Abbas Khider: "Palast der Miserablen". Roman
Hanser Verlag, München 2020
318 Seiten, 23 Euro
Ein Faustschlag gegen eine geschlossene Tür
06:01 Minuten
Bagdad in der Zeit Saddam Husseins: Der junge Sham wird durch Zufall mit dem Literaturvirus infiziert – und gerät in die Fänge der Geheimpolizei. In seiner Zelle erinnert er sich an einen Alltag zwischen Hoffnung und Angst. Und preist die Kraft der Literatur.
Wir haben uns angewöhnt, persönliche Schicksale auf Zahlen zu reduzieren. Soundsoviele Arbeitslose, soundsoviele Seuchenopfer, soundsoviele Flüchtlinge im Mittelmeer. Auf diese Weise kann man umgehen mit niederschmetternden Geschichten, die kein gutes Ende nehmen wollen. Und vielleicht lässt sich nur so all das Elend und Leid dieser Welt ertragen.
Was aber, wenn jemand die Zahlen in Menschen zurückverwandelt? Eine dieser Geschichten erzählt? Die Tür öffnet in eine Welt, deren Existenz man verdrängt?
Abbas Khider tut das in seinem neuen Roman "Palast der Miserablen" – direkt und schnörkellos. Khider, Flüchtling aus dem Irak, einst Folteropfer und Flüchtling, dann Student der Literatur und Philosophie, besitzt seit 13 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Er ist ein deutscher Schriftsteller, seine literarischen Arbeiten werden hierzulande regelmäßig ausgezeichnet. Die Themen sind Flucht, Exil, traumatische Erfahrungen.
Wenn Khider nicht gerade – wie in seinem letzten Buch – eine Reform der deutschen Sprache anregt, erzählt er überwiegend aus dem Kulturkreis, in dem er geboren wurde. Von Erfahrungen, die ihn oder seine Generation prägten. Und meist mit wunderbarem Humor, der auch das schlimmste Geschehen irgendwie aushaltbar macht.
Leidenschaft für Literatur
In "Palast der Miserablen" liefert Abbas Khider diesen Airbag jedoch nicht mit. Der Autor beschreibt den Alltag in einer Diktatur, die Armut und was sie mit den Menschen macht. Er findet unpathetische Bilder für das Leben kleiner Leute zwischen Hoffnung und Angst, für die Folgen der zahlreichen Kriege des Irak, für sozialen Druck und politische Unterdrückung.
Zugleich jedoch zeugt der Roman von einer tiefen Liebe zu den Menschen, ihren Eigenarten und Schwächen. Khider erzählt mit weltkluger Zärtlichkeit von seinen Figuren. Und begeisternd von der Leidenschaft für Literatur.
Der "Palast der Miserablen" liegt in Bagdad, ist die Wohnung eines Blinden und acht Literaturbegeisterter, die sich dort in unregelmäßigen Abständen treffen. Einer von ihnen ist der junge Shams, der Ich-Erzähler. Saddam Hussein ist noch an der Macht, er wird von vielen gehasst, von allen gefürchtet.
Shams stammt aus dem Süden des Irak und ist mit Eltern und der Schwester nach dem Aufstand der Schiiten 1991 in ein Armenviertel Bagdads gezogen. Dort, hatte sein Vater gesagt, seien sie sicherer vor Verfolgung und Willkür der regierenden Baath-Partei.
Beängstigende Szenen
Die Mutter verdient Geld mit Wahrsagerei, der Vater mit Trägerdiensten auf dem Bazar. Shams verkauft halbwegs brauchbare Gegenstände, die er auf der Müllhalde findet. Irgendwann ergattert er einen Job als Verkäufer auf dem Büchermarkt, liest einen Roman von Moravia und ist seitdem mit dem Literaturvirus infiziert. Bücher helfen ihm, das Elend auszuhalten, sich selbst neu zu sehen, eine andere Zukunft zu imaginieren, als in seiner Umgebung vorgesehen.
Khider erzählt Shams Geschichte retrospektiv, parallel zu beängstigenden Szenen aus dem Gefängnis. Denn nachdem sich der Kreis der Literaturliebhaber aufgelöst hat, gerät Shams in die Fänge der Geheimpolizei. Anders als seine Freunde aus dem Palast der Miserablen hatte er nicht die Möglichkeit, das Land zu verlassen. Und vegetiert nun in einer Zelle, vergessen von den Schergen Saddams, die einfach verschwinden, als Bush junior den Irak 2003 angreifen lässt.
Der Roman ist das Porträt eines Landes, das bis heute nicht zur Ruhe kommt. Eine irakische Coming of age-Geschichte. Ein Faustschlag gegen eine geschlossene Tür.