"Unbedingt einen Blick riskieren"
Grauenhaft, intellektuell minderwertig, schlecht geschrieben - das ist Hitlers "Mein Kampf". Dennoch sollte man es unbedingt lesen, sagt der Historiker Sven Felix Kellerhoff und kritisiert das jahrzehntelange "Quasi-Verbot" des Werks.
Vor 90 Jahren wurde der erste Band von Hitlers "Mein Kampf" veröffentlicht. Zum Jahresende erlischt das Urheberrecht an dem Werk, das derzeit noch das bayerische Finanzministerium innehat. Wegen der restriktiven Praxis im Umgang mit dem Werk sei man allerdings schlecht vorbereitet auf das, was ab 2016 möglicherweise folge, kritisiert der Historiker und Publizist Sven Felix Kellerhoff.
Zehn Minuten Google-Recherche genügen
Über viele Jahre habe die Politik den falschen Ansatz gefahren, das Werk "quasi verbieten zu wollen", sagt der Redakteur der Tageszeitung "Die Welt", der derzeit an einem Buch über "Mein Kampf" arbeitet.
"Es ist völlig widersinnig, eine kommentierte, wissenschaftlich-kritische Ausgabe zu unterbinden, aber unkommentierte Ausgaben jedem per Internet zugänglich zu machen."
Allein über Google finde man innerhalb von zehn Minuten zahlreiche sowohl deutsch- als auch fremdsprachige Ausgaben des Buches. Hintergrund von Kellerhoffs Kritik ist eine Entscheidung des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) vom Dezember 2013, einer historisch-kritischen Ausgabe von "Mein Kampf" durch das Münchner Institut für Zeitgeschichte die Finanzierung zu entziehen, verbunden mit der Androhung, Veröffentlichungen nach Ablauf der Schutzfrist gegebenenfalls mit einer Anzeige wegen Volksverhetzung zu ahnden.
"Wirklich harte Lektüre"
"Aufklärung ist immer besser als Verschweigen", betont Kellerhoff. Insofern solle man unbedingt einen Blick in das Buch riskieren, auch wenn es "wirklich harte Lektüre" sei:
"Es ist grauenhaft. Es ist ganz, ganz furchtbar. Es ist ein Sammelsurium von schlecht oder grammatikalisch vollkommen falsch konstruierten Sätzen. Es ist intellektuell minderwertig."
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Pamphlet, Traktat, Hetzschrift, Dokument der Zeitgeschichte ... Als heute vor 90 Jahren der erste Band von "Mein Kampf" zum ersten Mal erscheint, ist noch nicht klar, welche zweifelhafte Karriere das Buch machen wird. In diesem ersten Band beschreibt Adolf Hitler mehr oder weniger sein Leben oder das, was er dafür hält; der zweite Band, der dann anderthalb Jahre später veröffentlicht wird, ist programmatischer ausgelegt. Und für beide Bände gilt: Kaum einer hat sie gelesen! Das ändert sich womöglich 2016, denn dann erlöschen die Urheberrechte, nach Ablauf der sogenannten Regelschutzfrist. Was es damit auf sich hat, kann uns einer erklären, der "Mein Kampf" mehr als einmal gelesen hat, weil er ein Buch darüber schreibt, nämlich der Journalist und Autor Sven Felix Kellerhoff. Herzlich willkommen in "Studio 9"!
Sven Felix Kellerhoff: Guten Tag!
Welty: Lesen oder nicht lesen, drucken oder verbieten? Was empfehlen Sie nach mehrmaliger Lektüre?
Kellerhoff: Aufklärung ist immer besser als Verschweigen. Und man sollte immer jedenfalls ansatzweise wissen, worüber man redet, wenn man redet. Also unbedingt einen Blick riskieren in das Buch, und selbst wenn es schwierig, wenn es herausfordernd, wenn es widerlich ist, was die Lektüre von "Mein Kampf" ohne jeden Zweifel ist, sollte man sich davon trotzdem nicht erschrecken lassen. Denn je besser man weiß, worüber man redet, desto besser ist es.
Ohne die restriktive Veröffentlichungspraxis gäbe es die heutige Aufregung nicht
Welty: Wann haben Sie den ersten Blick riskiert?
Kellerhoff: Den allerersten Blick habe ich schon in Gymnasialzeiten riskiert, das kann ich nicht genau rekonstruieren. Mein erstes eigenes Exemplar habe ich vor ziemlich genau 22 Jahren gekauft, 1993, als frisch gebackener Student der Geschichtswissenschaften hier in Berlin. Und ich hatte durchaus das Gefühl, da etwas Verbotenes zu tun. Heute weiß ich, natürlich war es nicht verboten, ein antiquarisches Exemplar von "Mein Kampf" zu kaufen und zu lesen.
Welty: Die Aufregung ist ja jetzt schon groß, was eine mögliche Veröffentlichung im nächsten Jahr angeht. Hat das Buch diese Aufregung und diese Auseinandersetzung überhaupt verdient?
Kellerhoff: Wenn die Politik über viele Jahre hinweg nicht einen so falschen Ansatz gefahren hätte, dieses Buch quasi verbieten zu wollen, quasi aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, wäre es dazu nicht gekommen. Ich glaube, dass die heutige Aufregung, die uns schon seit ein paar Jahren begleitet, ganz wesentlich induziert ist von falschen politischen und juristischen Entscheidungen. Das sieht man daran, dass die Goebbels-Tagebücher oder die Hitler-Reden, die beide in den 90er- und den 00er-Jahren erschienen sind, keine annähernd vergleichbare Reaktion hervorgerufen haben, obwohl sie vom Inhalt her mindestens genauso widerlich sind.
Was 1946 richtig war, muss 2015 längst nicht mehr richtig sein
Welty: Welche Rolle spielt in dieser Diskussion das bayrische Finanzministerium, das ja bisher die Urheberrechte für sich in Anspruch nimmt?
Kellerhoff: Es nimmt sie nicht nur für sich in Anspruch, es hat sie tatsächlich, das ist juristisch klar. Ich denke, eine ausgesprochen unglückliche Rolle spielen die bayrischen Beamten, die sehr formalistisch sich festgelegt haben auf eine bestimmte Auslegung und überhaupt Argumenten, die gegen diese Auslegung nicht zugänglich sind. Auch das ist immer schlecht. Denn das, was 1946 oder von mir aus auch 1956 richtig war, muss ich Jahr 2015 schon längst nicht mehr richtig sein.
Die Gesellschaft hat sich verändert, unsere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat sich verändert – zum Positiven eindeutig – und ich glaube, dass es richtig gewesen wäre, wenn das bayrische Finanzministerium darauf reagiert hätte. Haben sie nicht getan, sie bleiben bei ihrer formalistischen Sicht und die führt jetzt dazu, dass die Urheberrechte am 31.12.15 auslaufen und wir dann eigentlich nicht vorbereitet sind auf das, was eventuell kommt. Möglicherweise – ich hoffe es – durch mein Buch doch ein wenig.
Welty: Wie sinnvoll oder wie effektiv ist überhaupt ein Verbot oder ein Quasi-Verbot in Zeiten von Internet und Globalisierung, wo man sich ja im Zweifel auch atomwaffenfähiges Plutonium besorgen könnte, wenn man denn wirklich will und über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügt?
Kellerhoff: Ein Verbot ist völlig unsinnig. Allein per Google findet man innerhalb von zehn Minuten mindestens 20 verschiedene deutschsprachige und zehn verschiedensprachige übersetzte Ausgaben. Und wenn man auf eine lobenswerte Seite wie archive.org geht, findet man dort teilweise 20, 30, 40 verschiedene Ausgaben von "Mein Kampf". Also, es ist völlig widersinnig, eine kommentierte, wissenschaftlich-kritische Ausgabe zu unterbinden, aber unkommentierte Ausgaben jedem per Internet zugänglich zu machen.
Jeder fünfte Deutsche hat "Mein Kampf" während der NS-Zeit gelesen
Welty: Einer der Sätze, der ja immer wieder im Zusammenhang mit "Mein Kampf" fällt, ist, da steht ja alles drin, es hätte nur jemand lesen müssen. Wie viele haben es denn gelesen? Denn verkauft hat es sich ja erst mal millionenfach, oder?
Kellerhoff: Verkauft hat es sich 12,4-millionenfach ungefähr, das ist jedenfalls die Druckauflage. Gelesen haben es nach der gängigen Sichtweise sehr wenige. Ich werde in meinem Buch argumentieren und begründen, dass ungefähr jeder fünfte Deutsche "Mein Kampf" großenteils oder sogar ganz gelesen hat.
Welty: Das ist eine nicht unerhebliche Zahl.
Kellerhoff: Das ist eine sehr erhebliche Zahl!
Welty: Bedeutet was im Umkehrschluss?
Kellerhoff: Bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass alle wissen konnten, dass Auschwitz passiert, bedeutet aber sehr wohl, dass die Aussage, man hätte gar nichts wissen können, eine Schutzbehauptung nach 1945 ist.
Welty: Und die andere Implikation ist doch: Wenn es jemand liest und Unheil erkennt, hat er auch die Traute und die Kraft, dieses Unheil zu verhindern!
Kellerhoff: Die Traute und die Kraft wünscht man allen Menschen, die Pflicht gibt es nicht. Das würde von den Menschen wiederum zu viel verlangen. Aber die Traute und die Kraft wäre wünschenswert gewesen, da stimme ich Ihnen zu!
Hitler hatte eigentlich nur zwei durchgängige politische Ziele
Welty: Es gibt ja noch ein zweites Buch, was am Ende des Tages nie veröffentlicht worden ist von Adolf Hitler. Warum ist es dazu nicht gekommen?
Kellerhoff: Das sind die außenpolitischen Betrachtungen von Mai, Juni, Juli 1928. Die sind als Hitlers zweites Buch zuerst 1961 veröffentlicht worden. Das ist eine außenpolitische Darlegung, die sich in weiten Teilen orientiert an "Mein Kampf", wenig darüber hinausgeht. Und ich glaube, ohne dass man das 100-prozentig belegen könnte, weil es einfach keine Akten und keine Aussagen darüber gibt, dass Hitler selber mit diesen Darlegungen nicht zufrieden war und dass einfach auch die Zeit darüber hinweggegangen ist. Im Mai 1928 hat die NSDAP ein sehr unbefriedigendes Ergebnis bei der Reichstagswahl erzielt, das hing auch mit der Südtirol-Frage zusammen. Daraufhin hat sich Hitler hingesetzt und außenpolitische Überlegungen diktiert, die dann aber schon Ende 1928 eigentlich überholt waren. Es ist ja nicht einmal mehr zu einer Überarbeitung dieses diktierten Textes gekommen. Er hat ihn offenbar einmal diktiert und dann sofort ins Archiv des Eher-Verlages legen lassen.
Welty: Wie zufrieden war Hitler mit "Mein Kampf"?
Kellerhoff: Er hat mehrfach darüber nachgedacht, ob es sinnvoll wäre, Überarbeitungen vorzunehmen. Aber dann ist er immer wieder davon abgekommen und hat argumentiert, dass er schlechterdings nicht einer Bewegung vorstehen könne, die von sich behaupte, eherne oder granitene Fundamente zu haben, und diese dann selbst den Gegebenheiten anzupassen. Das hat auch was damit zu tun, dass Hitler eigentlich nur zwei generelle und durchgängige politische Ziele hatte, nämlich den Kampf um Lebensraum im Osten, in Russland vor allem und im Vorfeld von Russland, und natürlich den mörderischen Antisemitismus. Alles andere an politischen Ideen, Vorstellungen ist eigentlich flexibel bei ihm. Das ist übrigens auch eine These, die ich schon seit ungefähr einem Jahrzehnt zuerst in meinem Buch "Hitlers Berlin. Geschichte einer Hassliebe" vertreten habe und von der ich glaube, dass sie noch nicht ausreichend aufgenommen worden ist in der Geschichtswissenschaft.
"Wirklich harte Lektüre"
Welty: Es heißt auch immer wieder, "Mein Kampf" ist so furchtbar schlecht geschrieben, stimmt das?
Kellerhoff: Es ist grauenhaft. Es ist ganz, ganz furchtbar, es ist ein Sammelsurium von schlecht oder grammatikalisch vollkommen falsch konstruierten Sätzen, es ist intellektuell minderwertig, es ist wirklich harte Lektüre, wenn man sich das angucken muss. Ich habe es zweimal komplett durchgearbeitet und seit dem zweiten Mal 2004 habe ich es so gut erschlossen, dass ich es jetzt zum Glück nicht ein drittes Mal komplett lesen musste. Aber es ist schon wirklich harte Lektüre.
Welty: Also, Ihr Buch ist wirklich in harter Arbeit entstanden!
Kellerhoff: Oh ja!
Welty: "'Mein Kampf'. Die Karriere eines deutschen Buchs" von Sven Felix Kellerhoff erscheint dann im Herbst. Wir haben heute schon darüber gesprochen, denn heute vor 90 Jahren wurde der erste Band von "Mein Kampf" veröffentlicht. Herr Kellerhoff, haben Sie Dank für dieses "Studio 9"-Gespräch, das wir im Übrigen aufgezeichnet haben!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.