Abgrenzung vom Übervater des Figürlichen

Von Siegfried Forster · 09.03.2009
Auguste Rodin prägte die Bildhauerei in Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert wie kein zweiter. Eine junge Künstlergeneration versuchte ab der Jahrhundertwende, sich aus seinem Schatten zu lösen und produzierte Skulpturen in bewusster Abgrenzung zu Rodins Vorbild. Unter dem Titel "Rodin vergessen?" zeigt das Pariser Musée d'Orsay nun Skulpturen aus den Jahren 1905-1914.
"Oublier Rodin?" - "Rodin vergessen?" - 1905 präsentierte Rodins Gegenspieler, der Südfranzose Aristide Maillol, seine berühmte Frauenskulptur "Das Mittelmeer" auf dem Pariser Herbstsalon. Diese sitzende Revolution aus Einfachheit und Harmonie gab das Startsignal für einen Wandel, für eine Abkehr von Rodin, bekräftigt Kuratorin Catherine Chevillot:

"Das ist eine wirkliche Frage der Kunstgeschichte. Weil es rund um 1905 eine ganze Generation von Bildhauern gab, die sich die Frage stellte, ob ein Leben nach Rodin möglich ist, ob man noch etwas Neues schaffen konnte nach diesem gigantischen Künstler, der mehrere Jahrzehnte die Bildhauerei dominierte."

Gleich am Anfang der Schau wird sichtbar: Der Meister steckt nicht nur im Detail. Wie fast alle Maler damals eine impressionistische Phase durchmachten und auf die wilde Freiheit und Willkür der Fauvisten warteten, durchlebten alle jungen Bildhauer ihre Rodin-Phase und warteten auf einen Umsturz. Zum Beweis stehen Seite an Seite ein Entwurf von Rodins berühmter "Balzac"-Statue und "Der Leibeigene" von Matisse, durchdrungen von Elementen des Übervaters. Kein Wunder: Nicht nur die Technik, sondern auch das italienische Modell stammte aus Rodins Atelier.

Gleichzeitig ist spürbar: Matisse drängt weniger nach expressivem Ausdruck, reißt seiner Skulptur die Arme ab, verflüchtigt die Konturen. Der nach reinen Formen dürstende Rumäne Brancusi gab die Losung aus, Rodins Kunst sei Schwarzbrot:

"Rodin hatte einen Ansatz, den man als große Verärgerung über den Naturalismus bezeichnen könnte. Er wollte die kleinste Gefühlsregung des menschlichen Körpers zum Ausdruck bringen, den inneren Geist, die Seele einer Person. Das führte immer zu pathetischen Figuren, bei diesen hier ausgestellten Künstlern ist das Gegenteil der Fall."

Vier Kopfskulpturen von Bourdelle, Clara, Picasso und Rodin liefern sich ein kunstgeschichtliches Kopf-an-Kopf-Rennen. Wir sehen, wie die Widersacher Rodins auf große Gesten verzichten, die Haut glätten, die Volumen und Formen geometrischer werden lassen. Das Pariser Viertel Montparnasse war damals die Hochburg vieler Bildhauer aus ganz Europa. Sie wollten zurück zu den Ursprüngen der Skulptur.

Maillol verkündete, die Bildhauerei von Grund auf neu erfinden zu wollen. Wilhelm Lehmbruck, einer der bedeutendsten deutschen Bildhauer der klassischen Moderne, nahm dabei eine Zwischenstellung ein zwischen Rodin und Maillol, was ihn bis heute genauso interessant wie wenig greifbar macht, kommentiert Kuratorin Catherine Chevillot:

"( ... ) Lehmbruck ist eine Art roter Faden, der sich durch die Ausstellung zieht und zeigt, wie alles verschachtelt ist - das alles in einem Künstler. Lehmbruck ist ein sehr großer Künstler, der noch im Jahr 1914 monumentale Skulpturen schuf, davon gibt es nicht viele."

Der Erste Weltkrieg und der Tod Rodins 1917 machten diesem Zeitalter den Garaus. Am Ende der Ausstellung triumphieren zwei monumentale Skulpturen: Einmal Rodins "Ugolin" aus dem skandalträchtigen Höllentor und Lehmbrucks "Der Niedergeschlagene", ebenfalls auf allen Vieren kriechend, aber vollkommen glatt, weniger expressionistisch und doch bringt er damit alle Schrecken des Kriegs zum Ausdruck. Um sich von Rodin lösen und die Bildhauerei der Moderne weiterbringen zu können, musste man - wie Lehmbruck - in Paris gearbeitet haben, so Christoph Brockhaus vom Wilhelm-Lehmbruck-Museum, der die Ausstellung mit konzipierte:

"Also ich glaube, das zeigt die Ausstellung - und das ist eine kleine Sensation - so deutlich, wie man es niemals zuvor sehen konnte: Dass Rodin den großen Impuls gegeben hat nach ganz Europa, jüngere Bildhauer angezogen hat, viele in sein Schlepptau zunächst genommen hat, aber dann waren es eben gerade diese jungen europäischen Bildhauer, die in Paris sich natürlich auch gegenseitig kennen lernten und Abstand nahmen von Rodin."

"Rodin vergessen?" - der Meisterbildhauer blieb natürlich auch als Kontrapunkt im Mittelpunkt. Alle seine Kontrahenten machten zwar den Weg frei für die Avantgarde der Nachkriegszeit und die Abstraktion, blieben aber zu Lebzeiten Rodins der figurativen Darstellung treu. Das zu zeigen, ist nicht das geringste Verdienst dieser Ausstellung.