Die vergessene Bootsrettung
23:47 Minuten
Es war die größte maritime Rettungsaktion der US-Geschichte: Fischer, Bootsführer und Fährmänner brachten nach den Anschlägen am 11. September 2001 eine halbe Million Menschen vor den Staubwolken an der Südspitze New Yorks in Sicherheit.
Um 8:40 Uhr besteigt Captain Peter Johansen die Fähre. Mit Hunderten Berufspendlern, die über den Hudson wollen – von New Jersey zur Wall Street nach Manhattan.
Normalerweise hätte Johansen selbst das weiße Schiff auf die Skyline zugesteuert. Doch heute fährt er nur mit. Er hat ein Meeting mit der Küstenwache. Gleich neben dem World Trade Center. Der Himmel ist blau: "Und ich schaue nach links und sehe plötzlich, wie das erste Flugzeug in das Gebäude fliegt. Es fliegt in diesem Winkel und wird vom Gebäude verschluckt."
Die Maschine versinkt im Nordturm der großen Zwillinge. Auf der anderen Seite des Turms werden die Fenster herausgedrückt.
"Normalerweise fliegen hier niemals Jets. Also dachten wir: Das muss ein Navigationsfehler sein."
Johansen nimmt Funkkontakt mit seiner Zentrale auf: "Wir müssen alle Fähren dorthin bringen, um vielleicht bei der Evakuierung zu helfen!"
Er weiß: Wann immer Downtown etwas passiert, ist der Landweg dicht. U-Bahnen fahren nicht mehr, Straßen und Tunnel sind blockiert. Es gibt nur einen Fluchtweg: übers Wasser. Sein Schiff nimmt Kurs auf Pier 11.
Nebenan in der Börse hörte man nichts
Die New Yorker Börse ist Nachbarin des World Trade Centers. In einem Seitenflügel in 20 Broad Street sitzt der gebürtige Wiesbadener Stefan Jekel. Das Parkett ist um diese Zeit noch geschlossen. Es herrscht die Stille der surrenden Klimaanlagen. In ihrem gut isolierten Büro hören die Börsenmitarbeiter noch nicht einmal den Knall, als American Airlines-Flug 11 in den Nordturm schlägt.
"Ich saß also hier nach Broad Street zu und auf einmal haben wir hier Papiere vorm Fenster runterflattern sehen. Und wir haben noch so gedacht: Ist das eine Wurfzettel-Aktion oder dergleichen."
Dann läuft es über den Nachrichtenticker: "Unfall am World Trade Center".
"Und dann aber innerhalb von Minuten war es ja so, dass wir Fernsehsender auf die Bilder geschaltet haben, wo man den Einschlag sah. Oder den Brand. Man wusste ja noch nicht, was es ist."
Alle bleiben wie festgefroren an ihren Schreibtischen.
"Dann der zweite Einschlag, der dann genau hier auf der Südseite war, der war also merklich!"
9:03 Uhr ist klar: Das war ein Angriff
Captain Johansen beobachtet an Pier 11 an der Wall Street, wie sich die Fähre leert. Noch strömen die Menschen in diese Richtung. Denken, das wird ein normaler Bürotag. Da steuert eine United Airlines-Maschine auf den zweiten Turm zu.
"Das hat alles verändert. Es war klar. Dies hier war kein Navigationsfehler. Das war ein Angriff."
Es ist 9:03 Uhr und allen ist jetzt klar: Das hier ist ein Anschlag. Es ist der Notfall, für den sie zweimal im Jahr ihre Übungen machen. Sie wissen, was zu tun ist: Börse, Banken, Bürohochhäuser – die Wall-Street-Türme spucken Tausende Menschen auf die Straße. Jedes Büroteam steuert seinen Sammelpunkt an.
Tausende flüchteten Richtung Wasser
Auf der "Henry Hudson" nähert sich Captain Rick Thornton von New Jersey. Seine voll beladene Fähre nimmt Kurs auf Manhattan. Ungläubig starren alle auf die klaffenden Wunden in den Zwillingstürmen.
"Beide Gebäude standen in Flammen. Als wir näher kamen, sahen wir Menschen springen. Erst dachten wir: Sie werfen Möbel aus den Fenstern, um sie zu zertrümmern und den Rauch rauszulassen."
Ihr Verstand verbietet ihnen, die Wahrheit an sich heranzulassen. Thornton braucht nicht lange überlegen, um zu wissen, was zu tun ist. Er lässt die Passagiere am nächsten Pier aussteigen und dreht ab – zur Südspitze.
"Da waren Tausende Menschen, die aus dem WTC flüchteten. Die nicht wussten, wohin. Viele sprangen einfach ins Wasser. Andere wurden an die Reling gedrückt, wie bei einem Rockkonzert. Alles schob von hinten. Sie konnten nirgends hin. Sie blickten nur aufs Wasser und hofften auf irgendeine Rettung."
"Die Menschen versuchten, über die Reling zu klettern"
"Sie rannten, bis es kein Land mehr gab. Und einige sprangen ins Wasser. Dachten, sie könnten bis nach New Jersey schwimmen. Aber das ist selbst für erfahrene Schwimmer schwer wegen der Strömungen. Viele wurden aus dem Wasser gezogen."
Sagt Jessica DuLong. Sie ist ehemalige Chefingenieurin des Löschschiffs John J. Harvey. Gelegentlich arbeitet sie noch im Bauch des ausgemusterten Schiffs, um Ausflügler über den Hudson zu bringen. An diesem Tag wird das Schiff aus dem Ruhestand gerissen, um dabei zu helfen, die Menschen zu retten, die nun an der Südspitze von Manhattan entlang der Kaimauer warten.
"Auch von Land aufs Schiff zu kommen, war nicht einfach. Sie versuchten, über die Reling zu klettern. Die Feuerwehr half mit Schneidbrennern, eine Lücke hineinzuschneiden, sodass die Menschen leichter aufs Schiff klettern konnten."
"Wir hatten alles, was schwamm"
320 Kilometer Luftlinie entfernt, in Washington, ist der Chef der US-Küstenwache gerade in einer Besprechung. Admiral James Loy wird zum Fernseher geholt. Gerade schlägt in New York das zweite Flugzeug ein. Kurz darauf eins ins Pentagon auf der anderen Seite des Potomac-Flusses in Arlington. Loy spürt die Erschütterung bis nach Washington. Dort kann die Küstenwache wenig ausrichten.
Anders als auf der Insel Manhattan. Dort beobachtet ein junger Leutnant die Einschläge der Flugzeuge. Nach Absprache mit dem Chef setzt er einen Notruf über den Notfall-Kanal 16 ab, erzählt Admiral Loy:
"Alle verfügbaren Boote! Sie sollen kommen, um Hunderttausende Menschen von der Südspitze Manhattans zu retten, sie in Sicherheit bringen. Auf das gegenüberliegende Staten Island oder ans Ufer von New Jersey."
Da sind die meisten bereits auf eigene Faust im Einsatz.
"Es war eine spektakuläre Reaktion: Im Nu hatten wir alles von der Staten-Island-Fähre über private Boote oder Schleppboote – alles, was schwamm."
Bis in den benachbarten Bundesstaat Connecticut dringt der SOS-Ruf. Sie kommen zu Hunderten: Kommerzielle Fähren, Wassertaxis, Jachten, Fischerboote: Sie ahnen nicht, dass sie Teil der größten Rettungsaktion sind, die es je in amerikanischen Gewässern gegeben hat. Die Gefahren nehmen sie in Kauf, so Admiral Loy:
"Bomben könnten hochgehen. Schiffe könnten kollidieren. Wir wussten einfach nicht, was jetzt noch kommen würde. Wir versetzten die Küstenwache entlang der ganzen Ostküste in Alarmbereitschaft."
Die See-Evakuierung wird übersehen
Jessica DuLong ist auch in Alarmbereitschaft. Erst langsam begreift sie den Ernst der Lage. Steht in ständigem Kontakt mit der Crew der John J. Harvey. Hält sich bereit. Und weiß noch nicht, dass sie bereits eine ganz andere Rolle übernommen hat. Sie wird zur Chronistin einer Geschichte, die sie bis heute nicht loslässt.
"Diese See-Evakuierung wird in allen Erzählungen über den 11. September so verblüffend übersehen. Es ist so unglaublich. Ich meine, da ist eine halbe Million Menschen auf Booten in Sicherheit gebracht worden – in einer völlig spontanen, ungeplanten Aktion."
"Die Vorstellung, dass diese Kapitäne und ihre Crews am ruhigen Ufer in New Jersey anlegten, die Passagiere rausließen und dann zurück ins Ungewisse, in die Katastrophe steuerten – wir wussten nicht, ob das der Anfang vom Ende war."
"It was a combination of like Pearl Harbor and Dunkirk, the planes attacking …"
Captain Thornton denkt an Bilder aus Kinofilmen, die er gesehen hat: Dünkirchen, Pearl Harbor.
Die Rettungsaktion von Dünkirchen im Zweiten Weltkrieg, als britische Seeleute und Fischer loszogen, um ihre eingekesselten Soldaten unter dem Bombenhagel der Nazis von der belgischen Küste zu retten.
"Als wir ankamen, haben wir erst die Menschen aus dem Wasser gezogen. Dann legten wir an der Kaimauer an. Sie kletterten über die Reling. Sprangen auf die Fähre. Sie kann 400 Leute fassen. Die Crew zählte jeden, der aufs Boot kam. Als wir bei 400 waren, waren da immer noch Tausende, die mit wollten. Und ich rief: Wartet da. Es kommen gleich weitere Schiffe. Aber noch waren wir das Einzige. Und die Leute drängten an Bord."
"Da war diese blinde Frau mit ihrem Schäferhund. Sie wurde an die Reling gedrückt und wusste gar nicht, wie ihr geschah. Dann kamen vier Geschäftsleute und trugen sie über den Köpfen den Menschen hinweg auf die Fähre. Und ihren Hund hinterher."
Das Boot ist bereits überladen. Irgendwann müssen sie ablegen. Thornton tröstet durch den Lautsprecher: "We’ll be back! We’re coming back! We’ll be back in 10 minutes."
Die Leute springen weiter, um die Fähre zu erreichen. Doch Thornton sieht, dass sich bereits die nächsten Schiffe nähern.
Einsturz des ersten Turms
Johansens Fähre verlässt gerade Pier 11. Der Captain ist an Land bei den Wartenden geblieben. Er will sichergehen, dass die Lage nicht außer Kontrolle gerät.
"Ich musste verhindern, dass die Boote überladen wurden. Ich hielt die Leute zurück. Wenn ein Boot kam, ließ ich sie rauf. Und auf dem Boot standen Mitarbeiter mit Zählern."
Nicht noch ein Unfall zu der anderen Katastrophe, denkt Captain Peter Johansen. Er bewacht den Anleger, hängt am Funkgerät und koordiniert, an welchem Pier die abfahrenden Boote in New Jersey anlegen können. Dort warten Rettungswagen, um Verletzte direkt ins Krankenhaus zu fahren. Doch so viele Verletzte gelangen erst gar nicht zur Fähre.
Auch bei Captain Rick Thornton ist der Andrang groß: "Wir hatten 500 bis 600 Leute auf einem Boot, das für 400 gedacht ist. Alle an ihren Handys, Sie schrien und redeten und beteten und weinten. Und plötzlich rief ein Junge vom hinteren Teil des Schiffes: Sie stürzen ein!"
Thornton hört einige schimpfen: Was für ein Idiot. Das ist nicht möglich. Dann schreit ein Mann:
Thornton hört einige schimpfen: Was für ein Idiot. Das ist nicht möglich. Dann schreit ein Mann:
"Sie stürzen ein. Und der erste Turm stürzte ein. Und jeder auf dem Schiff hörte auf zu reden. Und es herrschte diese überwältigte Stille."
Alles starrt auf den Turm, der da wie in Zeitlupe in sich zusammenfällt. Fast majestätisch, begleitet von diesem unheimlichen Grollen. Eine Windböe erfasste die Fähre.
FBI-Agenten kamen mit der Fähre zum Unglücksort
Unermüdlich fahren die Seeleute hin und her. Jessica DuLong bereitet sich auf den Einsatz der John J. Harvey vor. An der Kaimauer warten noch immer Tausende Menschen auf Hilfe. Captain Johansen dirigiert die ankommenden Fähren.
"Sie fuhren mit der Nase an die Mauer und hängten Rettungsleitern fest. Die Leute kletterten daran runter. Das ging wesentlich langsamer. Aber wir brachten sie da heraus."
Selbst in der Tragödie gibt es komische Szenen: "Da ist diese Frau, die einem Mitarbeiter ihren Hund reicht. Und sie ruft: Jetzt komme ich. Und sie springt, landet auf ihm und bricht sein Bein."
Nur allmählich dringen Nachrichtenfetzen vom Ausmaß der Katastrophe zu Johansen durch. Rick Thorntons Fähre bringt eine Gruppe FBI-Agenten zum Unglücksort. Sie empfangen Nachrichten. Schnell ist klar: Es gibt einen islamistischen Hintergrund.
Es ist der Moment, in dem sich ein tiefer Riss durch die amerikanische Gesellschaft zieht.
Passagiere erinnern sich bis heute an den Captain
Irgendwann wartet niemand mehr am Pier. Börsenmann Stefan Jekel ist längst mit einer der Boote nach New Jersey gekommen. Er ist bei Verwandten untergekommen. Erst drei Tage später wird er in seine Wohnung in Manhattan zurückkehren können. Dass er Teil einer der größten Rettungsaktionen der Geschichte war, das ist Jekel, wie Tausenden, deren Schicksal er teilt, lange nicht bewusst.
"Boatlift 9/11" bleibt eine weitgehend unerzählte Geschichte. Kein US-Präsident hat bis heute ihre Helden geehrt. Die bescheiden im Hintergrund bleiben wie Rick Thornton: "Wir taten bloß, was wir tun mussten."
Als Kapitän Rick Thornton das sagt, ertönt ein Horn hinter ihm. Es ist die "Henry Hudson". Immer, wenn ihre Kapitäne Rick Thornton irgendwo am Dock erspähen, dann grüßen sie den Captain, der diese Fähre durch den Rauch von 9/11 gesteuert hat. Neun Stunden lang. Manchmal sprechen ihn Passagiere an, was ihn rührt:
"Du bist der Captain, der mich an 9/11 mit seinem Schiff gerettet hat. Sie sehen mich jetzt schlucken. Das kommt dann immer so unvermittelt. Du siehst sie vielleicht drei Jahre später oder zehn Jahre später. Und sie machen Dir klar, dass Du der Captain warst, der sie gerettet hat. Und Du weißt: Es war es alles wert."
Thornton kämpft oft gegen die Tränen. Er hat lange gegen Albträume gekämpft, Schweißausbrüche, Angstattacken. In seiner Garage hat er die US-Flagge aufbewahrt, die auf der Henry Hudson wehte – an jenem Tag.
"Es zeigte das Schlimmste – und das Beste, was Menschen tun können."
Die Flagge ist an ihren Enden aufgeribbelt. Ihre Farben sind verblasst durch Asche und Rauch.
Suche nach dem inneren Frieden
Jessica DuLong will nicht, dass auch die Geschichte verblasst. Die Schicksale von "Boatlift 9/11" lassen sie nicht los. Die Schiffsingenieurin hat sie in einem Buch verewigt.
"Boatlift war die größte maritime Evakuierung der Geschichte. Dass wir so wenig darüber reden, ist ein großes Versäumnis. Denn es könnte uns deutlich machen, was möglich ist: durch kollektive Aktion, Improvisation, Kreativität. Dadurch, dass wir unsere Fähigkeiten auf neue Wege lenken und die Menschlichkeit erkennen, die uns gemein ist. Vielleicht wären wir heute als Land an einer anderen Stelle. Wenn wir unsere gegenseitige Abhängigkeit erkennen würden. Mehr füreinander sorgen. Ich hoffe nur, dass diese Geschichten helfen."
DuLong hofft, dass sie an diesem Jahrestag etwas finden kann, was sie seit 20 Jahren sucht: Ihren inneren Frieden. Sie ist dabei, wenn sich alle Schiffe und Boote wie jedes Jahr an der Südspitze von Manhattan versammeln und ihr Horn dröhnen lassen. Um 8:46 Uhr und um 9:03 Uhr.