A.L. Kennedy: "Süßer Ernst"
Aus dem Englischen von Susanne Höbel und Ingo Herzke
Hanser Verlag, München 2018
560 Seiten, 28 Euro
"Die größte erogene Zone ist das Gehirn"
Auch das neue Werk der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy spart nicht mit bösen Sätzen. "Süßer Ernst" ist Politik-, Liebes- und London-Roman in einem. Er begleitet einen Tag eine Frau und einen Mann, die sich auf spezielle Weise kennenlernen.
Joachim Scholl: Mit vollem Namen heißt sie Alison Louise Kennedy, aber die literarische Welt kennt sie nur als A.L. Kennedy, und so als eine der berühmtesten Schriftstellerinnen, die je aus Schottland kamen. Ihre Romane und Erzählungen werden international gelesen. Auch bei uns hat A.L. Kennedy eine große Leserschaft, die ihren scharfen, ja auch oft erbarmungslosen Blick auf Menschen und die Gesellschaft schätzt. Hier in unserem Programm hat es die Literaturkritikerin Sigrid Löffler einmal so formuliert, in diesem schönen Satz: Es gibt kein neues Buch von A.L. Kennedy, das nicht unbedingt lesenswert wäre. Willkommen im Deutschlandfunk Kultur, Mrs. Kennedy!
Alison Louise Kennedy: Danke, thank you!
Scholl: Ihr neues Buch, Ihr neuer Roman heißt "Süßer Ernst". Im Original ist es genau andersherum, nämlich "Serious Sweet". Was ist denn für Sie bedeutsamer, das Süße oder das Ernste?
Kennedy: Eigentlich beides zusammen, aber es gab ziemlich viele tief gehende Gespräche zwischen meinem Lektor und mir, was die Reihenfolge dieser Worte für die deutsche Übersetzung betraf. Man hat ja gewisse Erwartungen, es soll was Ernsthaftes und Literarisches sein, nicht nur ein Liebesroman oder so. Und es ist ja im Englischen schon ein nicht ganz korrekter Ausdruck, "Serious Sweet". Und da was Entsprechendes, nicht ganz Korrektes auf Deutsch zu finden, ist nicht ganz so einfach. Für mich ist wirklich beides wichtig. Man kann das so oder so gewichten, eines muss eben zuerst kommen, und im Deutschen ist es nun "süß", und das ist auch okay. Warum nicht?
Die beiden Figuren sind vom Leben gebeutelt
Scholl: Wir sind in London in Ihrem Buch, an einem einzigen Tag, gut 24 Stunden, von frühmorgens an, und wir begleiten zwei Figuren, den hohen Regierungsbeamten Jon Corwyn Sigurdsson, Ende 50 ist er, und die ehemalige Wirtschaftsprüferin Margaret Meg Williams, Mitte 40. Beide sind ziemlich gebeutelt vom Leben, Jon von einer gescheiterten Ehe und permanentem Frust im Büro, und Meg hat ihre Existenz im Alkohol ertränkt, ist jetzt ein Jahr trocken. Und die beiden lernen sich auf eine sehr spezielle Weise kennen. Wie denn genau?
Kennedy: Menschen verlieben sich ja über den Kopf, über ihren Geist. Die größte erogene Zone ist ja das Gehirn. Jon Sigurdsson ist ein ganz schüchterner Mensch, und er schreibt aber gerne Liebesbriefe. Also schaltet er eine Anzeige, in der er sagt, ich schreibe Ihnen Liebesbriefe. Er erwartet da keine Antwort, und er bekommt auch keine Antworten darauf normalerweise. Aber er ist sozusagen zur Hälfte in so einem Liebesleben drin. Aber dann erhält er doch mal eine Antwort, und die gefällt ihm sehr gut, und sie beschließen, sich zu treffen, sich kennenzulernen, was natürlich unheimlich aufregend ist. Aber über diese Briefe kennen sie sich eigentlich schon, bevor sie direkt in Kontakt kommen.
Scholl: Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht zu viel verraten, Mrs. Kennedy. Die beiden werden sich wirklich dann treffen. Zuvor gibt es allerdings 24 turbulente Londoner Stunden, kann man sagen. Und bei einem Roman, der nur an einem einzigen Tag spielt, erinnern sich kundige Leser natürlich sofort an den einen, großen, oft ungelesenen Roman der Weltliteratur, an den "Ulysses" von James Joyce. 24 Stunden Dublin anno 1904. Bei Ihnen sind es 24 Stunden London im Jahr 2015. Was war denn Ihre Idee mit diesem einen einzigen Tag?
Kennedy: Mir ging es da vor allem um Druck. Ich wollte diese Figuren wirklich unter Druck setzen, sie den schlimmsten Tag erleben lassen, der gleichzeitig eigentlich auch der beste sein könnte. Und klar, diese Stadt als Setting von den 24 Stunden, das macht auch Angst, wenn man dann an James Joyce oder Virginia Woolf denkt, die so was gemacht haben. Aber ich hab versucht, als ob das gar nicht ins Bild passt, ich hab versucht, nicht an die zu denken und das einfach zu machen. Diese Idee hat mir gefallen, Menschen in so einen kleinen Raum zu sperren, zu pressen, 24 Stunden lang, um zu gucken, was am Ende dabei herauskommt. Ob sie sich verlieben ineinander, ob sie sich mögen, was sich ändert, oder ob sie zusammenbrechen und was dann passiert und wie es weitergeht. Ob sich vielleicht die Welt ändert oder nicht. So ein bisschen, was in Großbritannien jetzt passiert. Da gucken wir ja auch, bricht jetzt alles zusammen, oder geht es noch weiter. Oder wir gucken und wir freuen uns, wenn es vielleicht noch Lebensmitteldosen gibt, für die wir dann dankbar sind.
"Das Land der leichtgläubigen Trottel"
Scholl: Weil Sie es gerade ansprechen: Sie haben diesen Roman vor der Brexit-Entscheidung verfasst. Man liest ihn jetzt aber automatisch so als Stimmungsbarometer – zumindest mir ging das so. Und wenn man Sätze liest wie "Großbritannien ist das Land der leichtgläubigen Trottel", wie Jon einmal sagt, oder "Wir haben vergessen, was in der Geschichte funktioniert und was nicht", da denkt man, Ihr Buch ist jetzt so was wie eine self fulfilling prophecy, also eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geworden. Geht es Ihnen auch so?
Kennedy: Ja, es war schon möglich, vorauszusehen, das irgendwas Schreckliches passieren würde. Man wusste nicht genau, was, aber man wusste, dass irgendwas passieren würde. Und Jon liefert Fakten, aber die Führer sind nicht interessiert an Fakten. Sie sind auch nicht interessiert an der Liebe, sie sind nicht interessiert an Freundlichkeit. Deswegen war mir klar, es muss irgendwie eine Liebesgeschichte sein aus der Verwaltung des Staates sozusagen, aus dem Verwaltungssystem. Zumindest von jemandem, der nicht weiß – oder wir wussten nicht, welche Katastrophe lauert, aber irgendwie war klar, dass ein Zug kommen wird, der uns alle überrollt. Dass das dann der Brexit war, war insofern überraschend, dass dieser Zug so wahnsinnig dumm war. Das ist so, als ob man sich aus Versehen anzündet. Das war unglaublich dämlich. Wenn man jetzt Trump sieht, das ist sozusagen eine dumme Variante von Watergate. Und wir, was wir in England, in Großbritannien machen, ist, dass wir jetzt ständig zusammengesetzte Schimpfworte erfinden im Stil, wie die Deutschen das machen, solche Worte, das ist eigentlich der einzige Industriezweig, der zurzeit noch wächst.
Regierungsbeamte bei Lesungen
Scholl: Jon ist ein hoher Ministerialbeamter, aber er ist furchtbar enttäuscht von seinem Job, und ihm gehen viele böse Sätze durch den Kopf. Sie, A.L. Kennedy, sind bekannt für besonders präzise böse Formulierungen. Einen Satz habe ich mir rausgeschrieben, classical A.-L.-Kennedy-Style: "Der Handschlag des Ministers fühlt sich an, als würde man warme Scheiße in einer Socke gereicht bekommen." Warum ist Jon eigentlich so frustriert, so genervt, so wütend geworden auf alles und jeden, der ihm auf den Regierungsfluren von White Hall begegnet?
Kennedy: Das war leider ein echter Eindruck, den ich bekam, als ich einem wirklichen Minister die Hände geschüttelt habe. Der fühlte sich leider genauso an, wie er war. Ich hab das erlebt bei Lesungen, dass Regierungsbeamte oder Verwaltungsangestellte extrem frustriert waren und das auch geäußert haben, dass sie gesagt haben, wir können wirklich nichts machen. Egal, was wir sagen, egal, welche Warnungen wir aussprechen, man hört uns einfach nicht zu. Man will uns nicht zuhören, man will nicht hören, dass, wenn man ein Streichholz anzündet und sich mit Benzin übergießt, dass man dann brennt. Das wollen die Leute nicht hören. Sie arbeiten sich ab in ihren Abteilungen, und keiner hört ihnen wirklich zu. Und Jon arbeitet in so einer Abteilung, die Geld an Behinderte, an Kranke und so weiter herausgibt, an Bedürftige. Und jetzt sind aber die Mittel gekürzt worden, es ist kein Geld da. Er kann also seine Arbeit nicht richtig machen, er kann nicht helfen. Er kann nicht gut sein, die Bedürftigen gehen leer aus, und er ist wütend darüber, er ist traurig. Und er hat so eine Wut in sich, so viele Beschimpfungen, die er gern sagen würde, so viele Ausdrücke, die er aber alle verschweigt, denn er muss ja höflich bleiben.
Über die Freundlichkeit der Großstädter
Scholl: Ihr Roman, A.L. Kennedy, ist ein politischer Roman, und er ist ein Liebesroman, aber er ist auch ein London-Roman. Wir sind zwar den ganzen Tag über auch viel in den Köpfen von Jon und Meg, im inneren Monolog, aber dazwischen streuen Sie so London-Szenen ein, so auf den Straßen, in der U-Bahn, auf öffentlichen Plätzen. Das sind so eine Art Schnappschüsse von Menschen und Situationen. Alle wirken auch so realistisch und authentisch, dass man das Gefühl hat, Sie seien als Autorin vielleicht selbst eine Zeit lang durch London gefahren mit einem Notizblock und einfach aufgeschrieben haben, was Sie gesehen haben. War das so?
Kennedy: Ja. Die Aufgabe eines Jahres bestand für mich darin, durch die Stadt zu fahren und nach Freundlichkeit zwischen den Menschen zu suchen. Rumzulaufen und zu gucken, wo Menschen nett zueinander sind. Und wenn man guckt, findet man das auch durchaus. Das braucht jede große Stadt, sonst würde es gar nicht funktionieren. Auch wenn in der Zeitung steht, oh, die Leute sind da draußen und rennen rum, um euch zu ermorden. Wenn man nur das sucht, dann findet man das wahrscheinlich auch. Aber die Freundlichkeit ist da, und sie ist notwendig, und man braucht sie auf jeden Fall. Das ist wirklich wahr. Und es ist jetzt nicht so, dass ich jetzt immer helfend in Situationen eingegriffen habe, denn meistens waren die anderen Leute viel schneller, wenn da jemand die Treppe runterstürzte. "Ja, warum hast du ihm nicht geholfen?" "Weil ich gar nicht so schnell rennen kann, ich bin schon zu alt, um so schnell am Tatort zu sein."
Scholl: Aber an einer anderen Stelle heißt es auch, man sollte London nicht den Rücken zukehren, denn es war ein gerissenes altes Biest – auch ein klassischer A.L. Kennedy-Satz. Was ist denn so biestig an London. "You shouldn't turn your back to London because it's a clever old beast."
Kennedy: Es ist ein seltsamer Ort, sehr alt, mit sehr vielen historischen Schichten, dem Establishment, der Macht des Empire – all das steckt in dieser Stadt. Und es gibt so viele verschiedene Bedeutungen der Macht, verschiedene Ideen davon, was es ist, und jetzt ist da eine alte Macht, die sich wieder aufdrängt oder wieder entsteht, diese Idee von raus aus der EU, zurück ins 18. Jahrhundert. Das ist natürlich einerseits verführerisch, sich das vorzustellen, aber andererseits ist es auch komplett wahnsinnig. Wir haben keine Zeitmaschine, aber Boris Jonson scheint zu denken, wir hätten eine – oder vielleicht auch nicht. Wer weiß, was in seinem blonden Kopf vorgeht.
Scholl: "Wir sind zwei arme Ärsche", sagt Meg gegen Schluss, und ich hatte beim Lesen die ganze Zeit diesen alten Pink-Floyd-Song im Kopf, "Wish you were here" mit diesen Zeilen "We are two lost souls swimming in a fish bowl, year after year", zwei verlorene Seelen im Fischteich oder hier besser im Riesenozean London. Hatten Sie vielleicht auch irgend so eine Melodie im Kopf, A.L. Kennedy?
Kennedy: Vielleicht – aber ich glaube, Elvis Costello. Ich liebe Elvis Costello. Ein bisschen dunkel, aber süß. Ja.
Scholl: Danke schön, A. L. Kennedy, für dieses Gespräch. Thank you for being with us!
Kennedy: Vielen Dank!
Scholl: Und der Roman von A.L. Kennedy, "Süßer Ernst", ist jetzt im Hanser-Verlag erschienen, mit 560 Seiten zum Preis von 28 Euro, übersetzt von Susanne Höbl und Ingo Herzke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.