"Frau Toni, mir geht es gut"
Acht Jahre lebt Mohamed teilweise illegal in Deutschland, unterstützt von einem Ehepaar, das ihn wie einen Sohn aufnimmt. Dann ist Schluss: Im Sommer des Jahres 2001 wird Mohamed abgeschoben. Was ist inzwischen aus dem Algerier geworden?
Wenn das Telefon klingelt, geht Antoinette Altehoefer mit schnellen, kleinen Schritten zur Holzkommode im Esszimmer, auf der ein alter grüner Apparat steht. Meist rufen die Kinder an, oder die Enkel. Doch einmal im Monat kommt ein Anruf aus Nordafrika.
"Hi, Frau Toni!" "Mohamed! Schön, dich zu hören!"
Am anderen Ende der Leitung sitzt Mohamed Messaoudi in Oran, einer Stadt im Norden Algeriens. Seit 17 Jahren meldet er sich regelmäßig, einmal im Monat. Antoinette Altehoefer – 80 Jahre alt, kurze, graue Haare, moosgrüner Rollkragenpullover – dreht sich dann zum Fenster, als könnte das den Empfang verbessern. Immer wieder wird die Verbindung unterbrochen. "Kannst du mich hören?"
Der Kampf um Asyl in einer grünen Mappe
"Das Haus meiner Eltern und das Haus meiner Großeltern stehen nebeneinander. Und es ist durch einen Garten verbunden. Da habe ich oft gespielt."
Jonas Weyrosta ist 29 Jahre alt und Antoinette Altehoefers Enkel.
"Da war ich sechs, sieben Jahre alt. Aber ich erinnere noch, dass da oft ein Mann dabei war. Mit dem hab ich gespielt, dem bin ich viel hinterhergelaufen, hab ihn begleitet, hab ihm zugeguckt. Das ist aber mehr so eine Kindheitserinnerung. Ich wusste nicht viel über ihn."
Dieser Mann aus Jonas’ Kindheit ist Mohamed Messaoudi aus Algerien. Anfang der 1990er Jahre lebt er in Deutschland und verbringt viel Zeit im Haus von Jonas’ Großeltern in Krautheim, einem kleinen Städtchen im Norden Baden-Württembergs.
"Das zum Beispiel ist sein algerischer Pass, eine Kopie. Das ist ja Wahnsinn, das sind 200 Seiten Briefverkehr. Regierungspräsidium Stuttgart, Anwaltsbüro."
Viele Jahre später findet Jonas in einem Eichenschrank seiner Großmutter eine grüne Mappe. Darauf steht in feiner Handschrift: "Mohamed Messaoudi, Gerichts- und Anwaltsakten". Die Unterlagen dokumentieren den Kampf eines jungen Algeriers um Asyl und Anerkennung in Deutschland. Anwaltsbriefe, Anträge, Einsprüche, Nachfragen. Im Sommer 2001, nach acht Jahren, ist alles vorbei.
"Der Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens wird abgelehnt. Der Antragsteller wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Sollte der Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, wird er nach Algerien abgeschoben."
Nach acht Jahren ist alles vorbei
Jonas ist 13 Jahre alt, als Mohamed Deutschland verlassen muss. Er nimmt kaum Notiz davon. Erst Jahre später, als Deutschland wieder über eine Willkommenskultur spricht, begreift er, dass die Freundschaft zwischen Wulf, Antoinette und Mohamed etwas Besonderes gewesen sein muss.
Antoinette Altehoefer blickt durch die großen Fenster ihres Wohnzimmers hinaus. Bucklige Wälder wechseln sich ab mit weiten Wiesen. Dunkle Wolken jagen über den Himmel.
Seit dem Tod ihres Mannes Wulf vor mehr als zehn Jahren sitzt sie oft hier. Immer wieder bleiben ihre Gedanken bei Mohamed hängen. Dann blättert sie in alten Fotoalben.
"Das war so eine typische Geste von ihm. 'Oh, ich hab so Kopfweh, ich kann nicht deutsch lernen', wenn ich ihn fragte. 'Oh, ich kann nicht deutsch. Fällt mir so schwer, Frau Toni.' Wenn man ihn bei sich hatte, strahlte er. Und er konnte einem auch vermitteln, dass er zufrieden war."
Die Geschichte ihrer Begegnung beginnt mit einem harmlosen Husten. Mohamed ist in einem Asylbewerberheim untergebracht. Eines Tages kommt er in die Arztpraxis von Dr. Wulf Altehoefer. Sie kommunizieren mit Händen und Füßen und sind sich auf Anhieb sympathisch.
Wulf und Antoinette werden für Mohamed zu seiner zweiten Familie. Acht Jahre lang unterstützen sie ihn, wo sie nur können. Immer wieder stellt Mohamed die eine, die entscheidende Frage: Habe ich eine Chance in Deutschland zu bleiben?
"Ehrlich gesagt, da ich mich mit dem ganzen Asyl-Schlamassel da nicht auskenne, konnte ich ihm auch keine große Antwort dazu geben. Ich hab auch oft gedacht, warum macht man sich's so schwer. Ich hol' ihn einfach her und damit basta. Das war so meins. Dieses lange Fragen, und das darfst du nicht und jenes darfst du nicht, das war mir so egal."
Es ist ihr Mann Wulf, der sich um das Rechtliche kümmert und die grüne Mappe mit den Unterlagen anlegt. Am Ende hilft alles nichts. Um der Abschiebung zuvorzukommen, besorgt Wulf für Mohamed ein Flugticket nach Algerien. Am 08. August 2001 fahren sie zum Flughafen nach Frankfurt. Im Auto herrscht Grabesstille.
"Was willst du da auch reden. Ich denke, da ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Irgendwie ist der Mohamed uns nahegekommen. Er ging als Kind mit, als noch ein Sohn. Ja."
Wie geht es Mohamed wirklich in Algerien?
Seit diesem verregneten Morgen vor beinahe 17 Jahren stellt sich Antoinette Altehoefer immer wieder dieselben Fragen: Wie geht es Mohamed wirklich in Algerien? Hätten Sie vielleicht doch mehr für ihn tun können?
"Er sagt immer: Alles ok. Und das ist so sein Motto, es geht alles gut. Und das ist nicht so doll, find ich. Es könnte aber sein, weil er sich nicht mehr ausdrücken kann. Dass eben unsere Sprache fehlt. Gegenseitig."
Ein Tag Anfang Oktober. Es ist unangenehm kalt und regnet. Jonas Weyrosta, Antoinette Altehoefers Enkel, läuft durch sein Heimatdorf: Krautheim an der Jagst, knapp 5000 Einwohner; ein Ort, von denen es viele gibt in Deutschland. Einfamilienhäuser reihen sich aneinander, dazwischen Holzzäune und Gartenzwerge.
"Es muss ja schon skurril gewesen sein, aus Algerien dann zu kommen und ausgerechnet hier in Krautheim zu landen. Das kleine, verschlafene Nest im Nirgendwo im Grunde. Und so schön es hier ist, es hat auch etwas Einengendes."
Seit 2015 leben auch in Krautheim wieder Flüchtlinge. Im Großen und Ganzen gelingt das Zusammenleben. Doch nach der Silvesternacht in Köln 2016 stehen gerade junge Männer aus den Maghrebstaaten in Deutschland unter einer Art "Generalverdacht". Ihre Chancen, als Asylbewerber anerkannt zu werden, gehen gegen Null. Trotzdem werden sich auch in diesem Sommer wieder Tausende auf den Weg nach Europa machen. Und zurückgeschickt werden, so wie Mohamed vor 17 Jahren.
Seitdem Jonas die Mappe mit den Gerichtsakten gefunden hat, lässt ihm die Geschichte keine Ruhe. Er will erfahren, was das wirklich bedeutet: Abschiebung. Was bleibt eigentlich von den vielen Jahren des Wartens in einem Land, das einen gar nicht will? Jonas spricht mit seiner Großmutter, mit seinen Eltern, rekonstruiert Mohameds Werdegang und ruft in Oran, dem Heimatort Mohameds in Algerien, an.
"Er hat gesagt 'Herzlich Willkommen'. Dann war die Verbindung weg."
Jonas macht sich auf den Weg
Einige Wochen später. Jonas Weyrosta steht auf dem betonierten Vorplatz des Hafens von Marseille. Krautheim und Oran trennen 2494 Kilometer. Dazwischen liegen acht Stunden Zugfahrt – die hat Jonas bereits hinter sich - und 26 Stunden mit dem Schiff. Noch werden die letzten Autos im großen Bauch des rostigen Frachters verstaut.
"Ja krass, jetzt geht's los. Ich bin ganz schön nervös jetzt, obwohl ich so viel gelesen hab da drüber. Ich bin mal gespannt, wie so das erste Treffen wird. Ob ich ihn wiederkenne, ob er mich vor allem wieder erkennt. Wir haben abgemacht, wenn ich angekommen bin, soll ich anrufen, dann kommt er. Holt mich ab."
Am nächsten Morgen tauchen die weißen Fassaden Algiers aus dem Dunst der Küste auf. Mohamed ist nicht da. Jonas geht nervös auf und ab, und dann plötzlich kommt er um die Ecke: klein, höchstens 1,70 Meter, und rund. Warme Augen, Lachfalten im Gesicht. Er umarmt Jonas lange und küsst seine Stirn. Dann steigen sie ins Auto. Fünf Stunden dauert die Fahrt nach Oran. Fünf Stunden unterhalten sich Mohamed und Jonas. Ein bisschen Französisch, ein bisschen Deutsch. Über Krautheim, den großen Walnussbaum im Garten der Altehoefers und die Dorfdisco Pinocchio. Über Algerien und Mohameds neues Leben.
Ein altes Caféhaus im Herzen von Oran. Am Tresen herrscht dichtes Gedränge. Mohamed bestellt zwei Espresso und zwei Croissants. Dann zieht er Jonas hinter sich her, der folgt ohne zu wissen wohin. Vorbei an überfüllten Geschäften mit Handtaschen und Schuhen, durch enge Gassen, in denen Mohamed jede einzelne Person zu kennen scheint. Jonas muss sich überall vorstellen, Hände schütteln und Küsschen verteilen.
An einem Eckhaus macht Mohamed halt. Die blauen Eisentüren sind mit mehreren Schlössern gesichert. Dahinter verbergen sich sechs Quadratmeter Ladenfläche, vollgestellt mit Schaufensterpuppen, dutzenden bunten T-Shirts, Trainingsanzügen und Hemden. "Boutique" nennt Mohamed seinen Laden.
"Die Boutique" - Mohameds Existenz
"Komm, komm, mein Freund, komm. Tu parles français ou anglais?"
Die ersten Kunden kommen herein. Mohamed legt sich ins Zeug. Er kramt ein rotes Hemd hervor und lobt die muskulöse Statur des potentiellen Käufers. Das Kompliment wirkt. Einer der jungen Männer drückt Mohamed ein paar Geldscheine in die Hand.
"Merci, monsieur. Je vous souhaite une bonne journée."
"Du hast den Pullover jetzt für 1500 Dinar verkauft, oder?" "Den Ersten, ja." "Was hat der gekostet?" "1300. Ich habe 200 Dinar verdient." "Lohnt sich das für dich?" "Das ist für mich gut, weil ich mit diesem Geld etwas anderes kaufen kann. So ist das Business bei uns. Jeder versucht sein Glück."
200 Dinar sind umgerechnet 1,40 €. Die Gewinnmarge ist gering, und trotzdem ist die Boutique Mohameds ganzer Stolz. Sie ernährt seine Familie, sie sichert seinen Unterhalt. Jonas fängt an zu begreifen.
"Gerade hat er mir erzählt, dass er seit 15 Jahren keinen einzigen Tag Urlaub gemacht. Seit 15 Jahren! Und dann komme ich aus Deutschland daher, und er nimmt sich gleich mehrere Tage frei. Ich fühle mich irgendwie geehrt."
Mohamed steuert seinen silbernen Kleinwagen durch Oran – vorbei an bunten Gemüsemärkten, verfallenen französischen Kolonialbauten und glänzenden Hochhausfassaden. Mit der einen Hand zeigt Mohamed auf jedes Gebäude, das vorbeifliegt – Moscheen, Hotels, Konferenzzentren – mit der anderen steuert er den Wagen durch den dichten Feierabendverkehr. Langsam wird es dunkel. Der Himmel leuchtet blau.
"Jetzt kommen wir zum Port de Front de Mer."
Die "Front de Mer" ist die Hafenpromenade von Oran – eine zwei Kilometer lange Prachtstraße mit Palmen und viel Platz zum Flanieren. Etwa 40 Meter über dem Meeresspiegel bricht sie steil ab. Unten breitet sich eine riesige Hafenanlage aus, mit Kränen, Hangars, Stacheldraht und gelbem Laternenlicht. Mohamed lehnt sich an eine Mauer. Sein Blick verliert sich in der Weite des Horizonts.
Sehnsuchtsort: die andere Seite des Meeres
"Hier war immer unser Lieblingsort. Wir haben in einem Arbeiterviertel gewohnt. Bei Stromausfall hatten wir kein Licht zu Hause. Aber die Promenade hier war immer beleuchtet. Dieser Ort hat uns als Jugendliche daran erinnert, dass es so etwas wie Glück gibt. Hier haben wir von der anderen Seite des Meeres geträumt. Unsere Jugend war hart. Deswegen wollten wir nach Europa. Um dort unser Glück zu suchen. Um ein Leben zu finden. Das war nicht nur bei mir so, sondern bei vielen Algeriern. Wer an diesen Ort kommt, stellt sich vor, wie es anderswo wäre. Ob er das finden wird, wovon er träumt."
Der Traum von Europa, das ist die eine Seite von Mohameds Geschichte. Die Politik, die Verbote, die Angst – das ist die andere. Mohammed ist Berber. Im Algerien seiner Kindheit sind seine Kultur und seine Sprache verboten. Jeder Anspruch auf Anerkennung wird mit Gewalt niedergeschlagen.
Ein paar hundert Meter von der Hafenpromenade entfernt liegt das "Les Falaises", das Café "zur Felswand". Zu dieser Uhrzeit sitzen nur noch wenige Gäste auf den weißen Plastikstühlen. Ein Kellner steht gelangweilt am Tresen.
Er sei seit 1993 nicht mehr an diesem Ort gewesen, erzählt Mohamed. Damals kommt er unter anderen Vorzeichen hierher: In der italienischen Botschaft direkt gegenüber werden Kurzzeitvisa vergeben. Mohamed steht Tag und Nacht an, um eines zu bekommen.
"Es war hart. Hier haben sich die jungen Leute versammelt. Alle hatten Angst. Wir haben drei Monate hier übernachtet, manche sogar noch länger. 400, 500 Menschen waren in der Schlange. Die Polizei hat uns weggeschickt, aber wir kamen immer wieder. Manchmal haben sie 30 oder 40 reingelassen. Die anderen haben weiter auf ihr Glück gewartet."
1993 bekommt Mohamed das Visum für Italien. Von seinem Ersparten kauft er sich ein Flugticket nach Rom, schlüpft in einen Güterzug nach Frankreich und landet über viele Umwege in Krautheim.
Später im Auto ist die Vergangenheit wieder weit weg. Mohamed setzt ein breites Grinsen auf und legt eine Mix-CD mit amerikanischer Popmusik ein. "Gefällt dir, Yunus?", fragt er und legt den Arm um Jonas’ Schulter. Jonas grinst zurück.
Wenn Besuch kommt, wird groß aufgetischt
Draußen ist es noch immer sommerlich warm. Mohamed lässt lässig seinen Arm aus dem geöffneten Fenster hängen und fährt viel zu schnell durch eine Wohnsiedlung, vorbei an kleinen Lebensmittelläden und flackernden Laternen. Auf einem dunklen Parkplatz bringt er das Auto zum Stehen.
Mohameds Wohnung liegt im achten Stock eines sandfarbenen Wohnblocks. Vier Zimmer, Küche, Bad. Die Wände verziert mit bunten Fliesen, die Couch überzogen mit schwarzem Samt. Mohameds Frau Lila, gerade im siebten Monat schwanger, und die vier gemeinsamen Kinder erwarten den Besuch schon an der Eingangstür. Jonas verteilt Geschenke: Schokolade für die Kinder und ein Parfum für die Dame.
Safa, mit drei Jahren seine jüngste Tochter, zieht ihren Papa an der Hand in das Kinderschlafzimmer. Mohamed schaltet den Fernseher ein und startet ein mindestens 20 Jahre altes Videospiel. Mit kleinen Panzern schießen die beiden noch kleinere blinkende Monster ab. Lila zeigt Jonas unterdessen die Wohnung.
"Ich bin jetzt im Schlafzimmer von Mohamed und seiner Frau. Hier läuft echt deutsches Shopping-TV. Im Wohnzimmer liegen Fotoalben rum von damals. Ein altes Diktatheft von meiner Schwester, mit dem er Deutsch gelernt hat. Sogar deutsche Briefmarken hat er noch. Scheinbar hängt er immer noch sehr an Deutschland."
Wie jeden Abend, wenn Besuch da ist, wird groß aufgetischt. Auf dem Wohnzimmertisch stapeln sich Teller und Schüsseln mit verschiedenen Sorten Fleisch, Brot, Reis und andere Spezialitäten. Noch bevor Jonas seinen Teller leer gegessen hat, bekommt er eine neue Portion.
"Timchalat. Das ist ein ganz dünnes Brot. Das Brot ist eine kabylische Spezialität. In der Mitte gibt es Fleisch, Tomate, Paprika, Zwiebeln und Tomaten. Das macht dich dick und stark."
"So läuft das nicht in Europa, Junge!"
Mohameds Bruder kommt mit seinem Sohn Soufien vorbei, um den Gast aus Deutschland zu begrüßen. Sie wohnen im selben Haus, nur ein Stockwerk weiter oben. Soufien – 19, groß gewachsen, dunkle, nach hinten frisierte Haare – sitzt im Trainingsanzug von Real Madrid auf der Couch und wischt mit dem Daumen über sein Handy. Er erzählt von einer Nachricht auf Facebook: Katalonien wolle junge Algerier aufnehmen, nach drei Jahren Arbeit bekomme jeder einen Pass.
Mohamed blickt auf Soufien und schüttelt den Kopf. "So läuft das nicht in Europa, Junge", warnt er. Aber Soufien hört gar nicht zu. Er starrt auf sein Smartphone, auf die Facebook-Posts. Das genügt. Der Traum von Europa ist stark. Mohamed kommt nicht dagegen an.
Wenig später verabschieden sich die Gäste. Es kehrt langsam Ruhe ein. In Momenten wie diesem wird Mohamed, der fröhliche Gastgeber, wieder nachdenklich und erzählt von früher.
"Ich habe Doktor Altehoefer kennengelernt, Wulf Altehoefer und seine Frau Toni. Sie haben mir ihre Arme geöffnet und mir ihr Herz geschenkt. Sie haben mir zu essen und zu trinken gegeben. Dank ihnen konnte ich aufhören mir Sorgen zu machen."
Immer wieder sitzt Mohamed damals bei Wulf und Antoinette, die er liebevoll Frau Toni nennt, unterm Walnussbaum. Wulf erzählt von den Deutschen, Mohamed von den Berbern. Irgendwann zieht Mohamed bei den Altehoefers ein.
"Komm wieder zurück, Mohamed!"
Doch bald plagt ihn das schlechte Gewissen. Er will Wulf und Toni nicht zur Last fallen. Er will selbst Geld verdienen. In Deutschland geht das nicht, er hat keine Arbeitserlaubnis. Also verlässt er Krautheim und schlägt sich nach Frankreich durch.
"Wir haben uns mit Kartons vor dem Regen geschützt. Gegen die Kälte hatten wir nur Kerzen. Als ich den Doktor anrief, erzählte ich ihm, es gehe mir gut. Er hat mir trotzdem einen Umschlag mit Geld geschickt. Er hat zu mir gesagt: 'Komm wieder zurück, Mohamed'."
Aber Mohamed geht nicht zurück. Zu stark ist der Wunsch, es alleine zu schaffen. Seine Familie in Algerien lässt er in dem Glauben, Erfolg zu haben. Er schickt Fotos von sich, auf denen er vor einem Porsche posiert, und schläft nachts in einer Burgruine.
"Für mich ist es wie Erholung, arbeiten zu dürfen. Arbeit ist meine Medizin. Wenn ich arbeite, kann ich den Schmerz vergessen. Wenn ich mich in mein Bett liege, dann denke ich nach. Aber ich will nicht nachdenken. Ich will weitermachen."
In Frankreich wird Mohamed nicht glücklich. In Deutschland wird er polizeilich gesucht – sein Asylgesuch wurde inzwischen abgelehnt. Also besorgt er sich einen falschen Pass. Von nun an ist er Vincent Bender, geboren in Perpignan in Frankreich. Er geht nach Köln, findet Arbeit in einer Schokoladenfabrik, später in einer Buchbinderei.
Mit leuchtenden Augen erzählt er von diesem, seinem ersten eigenen Leben. Er kauft einen Fernseher, ein Radio und CDs von Phil Collins. Nach einigen Monaten fliegt alles auf. Die Polizei steht vor dem Haus. In letzter Minute warnt ihn seine Vermieterin. Er kann nur das Nötigste einpacken.
"Ich sagte meinem Fernseher tschüss. Phil Collins tschüss. Meinem Kühlschrank, meinem Schrank, meiner Kleidung: tschüss."
Mohamed erinnert sich an jedes Detail, wenn er von damals erzählt. Er kennt die Kölner Straßennamen und die U-Bahnhöfe. Er beschreibt akribisch, wo er wann war, wann er welche Hoffnung hatte und wann sie wieder in sich zusammenfiel.
Der einzige Ausweg, der ihm jetzt noch bleibt, ist Krautheim. Er fährt zurück. Er schämt sich, Wulf und Toni unter die Augen zu treten. Er fühlt sich wie ein Verbrecher.
"Ich war beim Doktor. Er hat geweint. Ich hab gesagt: Verzeih‘ mir Doktor. Ich will nicht wieder weinen, so eine Scheiße, ich bin so kaputt, so kaputt. Ich bin müde."
Im Wohnzimmer in Oran ist es jetzt ganz still. "Ohne sie wäre ich verloren gewesen", gesteht Mohamed.
Videoanruf nach Deutschland - Mohamed weint
"Du musst das Handy nicht ans Ohr halten, sondern halte es mal so. So, dass du dich siehst."
Jonas hat einen Videoanruf von Oran nach Deutschland arrangiert. In Krautheim wartet Antoinette Altehoefer vor dem Handy. Mohamed ist aufgeregt. Gleich wird er Frau Toni zum ersten Mal seit 17 Jahren wieder sehen.
"Hi, Frau Toni! Frau Toni, wie geht dir?"
"Mir geht's gut. Ja, ich höre dich, mir geht's gut."
"Ich will dich in den Arm nehmen."
"Ja, mach das!"
"Aber das geht nicht mit dem Handy! Aber du siehst richtig gut aus, Frau Toni!"
"Mir geht's gut. Ja, ich höre dich, mir geht's gut."
"Ich will dich in den Arm nehmen."
"Ja, mach das!"
"Aber das geht nicht mit dem Handy! Aber du siehst richtig gut aus, Frau Toni!"
Immer wieder bricht die Verbindung ab. Aber Mohamed und Antoinette können sich sehen, sie können sich unterhalten.
"Und Frau Toni, wenn ich komme, machst du für mich Kuchen? Deinen Kuchen?"
"Klar doch! Weißt du doch!"
"Prima! Ich lieb dich so, Frau Toni."
"Du bist wie ein Sohn für mich."
"Du bist meine Mutter, Frau Toni. Du hast mir all deine Liebe gegeben, du und Wulf. Die Zeit, die ich bei euch war, war eine richtig schöne Zeit, zusammen. Hörst du mich, Frau Toni?"
"Klar doch! Weißt du doch!"
"Prima! Ich lieb dich so, Frau Toni."
"Du bist wie ein Sohn für mich."
"Du bist meine Mutter, Frau Toni. Du hast mir all deine Liebe gegeben, du und Wulf. Die Zeit, die ich bei euch war, war eine richtig schöne Zeit, zusammen. Hörst du mich, Frau Toni?"
Schweigen und gedrückte Stimmung
"Ich musste mal eben raus auf den Balkon, frische Luft schnappen. Mohamed muss gerade beten. Die Gebetszeit kann man auch wirklich nicht verpassen hier. Wir haben den ganzen Abend geredet. Mohamed hat viel geweint. Ist schon eigenartig, wenn ein 120-Kilo-Mann vor dir sitzt und weint wie ein Kind."
Später sitzen Mohamed und Jonas noch eine Weile auf der Couch im Wohnzimmer.
Mohamed sagt, es sei sein größter Wunsch, Toni noch einmal in den Arm zu nehmen und sich bei Wulf am Grab zu bedanken. Sie hätten so viel für ihn getan damals, er habe es nie zurückgeben können. Aber ob er jemals wieder ein Visum für Deutschland bekommen würde, steht in den Sternen.
Der letzte gemeinsame Abend in Oran geht zu Ende. Mohamed und Jonas schweigen lange.
Am nächsten Morgen ist die gedrückte Stimmung der letzten Nacht verschwunden. Mohamed und Jonas stehen am Bahnhof von Oran.
"Ich habe es nicht bereut nach Europa gegangen zu sein. Ich habe dort viel gelernt. Aber erst hier habe ich meinen Weg gefunden. Ich sag die Wahrheit: Ich bin jetzt 48 Jahre alt. Ich bin ein bisschen müde. Ich möchte gerne Urlaub haben. Aber im Moment bin ich richtig glücklich mit meiner Familie. Die macht mich richtig froh."
Der Abschied fällt den beiden schwer. Wir sehen uns wieder, beteuert Mohamed. Dann winkt er lange hinterher, während der Zug den Bahnhof verlässt.
"Morgen bin ich zurück bei meiner Oma in Krautheim. Ich glaube, ich bin in erster Linie froh, dass ich das gemacht habe. Dass ich meiner Oma etwas mitbringen kann, dass ich ihr sagen kann, es geht ihm gut, und dass sie sich keine Sorgen machen muss. Ich glaube, das wird ihr guttun. Ich bin mir sicher, das wird ihr guttun."
"Worüber ich mir schon Gedanken mache: Es gibt so viele junge Leute hier, die nach Europa wollen. Was Mohamed ihnen erzählt, interessiert sie gar nicht. Sie haben ihre Facebook-Posts und ihre Halbwahrheiten und ihren großen Traum."
Im Herzen vereint
Wenige Tage später. Antoinette Altehoefer und ihr Enkel Jonas sitzen im Krautheimer Wohnzimmer und schauen sich Fotos aus Algerien an.
"Das sind ja tolle Aufnahmen. Wunderschöne Aufnahmen. Auch diese Licht- und Farbspiele. Ich glaube, mein Mann würde sich riesig freuen - das kann er ja auch im Nachhinein. Ich dachte, wir verlieren uns aus den Augen. Aber das haben wir gar nicht. Und das finde ich auch schön im Nachhinein, dass wir immer noch bei ihm sind."
Jonas spielt eine Aufnahme ab, die er in Oran gemacht hat – vom Videoanruf zwischen Mohamed und Antonie. Antonie hört zu und schweigt dann lange. Bis jetzt war ihr gar nicht richtig bewusst, welche Bedeutung sie hatte für diesen jungen Algerier, der einst mit großen Träumen nach Europa kam.
"Danke, Jonas. Es hat mir auch jetzt einiges gezeigt, dass man immer einem Menschen glauben muss und dass man Vertrauen haben muss, und dann geht es weiter."
"Aber auch, dass Kleinigkeiten so viel bewirken können. Für euch waren das vielleicht Selbstverständlichkeiten."
"Ja, ich hätte nie gedacht, dass man da so ein Bohei draus macht."
"Doch, ihr habt da schon Großes vollbracht und Spuren hinterlassen"
"Das klingt jetzt aber hochtrabend!"
"Aber auch, dass Kleinigkeiten so viel bewirken können. Für euch waren das vielleicht Selbstverständlichkeiten."
"Ja, ich hätte nie gedacht, dass man da so ein Bohei draus macht."
"Doch, ihr habt da schon Großes vollbracht und Spuren hinterlassen"
"Das klingt jetzt aber hochtrabend!"
Diese Reportage wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung und dem Literarischen Colloquium Berlin im Rahmen des Programms "Grenzgänger".