"Ich bin froh, dass das alles friedlich gelaufen ist"
Als 14-Jähriger lief Sebastian Gräfe bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig mit. Der Zeitzeuge des politischen Umbruchs in der DDR zieht heute Parallelen zum Arabischen Frühling und zu den Entwicklungen in der Ukraine.
Nana Brink: Er war 14 Jahre alt, als er heimlich auf die Leipziger Montagsdemonstrationen ging, so sehr hatten ihn die Botschaften der Menschen rund um die Nikolaikirche fasziniert. Vor 25 Jahren, am 9. Oktober, fand eine der wichtigsten Demonstrationen statt, zwei Tage nach dem Gorbatschow-Besuch zum 40. Jahrestag der DDR. Spitz auf Knopf stand es damals in Leipzig, die Volkspolizei stand hoch gerüstet im Hinterhalt, würde das Regime eingreifen, aber es blieb ja alles friedlich.
Sebastian Gräfe hat nicht nur einmal das Runde Eck, das war die Stasizentrale in Leipzig, umrundet damals als Teenager in der DDR, um dann die Freiheit zu nutzen, ins Ausland zu gehen. Er war für die Vereinten Nationen im Südsudan und als Abgeordnetenassistent in Brüssel. Und heute ist er freier Berater zu außen- und sicherheitspolitischen Themen in Berlin. Und mit ihm wollen wir jetzt einen Blick zurück und auch nach vorne werfen, auf den 9. Oktober vor 25 Jahren. Guten Morgen, Herr Gräfe!
Sebastian Gräfe: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Sie waren sehr jung, Sie waren 14 – haben Ihre Eltern nicht Angst gehabt?
Gräfe: Definitiv hatten sie Angst am 9. Oktober, weil sie nicht wussten, wo ich war, aber ich fand das total spannend. Wir hatten zu Hause viel Diskussionen darüber, weil auch unsere Familie durch die Mauer geteilt war, und insofern wusste ich ganz klar, was da abläuft und bin da sehr interessiert mitgelaufen.
Brink: Was haben Sie denn mitbekommen von diesem politischen Aufbruch als Teenager?
Neuer Raum für Fragen und Kritik
Gräfe: Ich hab, auch wenn ich erst 14 war, die DDR als Land wahrgenommen, in der viel Doppelzüngigkeit existierte, wo es Scheuklappen gab. Ich hab schon gemerkt, welche Chancen hab ich eigentlich, und plötzlich brach das auf. Wir sind zu den Dialogveranstaltungen ins Gewandhaus gegangen und in die Moritzbastei, konnten auf einmal offen über Themen reden in der Öffentlichkeit. Auf einmal öffnete sich da ein Raum für all die Fragen und Kritik, die wir vorher nur im privaten Raum geäußert haben, diese wurden jetzt auch im öffentlichen Raum diskutiert.
Brink: Haben Sie Angst gehabt? Viele Menschen, viele Erwachsene haben mir berichtet aus jener Zeit, dass sie Angst hatten.
Gräfe: Kann sein, also für mich, bis heute, ist es eine einzigartige Erfahrung, bei Demonstrationen Angst zu haben gegenüber den Sicherheitskräften, die da einem gegenüberstehen, hin zu: Diese Personen bedeuten keine Gefahr mehr für mich und somit auch die Machtfrage geklärt war.
Brink: Sie sind ja dann seit der Wende viel im Ausland gewesen, sind jetzt Berater für außen- und sicherheitspolitische Fragen, haben den Blick also auch von außen, auch auf diese Zeit von vor 25 Jahren – war das sehr deutsch, was da passiert ist, unblutig?
Revolutionäre gestalten später nicht unbedingt die Politik
Gräfe: Also ich bin froh im Rückblick, dass das alles friedlich gelaufen ist. Es gab Gründe, weshalb es friedlich gelaufen ist, weil, glaube ich, auch auf Seiten des Regimes es genug Leute gab, die kein Blutvergießen sehen wollten. Es gibt da auch Gemeinsamkeiten, wie die Revolution in Ostdeutschland abgelaufen ist und wie der Arabische Frühling passiert ist oder die Entwicklungen zurzeit in der Ukraine.
Brink: Ach, das ist interessant. Wo sehen Sie da Parallelen?
Gräfe: Es geht da vor allen Dingen um die Rolle der politischen Kräfte, die diese Revolution anschieben. Es ist ja interessant zu sehen, dass die ostdeutschen Bürgerrechtler im Herbst 89 zehntausende, hunderttausende Menschen auf die Straße bekommen haben, aber dann die ersten frei gewählten Volkskammern nur 2,9 Prozent bekommen haben, 2,9 Prozent für Bündnis90.
Das ist vielen Protagonisten dieser Revolution passiert, dass sie sehr wohl den sozialen Protest auf den Straßen organisieren konnten, aber dann nicht vorbereitet waren für den politischen Aushandlungsprozess in Hintertüren, in neu gewählten Parlamenten oder in anderen Räumen. Es fehlt auch oft bei Kräften, die eine Revolution anschieben, der Wille, sich an dem politischen System zu beteiligen. Wir haben das auch bei den Bürgerrechtlern in Ostdeutschland gehabt, dass sie immer gerne Zivilgesellschaft, kritische Opposition, außerparlamentarisch aktiv sein wollten, aber nicht in das Parteiensystem gehen wollten.
Brink: Haben so friedliche Revolutionen heute überhaupt noch eine Chance?
Die Liebe zu Leipzig ist geblieben
Gräfe: Ja, da bedarf es vieler Faktoren. Leider sehen wir gerade solche Länder in den Nachrichten, wo es keinen Konsens gibt innerhalb der Opposition, aber auch, dass Europa oder die USA nicht wissen, was sie eigentlich in Syrien machen sollen, dass auch internationale Organisationen gelähmt sind, wie der UN-Sicherheitsrat, und somit nicht agieren können.
Brink: Wenn Sie jetzt noch einmal zurückblicken, wir haben nach vorne geblickt auf diese friedliche Revolution in Leipzig, was ist für Sie geblieben?
Gräfe: Für mich ist geblieben die Auseinandersetzungen, was es heißt, in einem autoritären Regime zu leben, so zu leben, dass man am nächsten Morgen immer noch in den Spiegel gucken kann, und einfach auch eine intensive Liebe für die Stadt Leipzig, in der ich das alles erleben konnte. Und es ist schön zu sehen, dass ich nach zehn Jahren im Ausland in eine Stadt jetzt im Sommer zurückgekehrt bin, die nicht stehen geblieben ist, sondern immer noch so interessant ist, wie sie vor 25 Jahren war.
Brink: Sebastian Gräfe, Montagsdemonstrant in Leipzig vor 25 Jahren. Danke für Ihren Rück- und Ausblick!
Gräfe: Vielen Dank!
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