A.L. Kennedy: "Süßer Ernst"
Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel
Hanser Verlag, München 2018
560 Seiten, 28 Euro
Ein Lächeln im Moloch der Anonymität
In ihrem neuen Buch erzählt A. L. Kennedy davon, wie einsam Menschen in einer Großstadt wie London sein können. Zwei von ihnen begegnen sich in ihrer Geschichte. Anonym als Brieffreunde. Bis einer dem anderen auflauert.
Sie ist fraglos eine der ganz Großen: Alison Louise – besser bekannt unter dem Kürzel A. L.– Kennedy. Die schottische Autorin, die heute in London lebt, schreibt so böse und perfid, so gesellschaftspolitisch empört und seelentief, so scharfsinnig und zärtlich, dass man als Leser mal schreckensbleich, mal enthemmt kichernd oder zart summend in ihren Fängen zappelt.
Brillant und fordernd ist auch ihr Roman über Jon und Meg, das ungleiche Paar, das sich tatsächlich lieben lernt. Sich jedenfalls am Abend des Tages liebt, an dem dieser Roman spielt.
Briefe schreiben gegen die Einsamkeit
Jon, aus kleinen Verhältnissen stammend, hat es zum hohen Staatsbeamten gebracht. Ein Mann in guten Anzügen und teuren Mänteln, die ein zerfasertes Inneres schützen. Er ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Ein Mann mit Anstand, der es kaum erträgt, in die fiesen Machenschaften der täglichen Regierungspolitik verwickelt zu sein. Zudem hat ihn seine Frau, zum Glück inzwischen Ex-Frau, wohl mit fast allen Kollegen betrogen, derer sie habhaft werden konnte.
Jon lebt im Job und privat isoliert – und gefährdet sich auch noch als Whistleblower. Als Ausgleich bietet er sich eines Tages per Anzeige an, Briefe an einsame Frauen zu schreiben. Wohin sonst mit seinen Gefühlen?
Es melden sich einige. Auch Meg, die seine Briefe so zart und freundlich beantwortet, dass sie ihn berühren. Und so finden zwei Bedürftige zueinander. Auch sie braucht seine Zeilen dringend. Sein vermeintliches Denken an sie, seine Zärtlichkeit. Die seit einem Jahr trockene Alkoholikerin, einst Wirtschaftsprüferin, jetzt Bürokraft in einem Tierheim, kämpft um ihre Abstinenz, um sich.
Ein eloquenter Beamter gerät ins Stottern
Eines Tages spürt sie Jon an dem Postamt auf, in dem er die dort lagernden Briefe abholt. Sie erkennt ihn am Rhythmus seiner Schritte – sie passen zu seinem Schreibstil. Der gewiefte und sonst so eloquente Staatsbeamte verwandelt sich in ein stotterndes Nervenbündel, bis die versehrte Frau schließlich beherzt nach seiner Hand greift.
Sie be-greift, was er denkt. Und wir wissen es. Denn Kennedy unterbricht die Erzählung, die Dialoge – oft nach nur wenigen Sätzen – mit kursiv und klein gedrucktem Unausgesprochenem. Wir werden aus dem Erzählfluss geangelt und erst wieder hineingeworfen, nachdem wir die Gedankenkanäle durchkrochen haben. Das macht die Lektüre spannend und anstrengend gleichermaßen.
Pochend mit dem Herzschlag von London
"Süßer Ernst" ist ein vibrierender Roman. Zornend ob der bestehenden Verhältnisse, ob des Wahnsinns des Brexit, der mit keinem Wort erwähnt wird; pochend mit dem Herzschlag von London. Zwischen die Kapitel eingestreut lesen wir Momentaufnahmen der Stadt. Menschen in Pubs, auf Bahnhöfen, auf Plätzen. Verwirrte oder zuvorkommende Menschen, mitfühlend und hilfsbereit. Szenen, in denen immer wieder ein lächelndes Gemeinschaftsgefühl entsteht im Moloch der Anonymität.
Und genau darum geht es in diesem Roman: um Freundlichkeit und Zuwendung in kalten Zeiten, um Aufmerksamkeit für den anderen. Um die Süße der Gefühle, wenn man andere respektiert, sie ernst nimmt. Süßer Ernst.