Riesiges Nahverkehrssystem, riesige Herausforderungen
Seit 90 Jahren sorgen die Berliner Verkehrsbetriebe dafür, dass die Hauptstädter relativ zügig von A nach B kommen. Aber der Fuhrpark ist in die Jahre gekommen und es gibt viel weniger Personal als früher - bei stetigem Bevölkerungszuwachs.
"Für die BVG ein besonderer Tag und ein sehr wichtiger Tag heute. Denn die ersten von bis zu 950 Bussen von EvoBus sehen Sie hier hinter mir."
Eine Fahrzeughalle der Berliner Verkehrsbetriebe in Berlin-Mitte. BVG-Chefin Sigrid Nikutta präsentiert zwei neue Busse. Zwei von bis zu eintausend, die in den kommenden Jahren von der BVG gekauft werden. Noch fahren sie konventionell, mit Dieselkraftstoff. Später wolle man auf Elektroantrieb umstellen, erklärt Sigrid Nikutta. Wann das sein wird, sagt sie nicht. Positiv fällt hingegen ihre Gesamtbilanz aus.
"90 Jahre BVG ist mit Sicherheit eine Erfolgsgeschichte, Berlin hat das mit Abstand größte Nahverkehrssystem Deutschlands, mit großem Abstand und auch, davon bin ich ganz fest überzeugt, das beste Angebot in ganz Deutschland."
Nur wenige Meter entfernt, in einer riesigen Instandsetzungshalle für U-Bahn-Wagen, sieht die Welt der BVG ganz anders aus. Fast jeder Reparaturplatz ist besetzt.
"Wir haben gerade erst ein Fahrzeug zur Verschrottung freigegeben, weil es solche Schäden durch den Betrieb des Fahrzeuges hatte, nicht etwa durch einen Unfall oder so, dass es also nicht mehr reparabel ist. Das Fahrzeug war 50 Jahre alt."
Wenn Andreas Neuner den Daumen senkt, darf der Zug nicht mehr raus. Der Ingenieur ist verantwortlich für die Fahrzeugtechnik der Berliner U-Bahn. Zwei Dutzend gelbe Wagen sind aufgebockt, nebenan in der Halle seien es noch einmal so viele, sagt Neuner. Die Werkstattquote der Berliner Verkehrsbetriebe liegt bei 15 Prozent. Normal sind 10 Prozent.
Risse im Drehgestell, Korrosion im Wagenkasten
"Wir haben zwei wesentliche Probleme. Das eine sind die Risse im Drehgestell, und das zweite Problem ist Korrosion im Wagenkasten. Wir haben zwar Aluminium-Fahrzeuge, Aluminium rostet ja nicht, aber es korrodiert und bildet ähnlich wie Stahl dann Löcher, und wir haben dann dieselben Probleme, die ein Autofahrer mit seinem alten Auto hat."
Es kann einem schon mulmig werden, die vielen Markierungen an den Drehgestellen zu sehen, die geschweißt werden müssen. Die Berliner U-Bahn wurde viel zu lange auf Verschleiß gefahren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ging die Zahl der Wagen um ein Viertel zurück. Sie wurden aussortiert und nicht wieder ersetzt. Aktuell umfasst die U-Bahn-Flotte noch knapp 1.300 Wagen.
Deshalb rüstet die BVG jetzt auch auf der Schiene auf. Endlich, sagen die einen, viel zu spät, die anderen. Bis zu 1.500 U-Bahn-Wagen werden in den kommenden 15 Jahren gekauft. Das beschloss der Aufsichtsrat des landeseigenen Betriebes im September 2018. Eine gigantische Investition, die in der Geschichte der BVG ihresgleichen sucht.
"Wir haben das größte Beschaffungsprogramm bei Schienenfahrzeugen gerade laufen, alleine über drei Milliarden bei der U-Bahn, und dann noch mal bei der Straßenbahn, das ist ein Bekenntnis zum ÖPNV in dieser Stadt, wie es das wahrscheinlich noch nie gab, darüber bin ich sehr froh. Hätte man das Ganze etwas früher starten können? Vielleicht ja, aber auf der anderen Seite: Die Prognosen für die Bevölkerung in Berlin werden ja von Jahr zu Jahr nach oben korrigiert."
1902: Die erste Untergrundbahn in Berlin
Die Geschichte der BVG ist schon in ihren Anfängen eng gekoppelt an die steigende Bevölkerungszahl. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wächst Berlin rasant. 1902 nimmt daher die erste Hoch- und Untergrundbahn-Linie ihren Betrieb auf. Weitere Streckenverbindungen folgen: per Omnibus, Straßenbahn und U-Bahn.
Bald konkurrieren drei große Betreiber um die Gunst der Fahrgäste. Dem daraus resultierenden Tarifchaos setzt der damalige Verkehrsstadtrat Ernst Reuter ein Ende. 1927 führt er den Einheitstarif von 20 Pfennig ein. Umsteigeberechtigung inklusive. Ein Jahr später schafft er es, die verschiedenen Anbieter unter einem Dach zu vereinen. Die S-Bahn allerdings nicht – die ist bis heute eigenständig.
Die Stadt kauft Mehrheitsbeteiligungen bei den Betreibern. Am 10. Dezember 1928 wird die Berliner Verkehrs-AG gegründet, kurz BVG.
"Die Verkehrsträger zusammenzufügen, war schon visionär und hat sich ja bis heute bewährt."
Schwärmt Joachim Gorell, viele Jahrzehnte bei der BVG angestellt, heute ehrenamtlich tätig im U-Bahn-Museum. Hans Emil Hirschfeld, Journalist und Zeitzeuge, hielt die Strategie des späteren Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter, für bahnbrechend.
"Man weissagte dieser Gesellschaft einen sehr schnellen Tod, weil es finanziell ein ungeheures Gebilde war, ich glaube, 400 Millionen Mark Anteile, weil es nicht profitabel sein könne, weil doch der Profitanreiz fehle, weil andere Interessen, nämlich eben Erschließung maßgebend seien und jeder Verkehrsfachmann hat erklärt, das ginge natürlich gar nicht. Eine Verkehrsgesellschaft müsse rein verdienen und nichts anderes. Aber Reuter hat gezeigt mit dem Zusammenschluss, dass man auch eine Gesellschaft auf eine finanziell gesunde Basis stellen kann, und gleichzeitig den höheren Zwecken, dem Dienste an der Stadtbevölkerung dient."
Die Passagierzahlen verdreifachen sich
45 Millionen Reichsmark werden in den Ausbau des Streckennetzes gesteckt. Die Passagierzahlen steigen von 101 Millionen 1920 auf 328 Millionen 1940. Die Bombenangriffe auf Berlin führen dazu, dass die BVG wenige Tage vor Ende des Zweiten Weltkriegs ihren Betrieb einstellt. Vier Wochen später nimmt sie ihn wieder auf.
Bald jedoch wirft die bevorstehende Teilung Berlins ihre Schatten voraus. Ab 1948 gibt es zwei Währungen in der Stadt und damit auch zwei Beförderungstarife. Während der Berlin-Blockade durch die Sowjets schließt die BVG einzelne U-Bahn-Verbindungen in den Ostteil der Stadt.
Frau: "Hallo. Hallo. Hier fuhr doch Potsdamer Platz."
Kontrolleur: "Ja, das ist der Anschluss."
Frau: "War das der letzte?"
Kontrolleur: "Das war der letzte. Ja. Da haben Sie Pech gehabt: die BVG macht zu."
Frau: "Ja, wie komme ich denn jetzt weiter?"
Kontrolleur: "Ja. Jetzt müssen Sie zu Fuß gehen."
Frau: "Ach du lieber Gott."
Kontrolleur: "Ja, das ist der Anschluss."
Frau: "War das der letzte?"
Kontrolleur: "Das war der letzte. Ja. Da haben Sie Pech gehabt: die BVG macht zu."
Frau: "Ja, wie komme ich denn jetzt weiter?"
Kontrolleur: "Ja. Jetzt müssen Sie zu Fuß gehen."
Frau: "Ach du lieber Gott."
Mauerbau und Teilung des ÖPNV
Nach dem Mauerbau 1961 ist der Öffentliche Nahverkehr in Berlin endgültig geteilt. Es gibt die BVG West und die BVB Ost. Im Westen wird die Straßenbahn abgeschafft, im Osten wird ihr Streckennetz erweitert.
Auf beiden Seiten der Mauer sind die Menschen zufrieden mit ihren Nahverkehrssystemen. Bestätigen Klaus Kurpjuweit, der knapp vier Jahrzehnte lang für den West-Berliner "Tagesspiegel" über die BVG berichtete, und Jens Wieseke, der im Ostteil der Stadt groß geworden ist und seit 1996 dem Vorstand des Berliner Fahrgastverbandes IGEB angehört.
"Damals war ja, ich kann mich noch gut daran erinnern, die BVG ein richtig Personen geführter Laden, ihr Chef hieß Piefke, man ist damals auch nicht mit der BVG gefahren, sondern 'man kam mit Piefke', so populär war der Typ, das haben sie im Nachhinein dann nie wieder geschafft. Man konnte eben sicher sein damals: Sie fuhr, das ist heute eben nicht mehr ganz der Fall. Wenn an der Anzeige steht, der nächste Zug kommt in zwölf Minuten, dann ist das ein sicheres Indiz dafür, dass vorher was ausgefallen ist und dass es nicht nur eine Verspätung ist."
"Der Nahverkehr war ein System, wo ich keine App brauchte. Ich ging hin, und da fuhr was. Und da konnte ich mich drauf verlassen. Und mit Verlaub: Da will ich wieder hin."
Täglicher Ausnahmezustand
Ihren Höhepunkt erleben die Berliner Verkehrsbetriebe nach dem Mauerfall im November 1989. Die BVG West befindet sich tagelang im Ausnahmezustand. Wie sich Walter Momper, damaliger Regierender Bürgermeister in West-Berlin, später erinnerte:
"Die hatten nämlich anderthalb Millionen Passagiere jeden Tag auf der U-Bahn. Und da nun noch mal eine halbe Million, also 250.000 morgens rein, 250.000 abends raus, noch mal oben draufzupacken, das war ganz schön. Das ging aber, wenn die alles laufen ließen, das machten die nach den alten Smogalarm-Plänen aus West-Berliner Zeiten, und da rollte dann auch alles, da ging es im Zweieinhalb-Minuten-Verkehr durch die Stadt, also man kam wirklich flott durch die Stadt, das muss man sagen."
Und BVG-Pensionär Joachim Gorell ergänzt:
"Die große Leistung hat das Fahrpersonal erbracht, ich weiß noch von Kollegen, die zwangsabgelöst werden mussten, weil einfach die erforderlichen Dienstzeiten überschritten waren, denen hat es auch so einen Spaß gemacht, weil: So freudige Fahrgäste hat man jetzt auch nicht alle Tage."
1992 fusionieren BVG West und BVB Ost wieder zu einem Unternehmen. Wegen der rigiden Sparpolitik des Senats können die Berliner Verkehrsbetriebe jedoch nicht investieren wie gewünscht. Schwierige Zeiten, räumt BVG-Chefin Sigrid Nikutta ein.
"Nach der Wiedervereinigung bestand die BVB und BVG aus 30.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Heute haben wir die Hälfte. Bei ungefähr der gleichen Leistung. Das heißt, da sind massive, sozialverträgliche, dankenswerterweise, aber dennoch, Abbauprozesse gewesen, das heißt, man hat einfach gar nicht eingestellt, und das merken wir heute."
Fehlende Fahrzeuge, zu wenig Personal
Heute vermeldet die BVG aber auch ständig neue Rekordzahlen. Für dieses Jahr rechnet sie mit knapp 1,1 Milliarden Fahrgästen. So viele wie noch nie. Mit der Folge, dass aufgrund fehlender Fahrzeuge und zu wenig Personal Busse und Bahnen überfüllt, Kunden verärgert sind. Kritisieren Jens Wieseke und Klaus Kurpjuweit.
"Es ist die schwerste Krise der Berliner Verkehrsbetriebe seit der Wiedervereinigung, dass wir zu wenig Triebfahrzeugführer haben, zu wenig Busfahrer haben, das ist 'ne Verantwortung, die gebe ich der BVG-Chefin ganz direkt, da hätte sie wesentlich früher gegensteuern müssen, also: Das Problem ist tiefer und nicht nur 'ne reine Fahrzeugkrise."
"Ja, ich glaube, man kann es so sagen, oder man hat die Krise lange nicht zur Kenntnis genommen. Ich habe ja mal gesagt: Die BVG hat das große Glück, dass die S-Bahn noch schlechter ist als sie und dass man vornehmlich über die S-Bahn schimpft und nicht so sehr über die BVG."
90 Jahre nach ihrer Gründung stehen die Berliner Verkehrsbetriebe vor enormen Herausforderungen. Sie müssen den täglichen Wahnsinn im Berliner Nahverkehr bewältigen und gleichzeitig die Mobilitätswende schaffen. Die BVG hat sich auf die Fahnen geschrieben, bis zum Jahr 2030 hundert Prozent elektrifiziert in der Stadt unterwegs zu sein. Ein ambitioniertes Programm.