Wie die ukrainische Literatur zu sich selbst findet
30 Jahre sind vergangen, seit Michail Gorbatschow in Moskau die Macht übernahm. Bereits damals begann sich die Ukraine zu emanzipieren - mithilfe einer neuen, nicht mehr sowjetischen Literatur. Noch heute stiften literarische Werke neue Identität, wie die von Jurij Andruchowytsch.
Das Jahr 1985 leitete eine neue Epoche in der Weltgeschichte ein: Michail Gorbatschow wurde in Moskau Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Im selben Jahr veröffentlichte ein 25-Jähriger seinen ersten Gedichtband - Jurij Andruchowytsch trat auf die Bühne der ukrainischen Literatur.
Ganz unterschiedliche Ereignisse, doch sie zeigten einen Aufbruch in dieselbe Richtung an. Unter Gorbatschow brach die Sowjetunion sechs Jahre später auseinander. Und Andruchowytsch wurde zum Gründervater einer neuen und ganz eigenen ukrainischen, nicht mehr sowjetischen Literatur.
Das Ukrainische wird zur vorherrschenden literarischen Sprache
Denn Andruchowytsch schrieb nicht auf Russisch, sondern auf Ukrainisch. Die Sowjetunion hatte diese Sprache als ein Element der Folklore behandelt, als vielleicht liebenswert, aber doch provinziell und nicht ernstzunehmend. Andruchowytsch allerdings schrieb wie ein Städter, weltgewandt und gleichzeitig frech. An ihm orientierten sich weitere junge Talente, sagt die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska.
"Die Autoren schrieben auch mit einem neuen Verantwortungsbewusstsein. In der Sowjetunion entschieden die Parteiorgane und die Schriftstellervereinigung, was zu erscheinen hatte. Die Autoren brauchten kein eigenes Gewissen. Auch von den Themen her geht die ukrainische Literatur seitdem eigene Wege. Die russische Poesie beschäftigt sich mit der sowjetischen Vergangenheit in einem nostalgischen Kontext - auch dort, wo sie abgelehnt wird. In der ukrainischen Poesie spielt der sowjetische Diskurs keine Rolle mehr."
Literatur als Plattform zur Selbstfindung
An die Stelle der großen, ideologischen Entwürfe trat zunächst die Beobachtung. So bei Serhij Schadan, aufgewachsen im ostukrainischen Charkiw. Er zeigte die Verlorenheit der jungen Generation auf, für die die Sowjetunion vorbei, die neue Ukraine aber noch längst nicht Wirklichkeit war. Inzwischen aber trauen sich die Schriftsteller auch an die ukrainische Geschichte heran. Ein Beispiel ist Sofija Andruchowytsch. Ihr Roman "Felix Austria" aus dem vergangenen Jahr beschäftigt sich mit ihrer Heimatstadt Iwano-Frankiwsk vor über hundert Jahren, damals hieß sie noch Stanislawiw und gehörte zu Österreich.
Die Literatur bietet heute eine Plattform, so dass das vom Krieg erschütterte Land mit sich wieder ins Reine kommen kann, meint Katharina Raabe, beim Suhrkamp-Verlag verantwortlich für ukrainische Autoren.
"Eine junge Autorin, Katarina Mischtschenko, sie sagte, wir, die ukrainische Gesellschaft, kommen jetzt gerade miteinander ins Gespräch. Es ist nicht einfach so, dass ein Autor wie Serhij Schadan jetzt einfach aus dem Donbass erzählt. Nein, für uns in der Ukraine ist er ein omnipräsenter Autor, weil er mit seinen Büchern und mit seiner Band durch alle Städte fährt. Er ist eigentlich beispielhaft dafür, dass die Leute versuchen, miteinander zu reden und sich auch über die Brücke ihrer ganz unterschiedlichen, auch regionalen Erfahrungen hinweg miteinander zu verständigen."
Liebe zur Heimat, die nicht kitschig wirkt
Die ukrainische Literatur geht heute eigene Wege, gleiches gilt für die anspruchsvolle Pop-Musik. Kaum ein Ukrainer erinnert sich an die großen Demonstrationen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, ohne dabei die Bands im Ohr zu haben, die auftraten. Allen voran: Okean Elzy, gegründet 1994 in Lemberg.
Die Lieder sprechen eine Liebe zur Heimat an, die nicht kitschig wirkt. Auch viele andere Bands verbinden den politischen Diskurs mit attraktiver, ukrainisch-sprachiger Popmusik. Dabei gehen sie auch äußerst kritisch mit ihrem Land um. Die Hiphop-Formation Tartak, die ukrainische Folklore einfließen lässt, sang: "Ich will kein Held der Ukraine sein, denn mein Land schätzt seine Helden nicht." Das war noch lange vor den blutigen Protesten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz und der Enttäuschung über die neuen Machthaber.
Die ukrainische Kultur hilft dem Land, seine Identität zu finden. Aber nicht alle Beobachter finden es richtig, wie sie das tut. Die Abgrenzung von der Sowjetunion gehe zu weit, meinen manche, so auch Wasil Tscherpanin vom Kiewer Zentrum für visuelle Kultur.
"Die Versuchung ist groß, die ukrainische Geschichte im 20. Jahrhundert als Okkupation zu beschreiben. Als ob die Sowjetunion wie etwas Fremdes über uns gekommen wäre und mit uns nichts zu tun hätte. Und daraus folgern manche dann, dass wir dieses Erbe ausschlagen und direkt an das 19. Jahrhundert anknüpfen sollten. Ich halte das für falsch. Denn die Ukraine, die wir heute haben, ist unter anderem ein Produkt der Sowjetunion. Und auf manches können wir durchaus stolz sein, auf die ukrainische Avantgarde in den 1920er Jahren etwa."
Im Moment leidet das Land wohl noch zu stark unter den Folgen der Sowjetherrschaft. Aber nichts wird die ukrainische Kultur daran hindern, sich den sowjetisch geprägten Teil ihrer Tradition später nach einer Phase der kritischen Auseinandersetzung wieder anzueignen. Fest steht nur: Ihre ganz eigene Prägung wird sie nicht mehr verlieren.