Abgründig, bizarr, neurotisch
Im Jahr 2003 erschien Reiner Stachs erster Band der Kafka-Biografie: "Die Jahre der Entscheidungen". Dieser Band umfasste die Jahre von 1910 bis 1914/15. Der zweite Band "Die Jahre der Erkenntnis" schließt direkt daran an und umfasst die letzten zehn Lebensjahre Kafkas, vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis 1924. Die wichtigsten Lebensdaten in diesem Zeitraum:
Sommer 1914: Entlobung von seiner Braut Felice Bauer
Anfang 1917: zweite Verlobung mit Felice Bauer
August 1917: Blutsturz, Beginn der Lungentuberkulose. Endgültige Trennung von Felice Bauer.
1918/19: Verlobung mit Julie Wohryzek. Die Verbindung wird von Kafkas Vater vehement bekämpft (nicht standesgemäß)
November 1919: Kafka schreibt seinen 100-seitigen "Brief an den Vater", eine Abrechnung mit ihm und der Familie
Sommer 1920: kurzer, heftiger Liebesversuch mit Milena Jesenska, Kafkas tschechischer Übersetzerin
1922: Kafka wird von der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag in Frühpension geschickt, krankheitshalber. Er schreibt das Romanfragment "Das Schloss"
Winter 1923/24: Kafka gelingt, todkrank, endlich die Ablösung von der Familie und von Prag. Er zieht nach Berlin und lebt mit der jungen Ostjüdin Dora Diamant zusammen
3. Juni 1924: Kafka stirbt in einem Sanatorium in Klosterneuburg bei Wien an Kehlkopftuberkulose, noch keine 41 Jahre alt.
Warum wird Kafka, ein Mann ohne nennenswerte Biografie, einer solch gewaltigen Lebensbeschreibung teilhaftig? Ein Prager Jurist und Schriftsteller, Junggeselle, der seine Tage im Büro und seine Nächte daheim am Schreibtisch verbrachte, der erst mit 31 Jahren von Zuhause auszog und kaum je den inneren Bezirk der Prager Altstadt verließ, abgesehen von ein paar Dutzend Urlaubstagen in Paris, Berlin oder Oberitalien – was hat ein solcher Mann schon groß erlebt? Sein Privatleben ist ein Schlachtfeld ergebnisloser Kämpfe mit dem Vater, gescheiterter Heiratsversuche und misslingender Anstrengungen, sich von Prag, von der Familie, vom ungeliebten Beruf zu befreien und in einer Weltmetropole, also in Berlin, selbständig zu leben. Seine äußere Biografie ist kärglich, seine innere aber umso reicher, abgründiger, bizarrer, neurotischer: Kafkas innere Existenz ist unauslotbar, sein Leben hat sich im Wesentlichen im Psychischen entfaltet und findet seinen Niederschlag im Werk. Kafka war ein Genie der zwanghaften Selbstbeobachtung. Das zeigen seine Tagebücher, seine Briefe und seine Romane und Erzählungen.
Die landläufige Trennung von Leben und Werk ist bei Kafka weder möglich noch zweckdienlich: Zwischen Leben und Werk fluktuieren und zirkulieren unterirdische Ströme. Texte und Biografie erhellen sich wechselseitig. Das Werk ist das aufgeschlagene Buch von Kafkas Leben.
Das Leben taucht, verklausuliert, als Subtext im Werk auf. "Das Schloss" ist geradezu ein privater Mythos, voller privater Anspielungen und Chiffren, aber stark verrätselt. Gleich Kafkas allererste Erzählung "Das Urteil" nimmt fast wörtlich den späteren Konflikt mit dem Vater vorweg. Im Roman "Der Prozess" ist die traumatische Entlobung von Felice Bauer eingearbeitet, als Felice im Hotel Askanischer Hof in Berlin in Gegenwart ihrer Freunde eine Art Tribunal über den Angeklagten Kafka veranstaltete. Sein Schuldgefühl, angeklagt zu sein, ohne sich einer eigentlichen Schuld bewusst zu sein, grundiert den Roman "Der Prozess".
Kafkas Œuvre ist relativ schmal: ein Trümmerfeld, drei Romanfragmente, eine Handvoll Erzählungen und Prosa-Miniaturen, hauptsächlich befremdliche Tier-Parabeln. Die Briefe und Tagebücher sind bei weitem umfangreicher als das erzählerische Werk. Man könnte die "Briefe an Felice", ein mehr als 700-seitiges Briefkonvolut, als Briefroman bezeichnen, als Kafkas einzigen vollendeten Roman, ein brieflich inszenierter Liebesversuch.
Dennoch: Kafka ist der meistinterpretierte Autor der Weltliteratur, eine Ikone der Moderne, jede Generation, jede Epoche produziert ihre spezifischen Kafka-Deutungen: surrealistisch, psychoanalytisch, religiös, existentialistisch. Er ist der Vorahner totalitärer Gesellschaften und Zwangswelten, der Konzentrationslager und des Gulag ("In der Strafkolonie"). Er ist der Prophet aller Nachtseiten der Moderne: Bürokratie, verwaltete Welt, Folter, Entfremdung, Vermassung, Vereinsamung. Bis heute unterschätzt wird Kafkas abgründiger Humor. Seine Prosa ist oft ganz schrecklich komisch.
Seine Prosa hat überhaupt keine Patina angesetzt, sie ist nüchtern, klar, ohne Floskeln, aber bestürzend in ihren originellen, noch nie dagewesenen Bildern, eine Bauhaus-Sprache, keine Jugendstil-Sprache, keine expressionistische Sprache.
Kafkas Einfluss auf Schriftsteller ist groß, aber er blieb doch ohne Nachfolger (so, wie er auch keine Vorläufer und Vorbilder hat). Kafka hat nicht Schule gemacht, aber Autoren wie Paul Auster, Philip Roth, Imre Kertész, Georg Klein sind ohne Kafka nicht zu denken.
Rezensiert von Sigrid Löffler
Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Band 2
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2008
728 Seiten, 29,90 Euro
Anfang 1917: zweite Verlobung mit Felice Bauer
August 1917: Blutsturz, Beginn der Lungentuberkulose. Endgültige Trennung von Felice Bauer.
1918/19: Verlobung mit Julie Wohryzek. Die Verbindung wird von Kafkas Vater vehement bekämpft (nicht standesgemäß)
November 1919: Kafka schreibt seinen 100-seitigen "Brief an den Vater", eine Abrechnung mit ihm und der Familie
Sommer 1920: kurzer, heftiger Liebesversuch mit Milena Jesenska, Kafkas tschechischer Übersetzerin
1922: Kafka wird von der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag in Frühpension geschickt, krankheitshalber. Er schreibt das Romanfragment "Das Schloss"
Winter 1923/24: Kafka gelingt, todkrank, endlich die Ablösung von der Familie und von Prag. Er zieht nach Berlin und lebt mit der jungen Ostjüdin Dora Diamant zusammen
3. Juni 1924: Kafka stirbt in einem Sanatorium in Klosterneuburg bei Wien an Kehlkopftuberkulose, noch keine 41 Jahre alt.
Warum wird Kafka, ein Mann ohne nennenswerte Biografie, einer solch gewaltigen Lebensbeschreibung teilhaftig? Ein Prager Jurist und Schriftsteller, Junggeselle, der seine Tage im Büro und seine Nächte daheim am Schreibtisch verbrachte, der erst mit 31 Jahren von Zuhause auszog und kaum je den inneren Bezirk der Prager Altstadt verließ, abgesehen von ein paar Dutzend Urlaubstagen in Paris, Berlin oder Oberitalien – was hat ein solcher Mann schon groß erlebt? Sein Privatleben ist ein Schlachtfeld ergebnisloser Kämpfe mit dem Vater, gescheiterter Heiratsversuche und misslingender Anstrengungen, sich von Prag, von der Familie, vom ungeliebten Beruf zu befreien und in einer Weltmetropole, also in Berlin, selbständig zu leben. Seine äußere Biografie ist kärglich, seine innere aber umso reicher, abgründiger, bizarrer, neurotischer: Kafkas innere Existenz ist unauslotbar, sein Leben hat sich im Wesentlichen im Psychischen entfaltet und findet seinen Niederschlag im Werk. Kafka war ein Genie der zwanghaften Selbstbeobachtung. Das zeigen seine Tagebücher, seine Briefe und seine Romane und Erzählungen.
Die landläufige Trennung von Leben und Werk ist bei Kafka weder möglich noch zweckdienlich: Zwischen Leben und Werk fluktuieren und zirkulieren unterirdische Ströme. Texte und Biografie erhellen sich wechselseitig. Das Werk ist das aufgeschlagene Buch von Kafkas Leben.
Das Leben taucht, verklausuliert, als Subtext im Werk auf. "Das Schloss" ist geradezu ein privater Mythos, voller privater Anspielungen und Chiffren, aber stark verrätselt. Gleich Kafkas allererste Erzählung "Das Urteil" nimmt fast wörtlich den späteren Konflikt mit dem Vater vorweg. Im Roman "Der Prozess" ist die traumatische Entlobung von Felice Bauer eingearbeitet, als Felice im Hotel Askanischer Hof in Berlin in Gegenwart ihrer Freunde eine Art Tribunal über den Angeklagten Kafka veranstaltete. Sein Schuldgefühl, angeklagt zu sein, ohne sich einer eigentlichen Schuld bewusst zu sein, grundiert den Roman "Der Prozess".
Kafkas Œuvre ist relativ schmal: ein Trümmerfeld, drei Romanfragmente, eine Handvoll Erzählungen und Prosa-Miniaturen, hauptsächlich befremdliche Tier-Parabeln. Die Briefe und Tagebücher sind bei weitem umfangreicher als das erzählerische Werk. Man könnte die "Briefe an Felice", ein mehr als 700-seitiges Briefkonvolut, als Briefroman bezeichnen, als Kafkas einzigen vollendeten Roman, ein brieflich inszenierter Liebesversuch.
Dennoch: Kafka ist der meistinterpretierte Autor der Weltliteratur, eine Ikone der Moderne, jede Generation, jede Epoche produziert ihre spezifischen Kafka-Deutungen: surrealistisch, psychoanalytisch, religiös, existentialistisch. Er ist der Vorahner totalitärer Gesellschaften und Zwangswelten, der Konzentrationslager und des Gulag ("In der Strafkolonie"). Er ist der Prophet aller Nachtseiten der Moderne: Bürokratie, verwaltete Welt, Folter, Entfremdung, Vermassung, Vereinsamung. Bis heute unterschätzt wird Kafkas abgründiger Humor. Seine Prosa ist oft ganz schrecklich komisch.
Seine Prosa hat überhaupt keine Patina angesetzt, sie ist nüchtern, klar, ohne Floskeln, aber bestürzend in ihren originellen, noch nie dagewesenen Bildern, eine Bauhaus-Sprache, keine Jugendstil-Sprache, keine expressionistische Sprache.
Kafkas Einfluss auf Schriftsteller ist groß, aber er blieb doch ohne Nachfolger (so, wie er auch keine Vorläufer und Vorbilder hat). Kafka hat nicht Schule gemacht, aber Autoren wie Paul Auster, Philip Roth, Imre Kertész, Georg Klein sind ohne Kafka nicht zu denken.
Rezensiert von Sigrid Löffler
Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Band 2
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2008
728 Seiten, 29,90 Euro