gab 14 Tore, die nach ihrer Lage benannt wurden. So wie zum Beispiel das Kaschmir-Tor", erzählt Abhishek.
Das Kashmir Gate, ein großes Tor mit zwei Durchgängen wurde – wie auch Old Delhi – von dem Mogulkaiser Shah Jahan erbaut. Die Baustruktur, von etwas Grün umgeben, umzäunt und bewacht, verschwindet beinahe im Trubel der Stadt. Die Besuchszeit ist vorbei, ein muffeliger Polizist schließt ein großes Metalltor mit einer Kette zu.
Das Tor liegt im Norden der Stadt. Von hier aus führt eine Straße in Richtung der umstrittenen Kaschmir-Region im Himalaja. "Damals gab es regen Handel zwischen Kaschmir und Delhi. Die Menschen verkauften Trockenfrüchte, Paschmina-Wolle und vieles mehr."
Herrschten über Indien: Mogulkönige und Briten
Was denken die Einwohner Delhis über die Denkmäler ihrer Stadt? Kennen sie die Geschichte der Gebäude? Madan Lal Jain trägt eine Aktentasche in der Hand und schließt gerade sein Fahrrad auf.
"All diese Baudenkmäler befinden sich in einem Umkreis von 100 Metern. Das ist ein sehr guter Ort für Touristen. Erst wurden die Gebäude von den Mogulkönigen gebaut und dann haben die Briten darüber geherrscht. Außerdem haben die Briten weitere Gebäude hinzugefügt", sagt er.
Einige Meter weiter kauft Vir Singh, ein Mann mit Turban, an einem Gemüsestand frische Mangos.
"Die Gebäude sind gut, aber die Mogulkaiser haben den falschen Weg gewählt, sie zu bauen", sagt er. "Sie haben Menschen aller religiöser Gemeinschaften gefoltert. Kennen sie Aurangzeb? Jeder kennt Aurangzeb. Er herrschte einst über Indien und war besonders grausam. Deshalb verbinde ich auch unangenehme Gefühle mit dieser Gegend der Stadt."
Abhishek nickt.
"Das Negative war, dass unsere Kultur in jener Zeit zerstört wurde. Während der muslimischen Invasion gab es religiös motivierte Zusammenstöße, weil jeder sich für überlegen hielt."
So etwas soll nie wieder passieren
Die muslimische Herrschaft sei für die hinduistische Religion verhängnisvoll gewesen, erklärt der Fremdenführer, die britische hingegen habe den Hinduismus nicht zerstört, dafür das Land wirtschaftlich ausgeplündert.
Doch dann hellt sich seine Miene auf. Das Gute an der Fremdherrschaft sei schlussendlich gewesen, dass Indien nun geeint und unabhängig sei.
Und: "Auf das, was in der Vergangenheit geschehen ist, haben wir keinen Einfluss mehr. Aber die Vergangenheit kann Einfluss darauf haben, wie wir über die Zukunft denken. Das Einzige, was man sich wünscht, ist, dass so etwas nicht noch einmal passiert."
Der Film "Lagaan", übersetzt "Agrarsteuer" spielt 1893 in einem kleinen indischen Dorf zur Zeit der britischen Herrschaft. Captain Andrew Russell fordert den Bauern Bhuvan zu einem Cricketspiel heraus.
Der Deal ist Folgender: Gewinnen die Bauern das Spiel, erlässt der Captain für drei Jahre ihre Agrarabgaben. Verlieren sie jedoch, müssen sie die dreifachen Steuerabgaben zahlen. Am Ende gewinnt die indische Kricket-Mannschaft und Captain Andrew Russell wird nach Zentralafrika versetzt.
Wie geht Indien mit diesen Erfahrungen um?
Der Film zeigt deutlich, mit welchen Methoden die Briten in Indien herrschten: von kleinen überheblichen Sticheleien, über sadistische Gemeinheiten bis zur brutaler körperlicher Gewalt.
Der indische Autor Shashi Tharoor veröffentlicht 2016 das Buch "Ära der Dunkelheit" und beschreibt wie die Briten die einheimische Wirtschaft – etwa Textilindustrie oder Schiffsbau – zerstörten. Wie sie ihre zynische Überlegenheit zur Schau stellten, auch vor Folter nicht zurückschreckten und den Reichtum Indiens abschöpften und nach Großbritannien schafften. Wie geht eine Gesellschaft mit solchen Erfahrungen um?
"Die Kolonialherrschaft ist zu Ende, aber es gibt noch Relikte aus jener Zeit, die entfernt werden müssen. So wie man zu einem Zahnarzt geht, der einen kranken Zahn zieht. Der Prozess läuft, die Arbeiten sind noch unfertig. Das Land hat viel durchgemacht," sagt Tom Vadakkan, Sprecher der indischen Regierungspartei BJP.
Der 58-Jährige stammt aus dem südindischen Bundesstaat Kerala. Die BJP setzt dem Trauma der Fremdherrschaft die Beseitigung ihrer Spuren entgegen. Etwa durch das Umbenennen von Städten. So wurde aus dem britischen Bombay – Mumbai, und aus dem muslimischen Allahabad – Prayagraj.
Ein weiterer Schritt ist die Wiederherstellung ehemaliger heiliger Stätten wie etwa in der Stadt Ayodhya, wo eine Moschee einem Ram-Tempel weichen muss. In Varanasi droht der Gyanvapimoschee ein ähnliches Schicksal. Auch das groß angelegte Sanierungsprojekt des indischen Regierungsviertels, ehemals von den Briten erbaut, gilt vielen als das schrittweise symbolische Abschütteln der britischen Unterdrückung.
Vadakkan lässt sich Zeit beim Reden, macht öfter mal Pausen. Er fordert, dass die indische Geschichte überarbeitet werden müsse. "Bisher ist es eine Geschichte der Erfolgreichen. Die tatsächliche Geschichte kommt nie heraus. Die andere Seite der Geschichte. Die gegenwärtigen Kapitel der indischen Geschichte sind von bestimmten ideologischen Denkprozessen beeinflusst.
Was aktenkundig geworden ist, ist die Gedankenwelt eines bestimmten Teils der Gesellschaft. Wir müssen die Ideen die über die letzten 70 Jahre entworfen worden sind, nachprüfen und überdenken."
Propaganda, Fehler die in der Vergangenheit gemacht wurden und eine falsch angewandte Beschwichtigungspolitik gegenüber der muslimischen Gemeinschaft – darüber könnte der Vertreter der Partei von Premier Narendra Modi stundenlang philosophieren.
Die Schuld dafür gibt er der Kongresspartei, die seit der Unabhängigkeit – bis zum Wahlsieg der BJP im Jahr 2014 – regiert hat. Die Frage nach konkreten Fehlern beantwortet der Mann mit dem Schnauzbart nebulös:
"Wenn man die Geschichte nicht kennt, läuft man Gefahr, sie zu wiederholen. Wir brauchen ein eigenverantwortliches Land, das seine eigenen Interessen vertreten kann, ohne von internationalen Machtzentren dominiert zu werden."
Von einer durch die BJP geförderten muslimfeindlichen Atmosphäre im Land will er nichts wissen. Das sei Propaganda der Opposition. Und gewaltbereite rechtsradikale Randgruppen gebe es überall auf der Welt. Da sei die BJP keine Ausnahme.
"Es gibt niemals reine Hindus oder reine Muslime"
"Man kann Geschichte nicht nur unter religiösen Gesichtspunkten verstehen. Geschichte hat viele Facetten, viele Dimensionen. Etwa die ökonomische, politische, kulturelle und soziale Dimension. Essgewohnheiten, Sprachen und vieles mehr. Ja, es gab religiöse Konflikte, sicherlich, aber es gab weitaus mehr als nur religiöse Konflikte", sagt Harbans Mukhia.
Er hat sich insbesondere mit dem indischen Mittelalter auseinandergesetzt. Eine Zeit, so der Professor für Geschichte, die von den Mogulherrschern geprägt und für den Subkontinent – ökonomisch wie kulturell – sehr erfolgreich war. Im frühen 19. Jahrhundert, als das Mogulreich langsam zerfiel, habe Indiens Bruttoinlandsprodukt 25 Prozent des Weltanteils ausgemacht.
Das Problem sei, sagt der 82-Jährige mit der tiefen doch nicht alt klingenden Stimme, dass sich die BJP – obwohl sie aus dem Schatten der Kolonialmacht heraustreten wolle – noch immer ausgerechnet auf die Idee eines britischen Historikers namens James Mill berufe. Der hatte die indische Geschichte in eine hinduistische, muslimische und britische Periode eingeteilt und damit alles auf die Religion reduziert. Die BJP wiederum versuche, so Mukhia, die indische- auf eine Hindu-Identität einzugrenzen.
Doch das funktioniere nicht. "Es gibt immer eine Mischung. Es gibt niemals reine Hindus, reine Muslime, reine Inder, wer auch immer. Die ganze Welt, die ganze Menschheit besteht immer aus einer Mischung von Zutaten."
Der in diesem Jahr vom Online-Magazin "Wire" veröffentlichte Dokumentarfilm "Qutub" fragt, was uns die Überreste stummer Denkmäler erzählen können. Welche Geschichten schlummern in ihnen und inwieweit spiegeln sie die Realität oder nähren doch eher die Fantasie? Eine Sequenz der Dokumentation zeigt die Informationstafeln für Besucher der Quwwat-ul-Islam-Moschee in Neu-Delhi.
Auf ihnen steht geschrieben: "Die Säulen und anderes Material für den Bau der Moschee wurden 27 Hindu- und Jain-Tempeln entnommen, die zerstört wurden. Obwohl die religiösen Texte, die in die Nischen der Moschee eingraviert sind, auf Arabisch geschrieben sind, zeugt der Bau von der Handwerkskunst der Hindus."
Ist die muslimisch-indische Geschichte zwangsläufig mit dem Niedergang der Hindu-Zivilisation verbunden? Der Produzent des Films, Hilal Ahmad, ist Professor am Center for the Study of Developing Societies, einer Denkfabrik, die sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen in Indien auseinandersetzt.
Das Ausschlachten des Traumas für politische Ziele
Der 50-Jährige mit der großen, dunklen Brille, bestreitet weder, dass Hindu-Tempel zerstört wurden, noch dass es ein Trauma gibt. Aber in Indien hätten immer verschiedene Arten existiert, damit umzugehen, sagt er nachdenklich.
Während der Unabhängigkeitskämpfer Mahatma Gandhi und der Politiker Jawaharlal Nehru inklusiv dachten, Indien als Schmelztiegel für alle Religionen verstanden und die Zukunft im Blick behielten, hätten andere versucht, das Trauma wiederzubeleben.
"Die indische Rechte, vor allem die Hindu Mahasabha Partei in der Vergangenheit, dann ihre Nachfolge-Partei Jana Sangh von 1952 bis 1980 und heute die Regierungspartei BJP, haben eine ganz andere Vorstellung von Trauma", sagt er.
"Sie beschäftigen sich vor allem damit, die Vergangenheit in seinem Licht zu reflektieren, und es dann durch bestimmte Handlungen zu beseitigen."
Ahmad kritisiert die BJP dafür, dass sie Trauma und Opferrolle der Hindus für ihre politischen Ziele ausschlachte. Das ermögliche ihr, Wählerstimmen zu gewinnen und eine islamfeindliche Politik durchzusetzen.
Historisch betrachtet sei die BJP aber nicht die einzige Partei gewesen, die versucht hätte, aus dieser Situation der Hindus politisches Kapital zu schlagen. Der Politikwissenschaftler kritisiert auch die Interpretationen säkularer Historiker.
"Sie waren von ihrer eigenen kompletten Ablehnung der BJP so begeistert, dass sie begonnen haben, nicht nur die muslimische Herrschaft, sondern auch deren Herrscher zu feiern", erklärt er.
"Wenn man beispielsweise die Bücher der letzten 20 bis 25 Jahre ansieht, wird darin argumentiert, dass der als grausam bekannte Aurangzeb gar nicht so schlimm gewesen sei, wie er oft dargestellt werde. Darin sehe ich ein ernstes Problem."
Die Bevölkerung wird instrumentalisiert
Unmenschlichkeit, sagt Hilal Ahmad mit eindringlicher Stimme, müsse als solche benannt und verurteilt werden. Auch in der muslimischen Bevölkerung sei der Herrscher Aurangzeb extrem unbeliebt gewesen.
Aber: Die hinduistische und muslimische Bevölkerung habe heute keine Probleme miteinander. Die Hindus hätten verstanden, dass ihnen der "normale Muslim" nie feindlich gesinnt war. Seit jeher seien es vor allem die Eliten, die um die Macht kämpften und die Bevölkerung für ihre politischen Ziele instrumentalisierten.
Zurück in Faridabad, der Industriestadt bei Delhi. Im Wohnzimmer des Elektroingenieurs Manoj Sharma, dem Nachbarn von Abhishek, dem Fremdenführer. In einer Ecke des Zimmers thront in einem kleinen Schrein der Gott Krishna, eine kleine goldene Figur. Früher, sagt Manoj, sei Indien in Asien als ein "goldener Spatz" bezeichnet worden. Aber diesen Reichtum hätten die Briten davongetragen.
Seine Frau Puja fügt hinzu, dass sie wegen denen ja auch Englisch lernen mussten. Doch das sei jetzt nützlich, weil sie in englischsprachige Länder auswandern könnten. Alle nicken.
Dann fügt Manoj hinzu: "Wir sind doch sehr mit unserem alltäglichen Leben beschäftigt. Das war unsere Geschichte und wir haben sie irgendwie vergessen. Wir halten unsere Jobs und Familien am Laufen und arbeiten viel. Ich gehe morgens um halb fünf aus dem Haus und komme abends um sechs wieder."
Die Entwicklung in Afghanistan beunruhigt
Anders als sein Freund Abhishek habe er einfach keine Zeit, um sich Gedanken über die Geschichte zu machen. Seine Frau Puja steht auf, verschwindet in der Küche und kommt mit gefüllten Teigtaschen und Cola wieder. Abhishek nimmt eine von den leckeren Taschen, beißt hinein und runzelt die Stirn.
Er interessiert sich nicht nur für Geschichte, sondern auch für Tagespolitik. Dass die radikal-islamischen Taliban in Afghanistan wieder die Macht übernommen haben, beschäftigt ihn. Es ist ein offenes Geheimnis, dass China und Indiens Erzfeind Pakistan durch die Ereignisse in Kabul gestärkt werden.
Die Angst vor Isolation geht um – nicht nur in Delhi. Und die Angst vor den Folgen, die die Entwicklung auch für die Muslime auf dem Subkontinent haben könnte. 1000 Kilometer Entfernung zwischen Kabul und Delhi, aber in Wirklichkeit viel näher als es Abhishek und seinen Freunden lieb sein kann.