Zufrieden wohnen im Architekturdenkmal
11:00 Minuten
Der Rundling ist eine kreisrunde Wohnanlage in Leipzig. Vor 90 Jahren erbaut, erfüllt das denkmalgeschützte Ensemble im Stil des „Neuen Bauens“ eine Vision seines Architekten Hubert Ritter auf jeden Fall: Dass sich seine Bewohner darin wohlfühlen.
An einem Vormittag um 11 Uhr: Die Sonne scheint am Siegfriedplatz und lässt die mattgelben Fassaden der Häuserzeilen ringsum erleuchten. Nur wenige der an jedem einzelnen Fenster angebrachten grünen Jalousien sind heruntergelassen.
Vier abgerundete Häuserblöcke umschließen den Siegfriedplatz, vier kleine Straßen durchschneiden das Ensemble in jede Himmelsrichtung und münden in einen Rundweg vor den Häusern. Der Platz selbst ist eine große, leicht erhöhte Wiese mit Bänken, die von zwei Wegen gequert wird.
52 Jahre im Rundling
Der Siegfriedplatz ist quasi das Herz des "Rundling" – viel los ist hier allerdings nicht, so kurz vor der Mittagsstunde an einem Arbeitstag. "Guten Tag. Wie lange leben Sie denn schon hier? Wann sind Sie hierher gezogen?" Elisabeth Krause kommt gerade vom Einkauf zurück. "Ich wohne hier 52 Jahre!"
Eigentlich will Krause gleich Mittagessen kochen und sich dann ein wenig ausruhen. Sie sei bereits 86 Jahre alt, erzählt sie lächelnd, da dauere eben alles ein wenig länger. Doch dann stellt die alte Dame ihre Einkaufstasche am Eingang zu Haus Nummer 3 ab und erinnert sich gern an die Zeit der späten 1960er-Jahre. Denn 1967 ist Elisabeth Krause gemeinsam mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann im Rundling eingezogen.
"Also zu DDR-Zeiten war das hier sehr gepflegt. In der Mitte, das Rondell, wo die alle hier durchlaufen, das war ein Rosenbeet. Und das wurde von allen gut gepflegt, dass das schön aussieht", erinnert sich Krause. "Ich kenne den Rundling noch, wo das Rondell hier ein Planschbecken war."
"Wann war das?"
"Wo es gebaut worden ist, da war ich noch nicht geboren. Ich komme aus Dösen, dort war ich aufgewachsen. Meine Geschwister, die haben mich dann im Sommer mit zum Planschbecken mitgenommen, zum Paddeln. Und das war wunderschön."
Planung von der Stadtfigur aus
Das Planschbecken und die üppigen Rosenrabatten von damals sind Geschichte. Ein kleines Blumenbeet gibt es allerdings noch. Und der Stadtteil Dösen, in dem Elisabeth Krause 1933 geboren wurde, befindet sich nach wie vor nur ein paar Straßen weiter. Die "Nibelungensiedlung", wie der Rundling offiziell heißt, wurde in den Jahren 1929 bis 1931 erbaut. Vollkommen neu konzipiert, entstand hier auf einem grünen, unbebauten Hügel die damals größte städtische Wohnanlage Leipzigs.
Annette Menting ist Architekturprofessorin und Dekanin an der Leipziger HTWK, der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur. Sie sagt:
"Beim Rundling ist die Besonderheit die markante Form, das sagt ja schon der Name. Es verweist letzten Endes auf ein Idealbild von Stadt, fast so ein bisschen wie eine Renaissancestadt. Es gibt eine klare geometrische Form, ein Zentrum, ein großer runder Platz als öffentlicher Raum des Begegnens."
Menting hebt das als Besonderheit in der Architektur des "Neuen Bauens" hervor, wenngleich es kein Alleinstellungsmerkmal davon sei: "Das heißt, der Gedanke für den Entwurf kommt nicht aus der Wohnzelle, sondern geht erst einmal von der Stadtfigur aus. Es ist wichtig, dass der Entwurf damit den Menschen auch eine Identität gibt."
Baumeister Hubert Ritter
Menting hat sich intensiv mit der Leipziger Baugeschichte und -kultur beschäftigt – im Zuge dessen kam sie an der gerade 90 Jahre alt gewordenen "Rundling-Siedlung" im Leipziger Süden nicht vorbei. Und ebenso wenig an Hubert Ritter, der als damaliger Stadtbaurat das Ensemble geplant hat.
"Als Hubert Ritter Mitte der 1920er-Jahre nach Leipzig kam, kam er nicht als Revolutionär, der alles umstürzen wollte, sondern der mit sehr viel Bedacht, mit sehr viel Suche nach Verständnis für die Kultur der Stadt versucht hat, einen sozialen Wohnungsbau zu etablieren", erklärt Menting.
"So hat sich Ritter mit der Aufgabe auseinandergesetzt, dass Leipzig expandiert ist und Wohnungsangebote geschaffen werden mussten. Und man muss sich vorstellen auf Brachen, auf Wiesen und Feldern, wo vorher keine Stadt war, musste er also neue Zentren bilden."
Eines dieser Zentren ist der Rundling. Die Wohnhäuser wurden in drei konzentrischen Kreisen um den Siegfriedplatz angeordnet. Die Gebäude am inneren Ring sind viergeschossig, die beiden äußeren Kreise haben drei Geschosse.
Baulücken nach dem Krieg
Hubert Ritter habe mit seinem Anspruch an modernes Wohnen beim Rundling bis heute in vielerlei Hinsicht Maßstäbe gesetzt, heißt es auch seitens der LWB, der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft, die als kommunales Unternehmen die denkmalgeschützte Siedlung betreut. Helle Wohnräume, grüne Innenhöfe, dazu Spielplätze für Kinder und Freiräume für die Gemeinschaft zwischen den Häusern.
Elisabeth Krause erinnert sich: "Wir sind vor 52 Jahren hierher gezogen und da war das wie überall in der DDR. Da gab es keine Unterschiede. Kohleheizung hatten wir hier. Da wurde eben die Miete festgelegt, 52 Mark haben wir bezahlt. Und jetzt bezahle ich 515 Euro für 63 Quadratmeter."
Über all die Jahre habe sie sich hier sehr wohl gefühlt, erzählt die 86-Jährige, die Wohnungen waren für damalige Verhältnisse trotz Kohleheizung modern – und sind es ihrer Meinung nach bis heute. Vollständig ist das Ensemble aber erst wieder, seitdem die LWB in den 1990er-Jahren Baulücken geschlossen hat, die seit dem Zweiten Weltkrieg die Siedlung entstellt hatten.
Elisabeth Krause hat das alles miterlebt. "Da kam der Krieg, da wurde das sehr bombardiert. Die Hälfte hier war ja ganz weg und im zweiten Ring waren viele Häuser kaputt. Ein ganzer Block, der hinter diesem steht, und auf dieser Seite auch ein ganzer Block. Und das ist zu DDR-Zeiten nicht gemacht worden. Aber nach der Wende wurde das sofort in Angriff genommen und da haben die das wieder aufgebaut. Und das ist wunderschön."
Ausgezeichnete Sanierung
Für die Sanierung des "Rundling" erhielt die LWB sogar den "Deutschen Bauherrenpreis". Die Wohneinheiten sind heute zwischen 45 und 90 Quadratmeter groß, seit dem Bau vor 90 Jahren haben sich die Grundrisse kaum verändert. Diese Bandbreite an Wohnungsgrößen sollte eine ausgewogene Sozialstruktur innerhalb der Siedlung begünstigen – vom Single-Haushalt bis zum Familienwohnen.
Seine Ideen beschrieb Planer Hubert Ritter 1930 in einem Zeitungsartikel so: "Trotz der kreisförmigen Gesamtanlage hat jedes Haus den seiner Lage und Himmelsrichtung entsprechenden Grundriss, jedes Zimmer seine besondere Zweckbestimmung. Nordzimmer wurden möglichst vermieden."
Architekturprofessorin Menting sagt: "Vielfältige Wohnungsgrundrisse, also nicht nur ein Stereotyp für die Kleinfamilie etwa oder ähnliches, sondern in den verschiedenen Ringen gibt es Wohnungen an Kleinstwohnungen bis zu Drei- und Fünfzimmerwohnungen. Das ist für eine Siedlung natürlich auch sehr wichtig, um eine Mischung von Publikum, von Bewohnern dort zu erreichen und damit auch ein vielfältiges Angebot zu schaffen, das eine Lebendigkeit in dieses neue Quartier bringt."
Kaltmiete 5,79 Euro im Schnitt
Rund 1600 Menschen leben laut LWB heute im Rundling. Die durchschnittliche Kaltmiete liege momentan bei 5,79 Euro. Für Leipziger Verhältnisse ist das unterer Durchschnitt. Der Rundling sei ein sehr begehrtes Quartier, schreibt der Vermieter, die Leerstandsquote betrage lediglich 0,8 Prozent.
Hubert Ritter verzichtete bei seiner Planung ganz im Sinne des "Neuen Bauens" darauf, Steildächer zu errichten. In den Häusern sollten Sonne, Luft und Licht für mehr Wohlbehagen sorgen. Die Treppenaufgänge etwa wurden teilweise verglast, in die Außenfassade integrierte Ritter Balkone und Loggien.
Für Annette Menting ist im "Rundling" viel Positives umgesetzt worden, was sie bei manch heutigem Bauprojekt vermisst. Allerdings, so die Architekturprofessorin weiter, müsse auch noch mit einer Sache in Bezug auf das "Neue Bauen" aufgeräumt werden: Nur weil es in die Bauhaus-Zeit fällt, dürfe man da noch lange nicht alles in einen Topf werfen.
Abgrenzung zum Bauhaus
"In diesem Jahr 2019 dominiert das Bauhaus, und es scheint fast so, als ob die 20er-Jahre nichts anderes wären als Bauhaus. Dagegen muss man sich natürlich verwehren als Architekturhistorikerin. Das war eine feine, spannende Gruppe, das Bauhaus", sagt Menting:
"Aber das wäre gar nicht möglich gewesen, wenn nicht an so vielen Orten in so vielen Städten in Deutschland Gleichgesinnte gewesen wären, die aber in anderen Konstellationen gearbeitet haben. Eben nicht in einer solchen Schule, wie es das Bauhaus war, sondern in den Stadtplanungsämtern oder als freie Architekten für bestimmte städtische Aufgaben. Es waren auch oftmals alles Unterstützer des Bauhauses. Es gab durchaus einen Austausch. Das gilt für Hubert Ritter. Das gilt für sehr, sehr viele. Aber die waren nicht am Bauhaus tätig, sie hatten einen mehr oder weniger lockeren Austausch mit dem Bauhaus."
Ziel des "Neuen Bauens" war es, weg von den industriellen Mietskasernen und dunklen Hinterhöfen des 19. Jahrhunderts neue Standards im sozialen Wohnungsbau zu schaffen. Die Gemeinschaft sollte mehr in den Mittelpunkt rücken und der einzelne Mieter sich in seiner Wohnung und seinem Wohnumfeld gleichermaßen wohlfühlen.
Bunte Mischung der Bewohner
Für Elisabeth Krause ist das Konzept aufgegangen: "Ich habe sehr viel Glück, wir haben eine wunderbare Hausgemeinschaft. Und wenn jemand in den Urlaub fährt, da wird der Schlüssel dem Nachbarn gegeben. Es ist ruhig hier, da ist kein Durchgangsverkehr. Und hier, gleich hinter dem letzten Ring, ist die Straßenbahn. Und dahinter ist eine schöne, weite Fläche und da haben sie links und rechts Felder, dann kommen Gärten. Das ist wunderbar, sie sind mitten im Grünen."
"Gibt es auch Läden drum herum? Gibt es junge Menschen?
"Ja, ja, das ist gemischt", sagt Krause. "Alte, Junge, mittleren Alters, das ist auch wunderschön so. Und in ein paar Häusern sind auch Flüchtlinge untergebracht, da kommen wir auch mit klar. Und wir haben hier zwei Friseure, einen gleich um die Ecke", sagt Krause.
"Leider ist hier vorn der Konsum geschlossen worden", bedauert Krause, aber nur kurz. "Aber das hat auch wieder sein Gutes", sagt sie. "Da kommt nämlich ein Arzt rein, eine Ärztegemeinschaft. Und das ist auch wieder gut, im Alter braucht man da nicht so weit zu laufen."