Abgründige Familiengeschichte

Karl Wittgensteins ältester Sohn, Johannes, war ein Genie, das als Kind als erstes Wort "Ödipus" gesagt haben soll, dessen musikalische Hochbegabung der Vater nie akzeptierte und das mit 24 Jahren in Amerika einfach verschwand, um nie wieder aufzutauchen. Wahrscheinlich Selbstmord.
Zwei Jahre später, 1904, nahm sich Wittgensteins drittältester Sohn in einem Berliner Café mit Kaliumzyanid das Leben. Der zweitälteste Sohn starb ebenfalls durch Selbstmord, 1918 an der italienischen Front, vermutlich um der Gefangenschaft oder dem Kriegsgericht wegen Befehlsverweigerung zu entgehen. Es blieben unter neun Kindern zwei Söhne, die berühmt wurden: Paul und Ludwig Wittgenstein, der einarmige Pianist und der Philosoph.

Die Familiengeschichte der Wittgensteins, die hier erzählt wird, ist abenteuerlich und auch furchtbar. Im Hause Karl Wittgensteins, eines Selfmademans der österreichischen Gründerzeit aus der Stahlbranche, ging die wirtschaftliche und kulturelle Elite seiner Zeit ein und aus. Auf jeder Seite trifft man auf militärische, musikalische, politische oder akademische Prominenz, die untereinander verwandt und bekannt war. Man hat beim Lesen bald den Eindruck, dass selbst die Dienstboten Nichten der Dienstboten von Johannes Brahms oder Metternichs waren.

So wird die Familiengeschichte Teil der Geselligkeitsgeschichte Wiens. Zugleich aber auch Teil des Zerfalls einer Monarchie. Der Schwerindustrielle hatte sagenhaften Reichtum angehäuft, seine Söhne, die er äußerst hart behandelt, ziehen in den Krieg, der die entsprechenden Waffenarsenale abbaut. Dem Pianisten Paul wird dabei der Arm weggeschossen, die Erzählung von seinem Gang durch russische Gefangenenlager und Lazarette gehört zu den erschütterndsten Abschnitten des Buches, zusammen mit dem Bericht, wie die Wittgensteins, allesamt katholisch und mit antisemitischen Ressentiments ausgestattet, ihrer Großeltern wegen, nach 1933 zu Juden erklärt werden. Nur mühsam und unter heillosen Zerwürfnissen in der Familie gelingt es ihnen, sich und Teile ihres Vermögens - darunter Handschriften Mozarts, Beethovens und Schuberts - zu retten. Sogar Kontaktversuche zu Hitler fanden dabei statt.

Alexander Waugh erzählt die Biografie einer Familie, die überfließt vor Schicksalsgeschichten. Klugerweise hat er sich dabei tatsächlich auf die Familie und nicht auf Ludwig Wittgenstein als ihr bekanntestes Mitglied konzentriert. Von dessen Werk hält sich das Buch weitgehend fern, denn als es entstand, spielte es kaum eine Rolle innerhalb der Familie. Ludwig Wittgenstein galt als der Exzentriker in einer an Nervenkranken, Hochbegabungen und Exaltierten wahrlich nicht armen Sippe. Durch die Lebensläufe seiner Geschwister erfährt man vom damaligen Leben in den Oberschichten und vom Musikleben – die berühmten Komponisten der Zeit, von Richard Strauss über Hindemith und Ravel bis Prokofjew und Britten, haben Klavierkonzerte für die linke Hand Paul Wittgensteins geschrieben. Man lernt viel über die Mentalität einer Zeit, die es jungen Menschen unendlich schwer machte, Anerkennung zu finden. Man begreift, wie viel biografische und welthistorische Härte damals alltäglich war. Und man schaut dem Untergang einer Welt zu, in der für 30 Jahre Wien die Hauptstadt des 20. Jahrhunderts war.

Besprochen von Jürgen Kaube

Alexander Waugh: Das Haus Wittgenstein - Geschichte einer ungewöhnlichen Familie
S. Fischer, Frankfurt am Main 2009
439 Seiten, 24,95 Euro