Ist Enzensberger der letzte öffentliche Intellektuelle?
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Hans Magnus Enzensberger wird 90. Er gilt als einer der letzten öffentlichen Intellektuellen. Biograf Jörg Lau sagt, die Rolle der Schriftsteller habe sich verändert. Literaturredakteur René Aguigah kritisiert die "selbst empfundene Allzuständigkeit".
Ein großer deutscher Schriftsteller und Intellektueller feiert am heutigen Montag seinen 90. Geburtstag: Hans Magnus Enzensberger. Am 11. November 1929 wurde er in Kaufbeuren im Allgäu geboren und wuchs in Nürnberg auf. Von dort brach er in die Welt des europäischen Geistes auf: Als promovierter Literaturwissenschaftler begann er beim Radio, debütierte 1957 mit seinem ersten Gedichtband als Lyriker. Über die Jahrzehnte wurde er zu einer intellektuellen Instanz, als Schriftsteller, Kritiker, Essayist, Herausgeber – ein beständig wacher und produktiver Geist, bis heute.
Eine Linie, die sein Schaffen durchziehe, sei die "Faszination für die Aufklärung, für die Autoren, aber mehr noch eigentlich für die Arbeit des Aufklärers", würdigt Jörg Lau, Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" in Hamburg und Autor einer Biografie über Enzensberger, den Jubilar. Enzensberger habe versucht, diese Faszination auch in seiner Literatur voranzutreiben, "indem er selbst übersetzt, indem er andere Autoren publiziert, indem er Bücher schreibt". Eines seiner populärsten Bücher widme sich der höheren Mathematik. Darin habe Enzensberger fassbar gemacht, welche Probleme da gewälzt werden, so Lau. "Er ist, glaube ich, in einem für Deutschland sehr untypischen Sinne ein Aufklärer heroischen Typs."
Position des Schriftstellers hat sich verändert
Hans Magnus Enzensberger gilt als einer der letzten öffentlichen Intellektuellen. Zur Frage, ob diese Einordnung gerechtfertigt sei, betont Lau, die Bedingungen für diese Arbeit hätten sich geändert. In der Adenauer-Zeit sei die Gruppe 47, zu der Enzensberger anfangs gehört hatte, "eine Art Ersatzopposition" gewesen. "Da wurden alle möglichen Dinge artikuliert, die in der Politik nicht zur Sprache kamen." Die Politik sei inzwischen bunter geworden: "Es ist nicht so, dass wir zu wenig Dissens in der Öffentlichkeit haben und dass der von Schriftstellern mit aller Kraft artikuliert werden muss." Wobei sich Lau zufolge auch die Position des Schriftstellers verändert hat: "Auch der Schriftsteller als Stellvertreter für was auch immer, die Arbeiterklasse, den Weltgeist, die Vernunft - das hat sich erledigt", so Lau. "Es ist komplizierter geworden."
René Aguigah, Leiter der "Lesart"-Redaktion, erklärt, sympathisch habe er schon immer bei Enzensberger gefunden, "dass er sich schwer hat festlegen lassen auf eine Sache". Neben Figuren wie Heinrich Böll und Günter Grass habe man ihn als dynamischer oder nervöser wahrnehmen müssen. Doch, bekennt Aguigah, spätestens ab 2006 habe er Enzensbergers inhaltliche Stellungnahmen nicht mehr als anregend empfunden oder teilweise auch nicht mehr ernst genommen. Anlass sei etwa ein Essay gewesen, den Enzensberger "über den Islam oder islamistische Terroristen geschrieben hat und dort Islamismus mit Islam gleichsetzte und eigentlich alle als radikale Verlierer porträtiert hat". Darin sehe er einen Zug aus der Generation, zu der auch Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass gehörten, fortgesetzt: "eine Art von selbst empfundener Allzuständigkeit".
Drei Intellektuelle der heutigen Zeit
Zur Frage nach Enzensberger als einem der letzten öffentlichen Intellektuellen, sagt René Aguigah, man könne Enzensberger so bezeichnen. Doch natürlich gebe es auch neuere intellektuelle Arbeit - "aber nicht mehr in der Form unseres Geburtstagskindes".
Aus der "riesigen Palette an intellektuell arbeitenden Menschen" heute würde er drei herausgreifen, deren Arbeit er als sehr zeitgemäß empfinde, so Aguigah: der Lyriker, Essayist und Kurator Max Czollek, jüdischstämmiger Deutscher, der Schriftsteller Saša Stanišić, ein in Bosnien geborener Deutscher; und Carolin Emcke, Autorin und Publizistin, für deren auch intellektuelle Arbeit es wichtig sei, dass sie als homosexuelle oder queere Person lebt, so Aguigah. Alle drei hätten "etwas persönlich Betroffenes" - und machten dies jeweils in ihrer intellektuellen Arbeit fruchtbar: Erst so bekämen ihre Positionen etwas Überindividuelles und sprächen auch Menschen an, die nicht einer bestimmten "Nische" angehörten.
(abr)