Abgestürzt

Vom Manager zum Obdachlosen

Der Ex-Manager Carsten Voss
Der Ex-Manager Carsten Voss © dpa / pa / Galuschka
Moderation: Susanne Führer |
Er war Manager einer Modemesse, dann kam ein Burnout, er verlor seinen Job, wurde obdachlos: Carsten Voss ist von weit oben nach ganz unten gefallen. Im Gespräch erzählt er, wie sich das angefühlt hat - und warum sein Scheitern auch eine Chance war.
Susanne Führer: Vom Tellerwäscher zum Millionär – solche Geschichten hören wir gern. Der Abstieg ist weniger attraktiv. Und inzwischen passiert er nicht nur den anderen, denen, die ja sowieso nix gebacken kriegen, inzwischen, seit Hartz-IV, seit den vielen Niedriglöhnen und verstärkt noch durch die Banken- und Finanzkrise, inzwischen rückt die Krise immer näher, bis mitten in die Mittelschicht hinein. Carsten Voss gehört zu ihnen. Er fiel von ziemlich weit oben nach ganz unten, vom Manager zum Obdachlosen, und ist jetzt zu Gast bei uns im Studio!
Carsten Voss: Hallo!
Führer: Sie waren einmal Manager der Modemesse "Bread and Butter". Sie haben gearbeitet wie verrückt. Dann bekamen Sie einen Burnout. Warum wurden Sie dann wohnungslos, Herr Voss?
Voss: Es war eine Kette. E war nicht nur ein Burnout – es ist ja sowieso eine etwas schräge Definition, finde ich. Burnout wird heute ein bisschen überstrapaziert benutzt. Es war, um es medizinisch zu beschreiben, ein totaler psychovegetativer Erschöpfungszustand in Verbindung mit einer ganz massiven Depression. Und ich war einfach wie komplett paralysiert. Ich wusste genau, was mit mir passiert, konnte aber nichts dagegen machen, weil ich einfach wie gelähmt war.
Führer: Gut, also Sie haben einen psychovegetativen Erschöpfungszustand bescheinigt bekommen von Ihrem Arzt, waren also krank geschrieben, aber dann passiert ja doch noch einiges, bis man dann obdachlos wird.
Voss: Ich habe dann irgendwann meine Arbeit aufgeben müssen, weil ich einfach nicht mehr in der Lage war zu arbeiten, habe dann relativ gut ein Jahr von dem berühmten ALG I gelebt.
Führer: Arbeitslosengeld.
Voss: Eins, genau. Aber als das auslief, habe ich mich eben nicht um weitere Hilfe gekümmert. Ich bin nicht zum Jobcenter, ich habe kein Hartz-IV beantragt, keine Wohnungshilfe, also all das, was man dann in dem Fall normalerweise machen würde, das habe ich alles total verpeilt.
Führer: Wegen dieser psychischen Lähmung.
Voss: Ja. Ich war einfach nicht in der Lage dazu, und ich bin wirklich sehenden Auges der Räumungsklage entgegen gelaufen, die dann natürlich irgendwann auch passiert ist. Und dann habe ich auf der Straße gesessen.
Führer: Und wie haben Sie gelebt in dieser Zeit?
Voss: Als ich dann auf der Straße war? Ich habe zuerst Gott sei Dank bei Freunden wohnen können in einer Gartenlaube, das war im Sommer ganz okay. Als das dann vorbei war, weil diese Lauben sind ja im Herbst oder im Winter nicht bewohnbar, war ich wirklich auf der Straße. Ich habe aber nie draußen geschlafen, das habe ich mich nie getraut, dafür bin ich einfach nicht geschaffen. Es gibt in Berlin ja genug Möglichkeiten, in den sogenannten Nachtcafés die Nacht zu verbringen. Da darf man zwar nicht schlafen, aber man darf einfach sitzen, dösen, Tee trinken, was auch immer. Das habe ich ziemlich lange gemacht, habe dann versucht, tagsüber zu schlafen, was die ganze Sache aber nicht besser gemacht hat, weil irgendwann ist man bei so einem massiven Schlafdefizit, dass es einem nicht wirklich gut geht.
"Man hat keine Privatsphäre auf der Straße"
Führer: Was war eigentlich das Schlimmste für Sie in der Zeit? Die Armut, die Wohnungslosigkeit, die Obdachlosigkeit oder einer von denen zu sein, die einfach nicht mehr dazugehören zu der Welt, zu der Sie vorher gehörten?
Voss: Ich glaube, das war eine Mischung aus diesen drei Punkten. Das schmerzt natürlich unheimlich, dass man auf einmal nicht mehr dabei ist. Vor allen Dingen, dass man nicht mehr die Sachen machen kann, die man gern gemacht hat, wie zum Beispiel, ein gutes Buch zu lesen, das man sich dann eben nicht mehr kaufen kann. Oder eine gute Zeitung zu lesen, die man sich dann nicht leisten kann in dem Augenblick. Es liegt natürlich auch daran, zu dieser Gruppe zu gehören der Obdachlosen, obwohl die absolut nicht homogen ist. Das ist jetzt nicht so, wie das viele Leute im Kopf haben. Der alte Mann mit dem Einkaufswagen, der durch die Gegend schiebt – das ist nur ein ganz kleiner Teil der Obdachlosen. Der größte Teil ist nicht sichtbar. Die sind einfach ganz unauffällig. Das war natürlich ganz schlimm, und vor allen Dingen hat mir einfach ein Zuhause gefehlt, ein Schutzraum, etwas, wo man sich zurückziehen kann. Man hat überhaupt keine Privatsphäre, wenn man auf der Straße lebt.
Führer: Wie haben Sie denn da wieder hinausgefunden? Hatten Sie Hilfe von anderen, oder haben Sie es alleine geschafft?
Voss: Nein, ich habe es natürlich nicht alleine geschafft. Ich glaube, das schafft auch keiner alleine. Der wichtigste Schritt dabei ist erst mal, sich selber einzugestehen, dass man Hilfe braucht. Das war für mich ganz schwer, mir selber einzugestehen, Carsten, du brauchst Hilfe. Und dann habe ich mir Hilfe gesucht. Ich bin dann zu einer Wota, zu einer Wohnungslosentagesstätte gegangen, habe mit einer Sozialarbeiterin gesprochen, und dann bin ich eben so langsam diese ganze Spirale zurückgegangen.
Führer: Über die Krise und die Krise vielleicht auch als Chance spreche ich mit Carsten Voss, einem ehemaligen Manager, ehemaligen Obdachlosen und heutigen EU-Fundraiser. Dazu kommen wir gleich noch, Herr Voss. Erst mal würde mich noch interessieren, Sie machen ja heute in Berlin Stadtführungen aus der Sicht von Obdachlosen, "querstadtein" heißt das. Sie arbeiten ehrenamtlich in einer Wohnungslosentagesstätte. Warum? Ist Ihnen dieses Milieu so ans Herz gewachsen? Die Menschen?
Voss: Ich fand es unheimlich schwierig – es gibt ja nicht so viele Menschen, das muss man leider so sagen, die es wieder zurückschaffen, die aus der Obdachlosigkeit wieder herauskommen. Und wenn sie es geschafft haben, sprechen sie nicht mehr drüber, weil es logischerweise ein Kapitel ihres Lebens ist, das man schnell verdrängen möchte, wo man nicht dran erinnert werden möchte, wo dann die Agentur für Arbeit sagt, ja schreiben Sie mal ein Sabbatjahr, weil das einfach so ein Tabuthema ist, und das fand ich nicht okay. Ich habe einfach beschlossen, mich zu outen, was ich dann irgendwann mit der ersten Talkshow gemacht habe. Das war für mich ein Teil Therapie, aber auch ganz wichtig, so ein Problem sichtbar zu machen, die Leute dazu zu bringen, eben sich damit zu beschäftigen, nicht mehr weggucken, sondern hingucken.
Und das ist genau wie mit den Stadttouren von "querstadtein". Wir sind ja ein gemeinnütziger Verein, wir haben das zusammen entwickelt. Da steckt eine große Crew hinter von ehrenamtlichen Helfern, die das organisieren und machen. Es ist genauso wichtig, dieses Thema, Berührungsängste abzubauen solchen Menschen gegenüber. Und das gelingt mit den Touren. Ich habe inzwischen in Berlin seit Juni letzten Jahres knapp 3000 Leute geführt, 3000 Menschen. Ganz viele Schulklassen, ganz viele Studentengruppen, was ich ganz wichtig finde. Wir sind immer noch unheimlich "gut gebucht", in Anführungsstrichen, und das ist auch eine Sache, von der ich mich nicht trennen möchte, weil ich inzwischen natürlich auch so eine bestimmte Expertise in diesem Thema habe.
Führer: Ich höre da jetzt ein Engagement heraus, so eine Herzensangelegenheit darin, was Sie sagen, und das lässt mich vermuten, dass Ihnen Ihr heutiges Leben eigentlich – weiß ich nicht – vielleicht sogar besser gefällt als das frühere als gut bezahlter und auch gut angesehener Manager.
Voss: Ich glaube, man kann das gar nicht wirklich vergleichen. Ich trauere meinem alten Leben aber auf keinen Fall hinterher, das muss ich ganz wirklich sagen –
Führer: Aber Sie möchten es auch nicht wiederhaben.
Voss: Ich möchte es auch nicht wiederhaben, ums Verrecken nicht, ganz bestimmt nicht. Also, ich bin schon da, wo ich jetzt bin, bin ich okay mit mir selber. Ich finde es gut, ich kann mich engagieren. Ich kann auch das machen, was ich immer gemacht habe, managen, eben nur mit einem anderen Hintergrund oder mit einem anderen Ziel. Eben nicht mehr im kommerziellen Bereich, und das finde ich ganz wichtig. Also, mir selber tut es gut.
"Manchmal ist Scheitern eine Chance"
Führer: In Ihrem Fall stimmt dann diese manchmal ja etwas vorschnell gebrauchte Formel von der Krise als Chance, tatsächlich.
Voss: Ja. Ich glaube schon. Manchmal ist Scheitern wirklich eine Chance. Eine Chance, die man vielleicht auch nur einmal bekommt. Ich weiß jetzt nicht, ob ich das jedem wünschen möchte, so zu scheitern, um dann eine solche Chance zu bekommen, das weiß ich nicht, das kriegt man vielleicht auch auf einem etwas eleganteren Weg hin.
Führer: Sie haben es ja vorhin schon mal erwähnt – es gibt ja viele Angebote, gerade auch in Berlin gibt es sehr viele Angebote für Wohnungslose, für Obdachlose. In Deutschland hat ja ohnehin jeder Mensch Anrecht auf Hartz IV, auf ein Dach überm Kopf, aber nicht alle nehmen das in Anspruch. Warum nicht?
Voss: Ich glaube, da gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Es gibt natürlich einerseits, muss man ehrlich sagen, Hartz-IV zu beantragen, ist schon nicht mehr wirklich niederschwellig, wie es so schön heißt im Sozialarbeiterdeutsch. Das ist kein niederschwelliges Angebot, man muss da eine Menge machen. Viele überfordert das schon, den Antrag auszufüllen, auch wenn sie Hilfe von Sozialarbeitern bekommen in den Wotas oder in den Beratungsstellen.
Führer: Wohnungslosentagesstätten.
Voss: Genau, Wota. Sollte eigentlich genauso gebräuchlich sein wie Kita, finde ich. Das gelingt denen vielleicht noch, den Antrag auszufüllen, aber es hängt ja mehr dran. Man muss dann seine Rentenversicherungsnummer besorgen, man muss sich eine Krankenversicherung wieder besorgen. Man muss ein paar Termine einhalten. Man muss sich vielleicht auch ein paar dumme Sprüche anhören beim Abholen beim Jobcenter. All das ist gerade für Leute, die schon länger auf der Straße sind und die eine sehr niedrige Toleranzschwelle haben, einfach zu herausfordernd, und dann sagen die, nein, ich lass es lieber sein, ich will meine Ruhe habe, ich möchte mit denen nichts zu tun haben.
Führer: Es ist also nicht ein finanzielles, sondern mehr ein soziales, psychosoziales Problem.
Voss: Sicherlich, ja.
Führer: Jetzt haben Sie ja gerade eine Fortbildung zum EU-Fundraiser abgeschlossen, also jemand, der von der EU Gelder einwirbt. Warum das? Wofür?
Voss: Das hat einen ganz realen Hintergrund. Es hat mich sehr bestärkt, kurz bevor ich meine Prüfung gemacht habe, vor drei Wochen, war ja der große Artikel, schwappte das ja einmal durch die deutsche Presse, dass die Bundesrepublik Deutschland aus den Mitteln des Europäischen Sozialfonds knapp drei Milliarden nicht abgerufen hat in der letzten Förderperiode. Das heißt also, drei Milliarden, die unwiederbringlich futsch sind, die einfach verschwendet sind. Und das liegt eben zum größten Teil daran, dass es nicht genug Projekte gibt auf EU-Ebene, die entwickelt werden. Und deswegen gibt es eben diese professionelle Ausbildung zum EU-Fundraiser. Und ich habe das schon von Anfang an mit der Idee gemacht, fundraisen zu wollen, also für Non-Profit-Organisationen ganz speziell im sozialen Bereich, und auch mit eingebunden eben Obdachlosigkeit, weil ich das für ein ganz wichtiges Thema halte.
Führer: Aber wenn Sie gerade gesagt haben, dass nicht das Geld das Problem ist, warum setzen Sie dann doch auf mehr Geld, um den Obdachlosen zu helfen?
Voss: Es gibt zum Beispiel in der Bundesrepublik für 100.000 verschiedene soziale Gruppen irgendwelche Wohnprojekte. Für Obdachlose zum Beispiel gibt es das nicht. Da gibt es nur so ganz streng nach Sozialgesetzbuch II, Paragraf 67, betreutes Wohnen, betreutes Einzelwohnen. Das sind alles Formen, die viele Leute nicht in Anspruch nehmen wollen, weil sie nicht bevormundet werden wollen. Und es gibt eben kein zum Beispiel wirklich freies Wohnprojekt, wo Leute sich auch engagieren können. Und ich merke ja sehr wohl, dass das im Kleinen, in der Wota, funktioniert, also wird es auch im Großen funktionieren, aber da braucht man eben sehr viel Geld für.
Führer: Also das heißt, Sie wollen dann tatsächlich, wie es so schön heißt, niederschwellige Angebote bereitstellen.
Voss: Richtig.
Führer: Das sagt Carsten Voss. Er ist Stadtführer durchs Berlin der Obdachlosen und, wie wir gerade gehört haben, EU-Fundraiser. Vielen Dank für Ihren Besuch im Studio, Herr Voss.
Voss: Gern!
Führer: Und Carsten Voss kommt in dieser Woche noch einmal zu uns ins Funkhaus. Er ist nämlich am Samstag Vormittag von neun bis elf Uhr unser Gast in der Sendung "Radiofeuilleton im Gespräch". Sie wissen, die Sendung, wo Sie anrufen können und mitdiskutieren, gemeinsam mit dem Soziologen Berthold Vogel. Das Thema lautet dann: "Wenn der Boden wegbricht. Die Angst vor dem sozialen Abstieg". Kommenden Samstag, neun bis elf Uhr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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