"Wir sind abgeschnitten von der Welt"
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In vielen ländlichen Regionen in Ostdeutschland ist nicht nur die Mobilnetzabdeckung lückenhaft, sondern auch der öffentliche Nahverkehr. Die Hochschulstadt Köthen ist derzeit sogar komplett vom Bahnnetz abgekoppelt - und zwar für Monate.
Die Bahnhofsvorhalle in Köthen ist komplett verwaist, kaum ein Mensch zu sehen. Einer der wenigen ist Enrico Meinhardt. Er studiert im anhaltischen Köthen Biomedizintechnik und ist derzeit auf den Schienenersatzverkehr, den Bus, angewiesen.
"Da ist ja auch das Blöde, dass man das Fahrrad nicht mitnehmen kann", das er aber brauche. Der Student schüttelt verständnislos den Kopf, dass man die 30.000-Einwohner-Stadt Köthen vom Bahnverkehr komplett abkoppelt. Es fahre absolut kein Zug – und das nicht nur für ein paar Tage, sondern bis April 2020. Kein Aprilscherz, sagt er noch. Und grinst: "Also gar keinen Zug fahren zu lassen, ist wirklich bescheuert. Da haben sich wieder schlaue Leute drangesetzt an die Planung."
Wie aus vier Wochen Sperre vier Monate werden
Ursprünglich sollte der Bahnhof Köthen für nur vier Wochen gesperrt werden. Doch dann gab es Anfang Dezember eine lapidare Mitteilung der Bahn, dass es massive Probleme mit dem Baugrund gebe und dass sich die Bauarbeiten um fünf Monate verlängern würden. Weshalb in der Bachstadt Köthen – die an der Hauptschlagader Sachsen-Anhalts, an der Bahnlinie Magdeburg-Halle liegt – frühestens im April 2020 die Züge wieder rollen würden.
"Ich habe viele im Bekanntenkreis, die nach Halle, nach Magdeburg müssen", sagt Anwohnerin Simone Walter. "Für die ist es richtig schlimm. Wir sind abgeschnitten von der Welt. Wer kein Auto hat, der sieht ganz dolle alt aus. Ich weiß auch nicht, was hier los ist."
In einer Pressemitteilung der Bahn heißt es: Man bedauere die Unannehmlichkeiten und bitte um Entschuldigung. Und man weist alle Schuld von sich. Wie es heißt, habe man "selbstverständlich vor Baubeginn den Baugrund sorgfältig von Geologieexperten überprüfen lassen." Alle Bauhindernisse, Probleme mit der Tragfähigkeit des Bodens seien aber erst im Laufe der Bauarbeiten aufgetreten.
"Wir haben mal eine super Anbindung gehabt"
"Auf Deutsch gesagt: Viele fühlen sich verarscht", sagt dazu die Köthenerin Christina Buchheim, Landtagsabgeordnete der Linkspartei im Magdeburger Landtag. "Es heißt, es war doch vorhersehbar, dass so eine Baumaßnahme in dem Zeitraum nicht zu schaffen war." Die Sperrung sei ein Desaster für die ganze Region.
"Wir haben mal eine super Anbindung gehabt, ICs haben in Köthen gehalten. Wir sind ein Drehkreuz, haben in alle Richtungen Verbindungen gehabt und sind jetzt komplett abgekoppelt."
Klar ist aber auch: Der Bahnknoten Köthen muss saniert werden. Große Teile stammen noch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als es von Köthen aus noch Direktverbindungen nach Wien, Hamburg oder Wiesbaden gab. Teile der Bahnsteige sehen wie vor 100 Jahren aus. Die alten Holzbänke lösen bei manchem einen Nostalgie-Flash aus.
Warten auf konkrete Antworten
Bernd Hauschild, der SPD-Oberbürgermeister, beklagt die Informationspolitik der Bahn, den teilweise arroganten und schnöden Umgangston der Bahnvertreter: "Ich sehe Köthen als abgekoppelte Region. Das muss ich klar und deutlich sagen. Diese richtige Erklärung, warum es denn wirklich nicht anders geht, die fehlt mir."
Die Bauverzögerungen waren auch Thema im Verkehrsausschuss des Magdeburger Landtags. Es habe keine konkreten Antworten gegeben, wie lange die Bauarbeiten wirklich dauern werden, sagt SPD-Mitglied und Landtagsabgeordneter Ronald Mormann.
"Ist natürlich für Köthen nicht imagefördernd, klar. Wenn man überlegt, wir haben 3000 Studenten, von denen 1100 Ausländer sind. Die ausländischen Studenten haben natürlich kein Auto, von den anderen haben auch nur wenige eins. Weshalb man sagen kann, zwei Drittel der Studentenschaft sind abgekoppelt. Und wenn man sich das für die wissenschaftlichen Mitarbeiter vorstellt, dann ist das sehr problematisch."
Er kenne bundesweit keine Hochschulstadt, die man einfach mal so vom Bahnverkehr abklemme. Mormann verlangt von der Bahn einen Zwischenbericht, damit man wisse, wie lange die Vollsperrung exakt dauere.
Der Fahrgastverband Pro Bahn kritisiert die Baupläne. Es müsse an so einer neuralgischen Stelle rund um die Uhr gearbeitet werden. Stattdessen würden werktags die Arbeiten schon um 16 Uhr beendet werden, am Wochenende sähe man gar keine Bauarbeiter, sagt Tom Bruchholz von Pro Bahn Mitteldeutschland.
So langsam wie zu Kaisers Zeiten
Derzeit brauchen Reisende – wegen der Vollsperrung in Köthen – für die knapp 90 Kilometer lange Strecke zwischen Halle nach Magdeburg, je nach Verbindung, zwischen 80 und 130 Minuten. So langsam sei man wahrscheinlich letztmalig zu Zeiten des Kaisers unterwegs gewesen.
Tom Bruchholz wundert sich darüber nicht. Denn Sachsen-Anhalt würde von der Bahn generell stiefmütterlich behandelt werden, sagt er noch: "Magdeburg als Landeshauptstadt ist ganz schlecht angebunden. Es gibt keinen ICE. Die Strecke nach Berlin, die gibt es nur als Regionalexpress. Es gibt einen IC am Tag. Das ist unvorstellbar. Es kann nicht sein, dass die Leute nur mit dem Bummelzug in die Bundeshauptstadt kommen und dabei wertvolle Zeit einbüßen."
Am Ende hilft nur noch Sarkasmus
Der Landtagsabgeordneter Ronald Mormann ist nur noch sarkastisch: "Ja, das muss damit zu tun haben, dass Köthen einer der ältesten, wenn nicht der älteste deutsche Bahnverkehrsknotenpunkt ist, weit über 150 Jahre alt. Und vielleicht wollte man einfach mal wieder so einen Urzustand herstellen."
Und dieser Urzustand bleibt den Köthenern wohl auch noch länger erhalten. Denn wenn der Bahnknoten Köthen einmal saniert ist, wartet bereits der nächste sanierungsbedürftige Streckenabschnitt kurz vor Köthen auf Reparaturarbeiten. Die nächste Vollsperrung kommt bestimmt.
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