A. L. Kennedy: "Der letzte Schrei"
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Verlag Carl Hanser, München 2015
203 Seiten, 19,90 Euro
Aus Liebe wird Besitzgier
A.L.Kennedy ist eine der renommiertesten Schriftstellerinnen Großbritanniens. Ihr neues Buch "Der letzte Schrei" vereint Erzählungen, die in guten Momenten auf beklemmende Weise von der Liebe erzählen, in schlechteren dagegen allzu routiniert geschrieben sind. Eine der Geschichten spielt in einem Sex-Supermarkt, in dem es als Ersatz für Liebe künstliche Vaginas mit Schokoladengeschmack gibt.
"Der letzte Schrei" ist das 16. Buch und der siebente Erzählungsband der höchst produktiven schottischen Autorin Alison Louise Kennedy. Er trägt im Original den Titel "All the Rage". Im Original schwingt also neben dem Aktuellen, dem gerade Angesagten, Modischen und Wichtigen, auch die Wut mit. Kennedy ist eine Spezialistin für die obsessiven, abgründigen und gefährlichen Seiten der Liebe, sie ist die Expertin für Liebeswut.
Was den besonderen Sound ihrer Romane und Erzählungen ausmacht, sind die gemischten Gefühle ihrer Figuren, deren verworrene Wünsche, Impulse und Begierden, die in den Halbsätzen, Gedankensprüngen, Flashbacks und ungewiss vertropfenden Überlegungen und blitzhaften Einsichten ihrer inneren Monologe zutage treten. Kennedy interessiert sich für die Kipp-Momente, in denen Liebe in Besessenheit und Besitzgier umschlägt und Zärtlichkeit in den Wunsch, zu verletzen. Und solche brisanten irrationalen Momente in ihrem Mix von Liebe, Grausamkeit, Lust, Berechnung und Kontrollverlust ereignen sich bei Kennedy immer in ganz banalen Alltagssituationen, mitten im Lebensalltag von Herrn und Frau Jedermann, die Mike oder Mark, Emily oder Dorothy heißen oder überhaupt namenlos bleiben.
Wenn aus Liebe Besitzgier wird
Da ist etwa der kleine Junge Simon (in der Geschichte «Rennen Fangen Rennen»), dem sein Vater einen Hund geschenkt hat. Die beiden tollen glücklich am Strand. Der Spaniel liebt den Jungen, hingerissen und mit atemloser hündischer Begeisterung, und Simon seinerseits liebt den Spaniel – bis er ihm plötzlich einen Tritt versetzt, den er sofort bereut. Aber er hat den Hund damit gezeichnet, ihn als seinen Besitz markiert – und das, obwohl (oder weil?) er ahnt, dass er den Hund nicht wird behalten dürfen.
Auch in der Titelgeschichte "Der letzte Schrei" geht es um den Moment, in dem Liebe in Besitzgier umschlägt. Mark ist ein routiniert untreuer Ehemann Mitte vierzig, der eine heimliche Affäre mit einem 20-jährigen Punk-Mädchen beginnt. Dass diese Emily ihm widerstandslos gestattet, alles mit ihr zu machen, was er will, dass sie lautlos in alles einwilligt, macht ihn fassungslos. Ihre unerbittliche willige Hinnahme von allem, was er ihr zufügt, versetzt ihn in ein Fegefeuer von Besessenheit und rasender Besitzlust. Er will sie als seinen Besitz markieren: "Er wollte sie nicht schlagen, er konnte nur den verzweifelten Wunsch nicht abschütteln, sie zu zeichnen. Sollte jemand anders sie nach ihm ausziehen, so würde er die parallelen Striemen entdecken, die er hinterlassen hatte." Marks Fegefeuer besteht darin, dass er Emily dennoch letztlich nicht erreichen kann. Und ihre Unerreichbarkeit vernichtet ihn, macht ihn zu einem Nichts.
Manchmal ist die Machart zu routiniert
Die Grundstimmung dieser Erzählungen ist verhangen und dunkel. Es geht um verfehlte Liebe, Einsamkeit, Ratlosigkeit und Verwirrung, um Verlust und Selbstverlust und ziellose Trauer. Viel Hoffnung auf Glück gesteht diese Autorin ihren Figuren nicht zu. Und doch gibt es Passagen von großem Witz und verzweifelter Komik, in denen der schräge Humor der Standup-Komikerin zum Vorschein kommt, als die A. L. Kennedy in Edinburgh gerne auftritt. In der Erzählung "Baby Blue" etwa verirrt sich eine deprimierte Frau, die sich gerade von ihrem Partner getrennt hat, in einen Sex-Supermarkt, in dem ihr als Ersatz für Liebe bizarre technische Gerätschaften angeboten werden, "um die Wirkung von Sex nachzuahmen". Beispielsweise künstliche Vaginas oder Kondome mit Schokoladengeschmack. Die Frau überlegt: "Ich finde, Oralsex sollte nicht in erster Linie ein kulinarisches Erlebnis sein."
Nicht alle zwölf Erzählungen dieser Sammlung halten das dichte und beklemmende Niveau der besten Stücke. In den schwächeren Geschichten merkt man, dass sich A. L. Kennedy auf die Wirkung ihres eigentümlichen Sounds inzwischen allzu sehr zu verlassen beginnt. Die routinierte Machart fällt da stärker auf, als den Texten guttut. Dennoch: Es gibt kein neues Buch von A. L. Kennedy, das nicht unbedingt lesenswert wäre.