9/11 in den USA

Das fragwürdige Narrativ vom nationalen Trauma

04:34 Minuten
Bronzefigur eines aufgeschlagenen Buches mit den Namen der Opfer von 9/11. Vor dem Buch die Figur eines Mädchens, dass einen Teddy hält. Darüber die Figur eines Adlers. Im Hintergrund ist die Silhouette von New York zu sehen. Eagle Rock Reservation, New Jersey, USA.
Das nationale Trauma-Narrativ tat vor allem der im Abstieg befindlichen amerikanischen weißen Mittelklasse gut, meint Christina Cavedon. © imago / Joseph Sohm
Ein Standpunkt von Christina Cavedon |
Audio herunterladen
Dass die Anschläge vom 11. September sehr schnell als "nationales Trauma" tituliert wurden, sei der US-Politik sehr recht gewesen, meint die Literaturwissenschaftlerin Christina Cavedon. Denn so habe man den anschließenden "War on Terror" begründen können.
Die Inszenierung von 9/11 als nationales Trauma wurde schon am Tag der Anschläge von den amerikanischen Massenmedien vorgegeben. Nur sechs Stunden nach dem Zusammensturz des zweiten Zwillingsturms sendete CNN unter dem Titel "America under Attack" einen mit dramatischer Musik unterlegten Zusammenschnitt der ikonischen Anschlagsbilder.
Da diese Aufnahmen keine individuell erkennbaren Opfer mehr zeigten, dienten sie fortan der symbolhaften Bebilderung sämtlicher Berichterstattung zu 9/11 und seiner Folgen. Als Endlosschleife wiederholt, wurden diese Fernsehbilder zum Symbol einer Traumatisierung.


Doch diente dieses Evozieren eines nationalen Traumas nicht einer Auseinandersetzung mit der eigenen Verwundbarkeit. Am 14. September wurde bei CNN aus "America under Attack" – "America’s New War", also Amerikas neuer Krieg.
Die Paarung der zunehmend propagandistischen Reden von Vertretern der Bush-Regierung mit dem visuellen Verweis auf 9/11 als potenziell traumatisierendes Ereignis diente dem Narrativ eines unbeugsamen Amerikas – stets bereit, es mit jedem Feind aufzunehmen.
George W. Bush fiel dabei die Rolle eines amerikanischen "Heros" in Manier von Hollywoods Actionfilmen zu. Wenige Tage nach den Anschlägen erklärte er: "Wir werden sie aus ihren Löchern räuchern. Wir werden sie in die Flucht schlagen, und wir werden sie vor Gericht bringen."

Die Invasionspläne lagen schon in der Schublade

Die Verknüpfung von Trauma und Landesverteidigung nahm so bizarre Formen an, dass 2003 Debatten um einen Krieg im Irak von den bekannten 9/11-Terror-Bildern begleitet wurden, obwohl nicht einmal die US-Regierung das Regime von Saddam Hussein mit den Anschlägen in Zusammenhang brachte.
Dem politisch-militärischen Komplex der USA kam die Symbolik des Traumas nur gelegen. Die Invasionspläne der Neocons lagen schon seit Jahren in der Schublade. Mit Sätzen wie, dass sie für die Umsetzung ihrer Pläne "ein katastrophales … Ereignis, wie ein neues Pearl Harbor brauchen", sehnten sie sich ein Trauma nationalen Ausmaßes geradezu herbei.
Zehn Jahre nach den Anschlägen von New York räumte US-Präsident Barack Obama nach der Tötung Osama bin Ladens in einem Interview erstmals ein, dass 9/11 ein "außergewöhnliches Trauma für das ganze Land war".
Es war das erste Mal, dass ein amerikanischer Präsident den Begriff Trauma im Zusammenhang mit den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 benutzte. Denn die politische Führung konnte sich zu dem 9/11-Trauma offiziell erst bekennen, nachdem die USA durch den Tod Bin Ladens ihrem Wunschbild entsprechen konnten, stets wie ein Phönix aus der Asche aufzusteigen.
Dieses Narrativ tat vor allem der im Abstieg befindlichen amerikanischen weißen Mittelklasse gut. Denn sie konnte bis dahin kein eigenes Trauma für sich reklamieren. Die Debatten um unterschiedlichste gesellschaftliche Traumata, die bereits die 90er-Jahre prägten, betrafen bis dahin vor allem Minoritäten wie schwarze oder indigene Amerikaner.

Ein Trauma für die amerikanische weiße Mittelklasse

Besonders deutlich zu vernehmen sind die Stimmen der Verlierer innerhalb der weißen Mittelschicht seit der Präsidentschaft von Donald Trump. Sie sehen ihre Grundwerte unter Beschuss einer mächtigen demokratischen Elite, welche die Werte Amerikas nicht mehr verteidige.
Gefürchtet wird nun aber nicht mehr ein Trauma ausgelöst durch den Angriff eines Feinds von außen. Trumps Anhänger sehen sich als Opfer eines inner-amerikanischen Kulturkampfes, der die Nation zerreißt.
9/11 hätte für die USA eine Chance zur Introspektion werden können. Wichtige Fragen wären gewesen: Wieso ist gerade uns das passiert? Welche unserer Werte wurden angegriffen und wie verteidigen wir diese? Auch 20 Jahre später bleibt diese Chance ungenutzt.

Christina Cavedon ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Ihre Dissertation wurde 2015 als Monografie publiziert: "Cultural Melancholia: US Trauma Discourses Before and After 9/11". Sie ist die wissenschaftliche Geschäftsführerin der Graduate School of Humanities and Social Sciences der Universität Luzern.

© privat
Mehr zum Thema