Militarisierung des Kriegsgedenkens: Welche Bedeutung der 9. Mai in Russland und in der Ukraine hat.
9. Mai in Russland
Die russische Agentur TASS zeigt schwere Geschütze auf dem Weg zur Parade am 9. Mai in Moskau. © picture alliance / dpa / TASS / Sergei Karpukhin
Kein Tag des Sieges, kein Tag zum Feiern
26:24 Minuten
Für Russland ist der 9. Mai von historischer Bedeutung. In Moskau wird der "Tag des Sieges über Nazi-Deutschland" mit einer pompösen Militärparade gefeiert. Das Militärische ist in der russischen Gesellschaft aber auch sonst tief verankert.
Russland hat heute wieder einmal seine militärische Stärke zur Schau gestellt. Kolonnen von Militärfahrzeugen und Waffen fuhren über den Roten Platz in Moskau. Mit dabei: Langstreckenraketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden und im Zweifelsfall bis nach Washington fliegen können.
Präsident Wladimir Putin trat mit Schutzweste unter dem dunkelblauen Parka ans Rednerpult. Er verglich den russischen Angriffskrieg in der Ukraine mit dem Zweiten Weltkrieg. Zu den Soldaten sagte er:
„Heute verteidigt ihr das, für das eure Väter, Großväter und Urgroßväter gekämpft haben. Der höchste Sinn im Leben war für sie die Sicherheit und das Wohlergehen der Heimat. Auch für uns, ihre Nachfolger, ist der wichtigste Wert, die Unabhängigkeit Russlands zuverlässig zu verteidigen. Diejenigen, die während des Vaterländischen Kriegs den Nazismus besiegt haben, haben uns ein ewiges Beispiel für Heldentum gegeben. Wir werden uns immer mit ihnen vergleichen. Ehre unseren heldenhaften Streitkräften! Für Russland! Für den Sieg!“
Unmissverständlich eine Drohgebärde. Russland gibt der Welt zu verstehen: Niemand ist vor uns sicher. Seit des russischen Überfalls auf die Ukraine tönt diese Botschaft noch lauter aus Moskau. Besonders eindringlich haben das die Propagandajournalisten des Kremls im staatlichen Fernsehen kommuniziert. Mal zeigen sie, wie viele Sekunden Atomraketen brauchen, um von Kaliningrad nach Berlin oder Paris zu fliegen. Mal drohen sie einem NATO-Mitglied direkt, wie der Starpropagandist Dmitrij Kiselow gegenüber Großbritannien:
„Die Insel ist so klein, dass eine Rakete vom Typ Sarmat genügt, um sie ein für alle Mal zu versenken. Eine andere Variante: die Unterwasserdrohne ‚Poseidon‘. Der Gefechtskopf hat eine Sprengkraft von 100 Megatonnen. Die Explosion erzeugt eine Welle von bis zu 500 Metern Höhe, die zudem noch eine extreme Dosis an Radioaktivität mit sich bringt. Wenn sie über die britische Insel hinwegfegt, hinterlässt sie eine radioaktive Wüste.“
Martialisches für das russische Volk
Eine martialische Sprache, an die sich die Russinnen und Russen in den vergangenen Jahren gewöhnt haben. Das Signal, das sie an die Menschen sendet: Ihr seid Teil eines der mächtigsten Staaten der Welt. Für viele Bürger sei das nach wie vor wichtig, sagt die Soziologin Jana Kurpets. Sie arbeitet am Zentrum für Jugendforschung der Höheren Wirtschaftsschule in St. Petersburg.
„Diese Idee, einem mächtigen Staat anzugehören, ist vor allem in den depressiven, unterentwickelten Regionen von Russland sehr bedeutsam. Die Menschen dort suchen nach Stabilität, und Stabilität erwarten die Russinnen und Russen vor allem vom Staat. Außerdem verleiht diese Idee den Menschen Selbstwertgefühl, weil sie einer großen Gemeinschaft angehören.“
Für Jana Kurpets zeugt dieses Phänomen auch davon, dass die russische Gesellschaft gerade in den abgehängten Regionen stark atomisiert sei. Das Bild, dass Russen gerne von sich zeichnen, das Bild von engen zwischenmenschlichen Beziehungen, sei also falsch, sagt sie.
Der 9. Mai – und die Parade auf dem Roten Platz – nehmen im Mythos des mächtigen Russlands eine immer wichtigere Rolle ein. Das sei vor allem seit 2014 zu beobachten, seit der Annexion der Halbinsel Krim, sagt der Historiker Andrej Subow:
„Erst 1965, 20 Jahre nach Kriegsende, wurde der 9. Mai in der Sowjetunion wieder als Feiertag begangen. Damals ging es dabei vor allem darum, der Gefallenen zu gedenken. Schriftsteller nannten das eine Feier mit Tränen im Gesicht. Das ist verschwunden. Heute ist die Feier ein Triumph der Stärke, sie erinnert an Stalins Militärparaden. Alle sollen sich vor Russland fürchten.“
Schon Kinder werden indoktriniert
In diesem Jahr habe diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht, so Andrej Subow. Am deutlichsten sehe man das daran, dass keine ausländischen Politiker eingeladen waren, nicht einmal der mit Putin verbündete belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko.
Diese Militarisierung ziehe sich durch alle Bereiche des Staats, so der Historiker Andrej Subow. Er kann dazu die Geschichte einer Bekannten erzählen.
„Möge immer die Sonne scheinen“ – ein Anti-Kriegslied aus sowjetischen Zeiten. Subows Bekannte wollte, dass die Kinder es im Kindergarten singen.
„Die Kinder dort, vierjährige Kinder, mussten zum 9. Mai so ein trauriges Lied lernen, ein neues Lied zum Krieg in der Ukraine. Da heißt es: Heute liegen unsere Männer wieder in der ukrainischen Erde begraben, getötet von Nazis. Als eine Mutter gesagt hat, ihr Kind wird das Lied nicht singen, sondern lieber das Lied ‚Möge immer die Sonne scheinen‘, hieß es: Das komme nicht in Frage, und gegen sie könne ein Strafverfahren eingeleitet werden.“
In seiner Ansprache zum 9. Mai stellt Russlands Präsident Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine als Fortsetzung des Krieges gegen die Nationalsozialisten dar. Eine „klassische Legitimierungsstrategie“, sagt Volker Weichsel, Herausgeber der Zeitschrift „Osteuropa“ .
Auch in den Schulen und den Universitäten versucht der Kreml, die jungen Menschen auf den Krieg einzuschwören. Unterrichtsstunden und Vorlesungen fallen aus. Stattdessen müssen sich Schüler und Studierenden versammeln, und werden von Lehren, Dozenten oder einfach von Verwaltungsangestellten indoktriniert.
Leonid Schajdurow, 19 Jahre alt, studiert an der Russischen Akademie für Nationalökonomie in St. Petersburg:
„Bei diesen Versammlungen versuchen sie irgendwie, diesen Krieg zu erklären. Sie erzählen Märchen, vergleichen die Situation jetzt mit dem Zweiten Weltkrieg. Wir müssten uns verteidigen. Außerdem hängen sie in den Universitätsgebäuden dieses Z-Zeichen auf. Weil ich das kritisiert habe, sollte ich exmatrikuliert werden. Viele Studierende werden wegen ihrer Ansichten jetzt exmatrikuliert.“
Das Ziel ist eine „militär-patriotische Ausbildung“
Schajdurow, der sich selbst als Marxist bezeichnet, kämpfte schon im Gymnasium gegen militaristische Indoktrinierung. Er gründete eine Schülergewerkschaft, die sich gegen patriotischen Unterricht wendete.
„Den Unterricht hielten Popen, also Geistliche der orthodoxen Kirche, außerdem Soldaten und Vertreter der Jugendorganisation ´Junarmija` – ‚junge Armee‘. Sie sprachen vom großen Russland, das viele Feinde hat. Außerdem sollten wir lernen, mit dem Luftgewehr zu schießen. Dafür wurde ein extra Raum eingerichtet.“
Doch Leonid und seinen Mitstreitern hätten erfolgreich gegen diesen Unterricht gekämpft. Sie boykottierten ihn und organisierten zur gleichen Zeit Philosphievorlesungen. Schließlich habe sich die Schulleitung auf ihre Seite gestellt und den patriotischen Unterricht wieder gestrichen.
Die Hymne der „Junarmija“, der „jungen Armee“. Ihr Motto: „Russland dienen“, ihr offizielles Ziel: eine „militär-patriotische Ausbildung“. Verteidigungsminister Sergej Schojgu rief sie vor sechs Jahren ins Leben. Heute hat die „Junarmija“ nach eigenen Angaben über eine Million Mitglieder zwischen acht und 18 Jahren. Einer, der sie von Anfang an unterstützt hat, ist der heute 37-jährige Max aus Moskau. Seinen Nachnamen will er nicht nennen.
„Mir hat die Idee gefallen, so patriotische Organisationen gibt es doch in jedem Land. Und dann mit einer solchen Verbreitung, im ganzen Land. Selbst in den entlegensten Orten haben die Menschen davon gehört.“
Aber warum rennen die Kinder im Reklamevideo der „Junarmija“ in Uniformen und mit Plastikmaschinenpistolen durch das Bild? Wozu lernen sie schießen, wozu der militärische Drill?
„Unser Land ist groß, enorm groß. Und wir müssen es verteidigen. Wir haben ein riesiges Land und riesige Ressourcen. Wenn Deutschland so groß wäre, gab es dort eine ähnliche Organisation mit zehnmal so viel Mitgliedern.“
Max gründete, kaum dass es die „Junarmija“ gab, eine entsprechende Gruppe im russischen sozialen Netzwerk „vkontakte“. Mitglieder begannen ihm Fotos von sich zu schicken, von Freizeitlagern und Apellen, in Uniformen oder Sporttrikot. Junge, fröhliche, stolze Gesichter. Bald gehörten über 10.000 der Gruppe an.
Heute allerdings fordert die „Junarmija“ ihre Mitglieder dazu auf, Briefe an die Soldaten in der Ukraine zu schreiben. Max fühlt sich getäuscht. Der Angriff auf ein anderes Land – das wollte er nicht mittragen. Er veröffentlichte einen Post gegen den Krieg in der „vkontakte“-Gruppe, wenige Stunden später wurde sie geschlossen. Nur seine, wesentlich bescheidenere, Gruppe auf Facebook besteht noch.
„Ich habe allen, die mich in den vielen Jahren kontaktiert haben, geschrieben. Dass unsere Nation gegen die Ukraine Krieg führt. Dass womöglich ehemalige Mitglieder der Junarmija im Krieg sind. Von keinem habe ich eine Antwort bekommen, dabei waren das Hunderte Mails an ganz verschiedene Leute.“
Was denken die Jungen wirklich?
Auch bei der Parade auf dem Roten Platz heute waren Angehörige der „Junarmija“ vertreten. Sie waren in hellbeige Uniformen und rote Mützen gekleidet.
Seit Jahren also versucht der Kreml, die Gesellschaft auf Militarismus einzuschwören. Mit Erfolg? Darüber sind sich die Expertinnen und Expertinnen nicht ganz im Klaren. Die Jugendsoziologin Jana Kurpets weist darauf hin, dass die junge Generation dem Krieg deutlich kritischer gegenüberstehe als die ältere.
„Dieser Zwang zum Patriotismus kann auch dazu führen, dass die jungen Menschen sich abgestoßen fühlen. Sie sehen: Ihnen werden Dinge erzählt, die einfach nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Es ist kein Zufall, dass bei den Anti-Kriegs-Demos vor allem junge Leute sind. Die patriotische Erziehung hatte vielleicht einen ganz anderen Effekt, als der Staat es wollte.“
Auch der Historiker Andrej Subow beobachtet die Reaktion der Russinnen und Russen auf den Krieg genau. Und auch er kommt zu dem Schluss, dass er die Menschen eher verunsichere. Patriotische Euphorie könne er kaum erkennen.
„Wenn ich in diesen Tagen durch Moskau spaziere, sehe ich an den Autos nicht diese Aufschriften wie in den vergangenen Jahren vor dem 9. Mai. ‚Nach Berlin‘ stand da oft, oder ‚Wir werden beim nächsten Mal wieder siegen‘. Die Leute freuen sich nicht über den Krieg. Sie sind auch nicht dagegen, sie können es einfach immer noch nicht wirklich glauben. Auch diesen Buchstaben ‚Z‘ sieht man selten, an städtischen Bussen, ja, aber kaum an privaten Pkw.“
Expertinnen wie Jana Kurpets geben allerdings zu bedenken: Im Moment sei es kaum möglich, fundierte Angaben zu machen. Der Krieg verändere alles. In welche Richtung er die Gesellschaft verändere, sei überhaupt noch nicht abzusehen.