Abbas Khider: "Der Erinnerungsfälscher"

Platz schaffen für neue Geschichten

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Das Cover von "Der Erinnerungsfälscher" zeigt den Buchtitel und den Autorennamen. In der Bildmitte fliegt eine gezeichnete Taube.
© Hanser-Verlag

Abbas Khider

Der ErinnerungsfälscherHanser, München 2022

126 Seiten

19,00 Euro

Von Meike Feßmann · 27.01.2022
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Seine Romanhelden ähneln oft ihm selbst. Abbas Khider schreibt über politische Verfolgung, die Flucht aus dem Irak und das Ankommen in Deutschland. In seinem aktuellen Buch machen die Erinnerungen Platz für eine neue Zugehörigkeit.
Was für ein „romantischer Käse“! Ob er ein „europäischer Orientalist“ geworden sei, fragt Hakim seinen Bruder Said, der für ein paar Tage aus Berlin nach Bagdad zurückgekehrt ist, um die kranke Mutter noch einmal zu sehen.
Said möchte auf dem Dach des Hauses schlafen, davon hat er in der Fremde geträumt. Auf dem Dach zu liegen und „die Sterne zu zählen“, das sei seine schönste Erinnerung. Hakim empfiehlt ihm, einen Arzt aufzusuchen, er müsse „riesige Löcher im Gedächtnis“ haben. Nachts werde in Bagdad geschossen. Irgendwelche Kämpfe zwischen Milizen, Banden und Sicherheitskräften gäbe es immer.

Erinnerungen werden kurzerhand erfunden

„Der Erinnerungsfälscher“ spielt im Juni 2014. Said Al-Wahid ist noch nicht lange Schriftsteller. Vor Kurzem hat er entdeckt, dass ihm das Schreiben leichter fällt, wenn er nicht nach Erinnerungen kramt, sondern sie bei Bedarf einfach erfindet. Warum auch sollte er sich den Qualen des Erinnerns aussetzen, wo sein Leben gespickt ist mit schmerzlichen Erfahrungen?
Der Vater wurde in Bagdad hingerichtet, als er acht Jahre alt war, seine ältere Schwester wurde bei einem Bombenattentat zerfetzt, mit ihrem Mann und zwei Kindern. Vier Jahre dauerte Saids Flucht, die ihn schließlich nach Deutschland führte, zunächst nach München, dann nach Berlin.

Reise zur sterbenden Mutter nach Bagdad

Als ihn die Nachricht seines Bruders erreicht, die Mutter liege im Sterben, kommt er gerade von einer Podiumsdiskussion in Mainz. Statt zurück nach Berlin zu seiner Frau Monica und dem zweijährigen Sohn Ilias zu fahren, macht er sich auf zum Frankfurter Flughafen.
Die Reise seines Helden zur sterbenden Mutter ist eine Art Ariadnefaden. Er leitet uns durch die zersplitterten Bilder des nunmehr sechsten Romans des 1973 in Bagdad geborenen deutschen Schriftstellers.
Er ist nüchterner erzählt als die Romane, mit denen er bekannt wurde: sein Debütroman „Der falsche Inder“ (2008), „Die Orangen des Präsidenten“ (2011), „Brief in die Auberginenrepublik“ (2013).

Versionen von Khiders eigener Biografie

Wie zuletzt „Palast der Miserablen“ (2020) erzählen Khiders Romane fiktionalisierte Variationen seiner Lebensgeschichte. „Erzähle dir deine Geschichte selbst so oft, bis du glaubst, alles wäre in Wirklichkeit genau so geschehen“, heißt es in „Ohrfeige“.
Was wahr ist und was erfunden, lässt sich nicht unterscheiden, auch wenn Abbas Khider in Interviews einzelne Elemente beglaubigt. Was sonst sollte er tun mit dem großen Interesse an seiner Person, an einem Autor, der vor Saddam Hussein flüchtete und dessen „Trauerlachen“ geradezu legendär geworden ist im deutschen Literaturbetrieb?

Aus den Krakenarmen der Erinnerung befreien

In „Deutsch für alle“ (2019), seinem klugen und witzigen „Lehrbuch“ über die grauenhaften Klippen der deutschen Sprache, hat er etwas von dem Ton erkennen lassen, der in seinem jüngsten Roman anklingt.
Die „neuen Wurzeln“, die Saids Sohn Ilias in Berlin schlägt, werden zum Zentrum einer neuen Form der „Zugehörigkeit“. In gewisser Weise ist es der Sohn, der den Stammbaum des Vaters verankert.
„Der Erinnerungsfälscher“ ist ein schmales Buch und ein großer Schritt in einem Werk, das sich aus den Krakenarmen der Erinnerung befreit, um andere Geschichten zu erfinden.
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