Zwischenbilanz beim 9-Euro-Ticket

Die Fahrkarte, die Familien die Ferien rettet

06:09 Minuten
Eine Mutter und zwei Kinder mit Schwimmreifen und Wasserspielzeug steigen in eine Bahn ein.
Das 9-Euro-Ticket ist eine Chance für mehr Teilhabe und ermöglicht vielen Familien Unternehmungen in den Sommerferien. © Getty Images / Maskot
Von Christoph Richter · 12.07.2022
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Jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Selbst ein Ostseeausflug ist unerschwinglich. Bislang. Denn das 9-Euro-Ticket erschließt vielen Familien eine neue Welt. Das zeigt das Beispiel alleinerziehender Mütter in Brandenburg.
Über das 9-Euro-Ticket hat sich Silvana sehr gefreut. „Wir haben ganz viele neue Möglichkeiten, die wir sonst nicht gehabt hätten. Ich kann ganz viele Ideen mit meiner Tochter umsetzen, das ist wunderschön.“
Silvana ist eine vitale Frau, Mitte 40. Mit vollem Namen möchte sie nicht genannt werden. Sie ist alleinerziehende Mutter einer zehnjährigen Tochter. Sie steht am Bahnhof Königs Wusterhausen, am südöstlichen Stadtrand von Berlin, Endhaltestelle der S-Bahn.

Mal nach Berlin reinfahren? Kein Geld dafür

Für Silvana ist das Ticket etwas, das ihr und vielen anderen den Sommer verschönern kann. Sie ist Krankenschwester und hat nur wenig Geld zur Verfügung. Sich in den Zug setzen und mit ihrer Tochter in die Sommerfrische abzudüsen, war bisher kaum möglich, sagt sie.
Die Preise der Bahn seien dazu viel zu teuer. Nicht mal nach Berlin in eine Ausstellung konnte sie bisher fahren, erzählt sie. Denn allein ein Tagesticket der BVG koste, wenn man von Königs Wusterhausen zum Bahnhof Zoologischer Garten will, im Normalfall zehn Euro. Das sei Geld, das sie einfach nicht übrighabe.

Jetzt können sie auf Entdeckung gehen

Jetzt aber könnten sie und ihre Tochter alles entdecken: „Museen. Kino. Einfach mal loslaufen, was uns mehr entspricht. Einfach schön.“ Ihr erster Gedanke, als sie von dem Ticket hörte, war: Das rettet uns die Ferien!
Die Klagen der Pendler, die schimpfen, dass die Züge seit der Einführung des 9-Euro-Tickets zu voll seien, dass man stehen müsse, wenn man zur Arbeit fährt, kann Silvana nicht nachvollziehen und lächelt fast ein wenig mitleidig. „Mir fällt da, ehrlich gesagt, nichts dazu ein. Locker bleiben.“  

Eine Chance für mehr Teilhabe

Das 9-Euro-Ticket sei eine Chance der Teilhabe für Menschen, die bisher ausgeschlossen waren und die es sich nicht mal leisten konnten, Freunde zu besuchen, weil allein die Fahrkosten zu hoch waren. Das sagt Birgit Uhlworm, Anfang 60. Sie war lange alleinerziehende Mutter. Seit 1992 ist sie Geschäftsführerin des Brandenburger Landesverbands der Selbsthilfegruppe für Alleinerziehende.
Sie vertritt etwa 90.000 Alleinerziehende im Land Brandenburg. Viele stünden unter besonderem ökonomischen Druck, unterstreicht Uhlworm. Ein Drittel der Alleinerziehenden lebt von Hartz IV, knapp die Hälfte der Kinder ist laut einer aktuellen Studie der Bundesregierung armutsgefährdet.
"Es geht ja nicht direkt um Urlaub. Sondern es geht um die kleinen Ausflüge. Gemeint sind damit die Ausflüge am Wochenende, um die Ausflüge in der Woche in den Sommerferien, mit den Kindern.“

Kein Sozialtickt in Brandenburg

Ein Sozialticket gibt es in Brandenburg nicht. Lediglich ein sogenanntes Mobilitätsticket. Das kostet die Hälfte einer Monatskarte und gilt nicht für Fahrten nach Berlin. Wer auf dem Land wohnt und sich nur innerhalb der Grenzen eines Landkreises bewegen will, muss knapp 25 Euro dafür zahlen. Wer weiter fahren wolle, müsse noch tiefer in die Tasche greifen, sagt Birgit Uhlworm.
Ihr Verband fordert einen kostenfreien öffentlichen Nahverkehr – für jede und jeden.

Angesichts der Klimakrise brauchen wir öffentlichen Nahverkehr. Und es ist wichtig für Kinder und Jugendliche. Und für die Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen leben, damit sie miteinander unterwegs sind. Aber: Unterm Strich ist es für die ganze Gesellschaft wichtig, wenn es kostenfrei wäre. Denn erst dann hätte der öffentliche Nahverkehr die Bedeutung, die er braucht, die Anforderungen der Klimakrise zu bewältigen.

Birgit Uhlworm, Landesverband der Selbsthilfegruppen für Alleinerziehende

Aber wer soll das bezahlen?
„Wir haben genug Geld“, ist Uhlworm überzeugt. "Wir haben gerade 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Rüstung, die rumsteht, also, totes Gerät, ausgegeben. Wir fordern einfach, das Geld, was da ist – und es ist da, wenn es Politik bestimmt – in die Menschen investiert wird. Vor allem in Kinder und Jugendliche. Denn das ist unsere Investition in die Zukunft.“

Endlich mal an die Ostsee fahren

Auf dem Bahnhof Königs Wusterhausen, das mit seinen unzähligen Kanälen als das Tor zur lauschigen Dahme-Seenlandschaft und zum UNESCO-Biosphärenreservat Spreewald gilt, steht auch Sabrina. Auch sie ist alleinerziehend. Auch sie möchte ihren Nachnamen nicht im Radio hören.
Sabrina muss aus gesundheitlichen Gründen von einer kleinen Rente leben. Dank des 9-Euro-Tickets kann sie es sich jetzt leisten, mit ihrer Tochter mal nach Wismar zu fahren. Einfach mal in der Ostsee baden und den Tag genießen, das war früher unmöglich.
Und erst kürzlich konnte sie – mit einer kleinen Zuzahlung – erstmals nach Prag fahren, erzählt sie. „Das Schöne daran ist, man sieht Welten, die man vorher nie gesehen hat.“

Das Ticket darf kein Strohfeuer bleiben

Das Experiment 9-Euro-Ticket dürfe kein Strohfeuer sein, sagt sie noch. Und fordert von der FDP ein Umdenken, denn Bundesverkehrsminister Volker Wissing schließt bislang eine Verlängerung des Tickets aus.
Das Ticket koste im Monat über eine Milliarde Euro, so die Begründung. Auch wenn es eine Erfolgsgeschichte sei, sei eine dauerhafte Finanzierung nicht möglich. Das sind Aussagen, mit denen auch Silvana wenig anfangen kann.
„Ich würde mir wünschen, dass es weitergeht“, sagt sie. „Es kann auch ruhig zehn oder 15 Euro kosten. Das wäre auch super. Nur, dass etwas in dieser Richtung weiter möglich ist, würde ich mir sehr wünschen.“

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