Wege aus der Abhängigkeit

Hilft Gott gegen Sucht?

10:02 Minuten
Eine Gruppe von Menschen sitzen an einem Lagerfeuer.
In der Gemeinschaft und im Glauben können suchterkrankte Menschen Halt und neue Perspektiven finden. (Symbolbild) © Unsplash/ Tegan Mierle
Simone Bell-D'Avis im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 12.06.2022
Audio herunterladen
Arbeit, Familie, Wohnung: Suchtkranke haben oft alles verloren. Religiöse Gemeinschaften fangen sie mit einem strikt geregelten Alltag auf. Auch Gebete können dabei helfen, sagt die Seelsorgerin Simone Bell-D'Avis, aber Therapiemttel sind sie nicht.
Kirsten Dietrich: Sucht ist unser Thema heute, genauer: wie verschiedene Religionen mit Abhängigkeit und Drogenkonsum umgehen. Dazu habe ich mich verabredet mit Simone Bell-D’Avis. Sie ist katholische Theologin, hat über das Verhältnis von Christentum und Sucht promoviert und an verschiedenen Orten von Suchtberatung gearbeitet.

"Jedes gerettete Leben ist gut"

Ich wollte von Simone Bell-D’Avis zuerst wissen, wie stark der christliche Hintergrund denn ist bei einem der bekanntesten Konzepte der Suchttherapie: den zwölf Schritten der Anonymen Alkoholiker. Deren Grundannahme: Der/die Abhängige erkennt die eigene Machtlosigkeit an und legt Heilung in die Hände einer größeren Macht.
Simone Bell-D’Avis: Erst mal würde ich sagen, Menschen, die zu den Anonymen Alkoholikern kommen oder zu anderen Anonymous-Gruppen, das sind in der Regel Menschen, bei denen es um Leben und Tod geht, die mit ihrer Suchtkarriere so weit gekommen sind, dass sie wirklich Angst haben zu sterben. Denen hilft in der Regel eine solche Gruppe, und damit, würde ich sagen, ist der Ansatz insofern ein guter, denn jedes gerettete Leben ist gut.
Im Konzept der Anonymen Alkoholiker, der AA-Gruppen überhaupt, wird das Moment der Kapitulation, des Aufgebens, des "Es-geht-so-nicht-mehr-weiter-für mich" mit dem Motiv der christlichen Umkehr in Verbindung gebracht. Insgesamt würde ich sagen, dass die AA-Gruppen durchaus so eine Form von Suchtmittelersatz anbieten. Aber damit retten sie Leben, denn wenn ein Mensch wirklich so schwer suchterkrankt ist, dass die Substanz, die er konsumiert, das Leben raubt, dann ist alles, was ihn davon abhält das zu tun erst mal lebensrettend. Und dann muss man gucken, wie es irgendwann weitergeht.

Gemeinschaft wie im Kloster

Dietrich: Eine andere Form sind ja Einrichtungen, die an die Erfahrung des Klosterlebens anknüpfen, also Einrichtungen wie Synanon oder die Fazenda da Esperança, die aus dem Kontext des Franziskanerordens kommen, wo abhängige Menschen, getrennt nach Männern und Frauen, gemeinsam leben – ohne Drogen, ohne Alkohol, Zigaretten, Fernsehen, Internet, mit intensiver Gemeinschaft und Gebet. Kann das funktionieren, oder tauscht man da nur ein Abhängigkeitsverhältnis gegen ein anderes?
Bell-D’Avis: Ich würde schon auch hier sagen, dass natürlich das Angebot, das dort gemacht wird, einen Ersatz für das Suchtmittel darstellt. Aber auch da gilt: Dieser Ersatz rettet Leben. Wir haben es in der Regel bei suchterkrankten Menschen mit Menschen zu tun, die absolut tiefe Einsamkeit in ihrem Leben erlebt haben und die auch in ihrer Sucht noch einsamer werden. Ein Mensch hat im dramatischen Verlauf seiner Suchtkarriere oft erst seine Arbeit, dann seine Wohnung, dann seine Familie verloren und wird womöglich sogar noch anonym bestattet.
Das Angebot einer Gemeinschaft, in der man schrittweise wieder lernt, auch mit anderen gemeinsam leben zu können, Vertrauen in sich selbst und in andere zu fassen, das ist ein großes therapeutisches Angebot, und solange es Leben rettet, hilft es. Ich würde aber trotzdem sagen, es ist ein Form von Suchtmittelersatz. Das ist aber in dem Fall ja nicht schlimm, es rettet.

Religion als Ersatzdroge

Dietrich: Kennen Sie noch andere Möglichkeiten der Suchtbehandlung, die vielleicht nicht mit diesem Ersatz arbeiten, wo nicht einfach nur die Substanz gegen einen wie auch immer gearteten Glauben eingetauscht wird?
Bell-D’Avis: Im dramatischen Verlauf einer Suchtkarriere, glaube ich, kommt man in vielen Fällen gar nicht aus ohne einen vorläufigen Ersatz. Ob das jetzt ein religiöses Methadonprogramm ist oder Methadon an sich, es geht ja wirklich erst mal darum, jemanden körperlich auch von diesem Gift wegzubekommen, um die erste Lebensgefahr zu beheben.
Wie es dann weitergeht, ist, glaube ich, in jedem Leben einfach offen – also, ob man wirklich wieder völlig nüchtern wird und auch auf diesen Suchtmittelersatz verzichten kann. Aber erst mal halte ich das für nichts Schlimmes, eine Ersatzdroge zu nehmen, die eben nicht so schnell tötet wie die ursprüngliche Substanz.

Im Gebet Gottes Liebe erfahren

Dietrich: Darf man Gebete überhaupt als Therapiemittel nutzen, oder ist das eine unpassende Verzweckung?
Bell-D’Avis: Ich würde es mal so sagen: Jeder Mensch, der mal ein Stoßgebet in den Himmel schickt, würde das ja dann quasi verzwecken. Ich glaube, man muss sich immer klar sein: Beten hilft nicht in der Art und Weise, wie man es vermuten mag oder ein bisschen naiv denkt, dass es helfen würde.
Wenn man das so sieht, dass wir hineingenommen sind in dieselbe Liebe, mit der Gott seinen Sohn Jesus geliebt hat, aber die Naturgesetze dadurch nicht aufgehoben sind, und ich dann sage, ich bete für jemand anderen oder ich bete für mich selber, dann will ich mich eigentlich dieser Liebe versichern.
Aber ich darf nicht davon ausgehen, dass Gott eingreift und mir jetzt quasi irgendetwas schenkt oder mich vor einer Krankheit bewahrt. Das wäre ja letztlich auch wieder eine zynische Sichtweise von Religion: Warum rettet Gott den einen und den anderen nicht?

Ständige Angst um sich selbst überwinden

Insofern ist Beten keine Therapie in dem Sinne, „ich komme dann von meiner Sucht los“, aber es kann natürlich für Menschen eine Unterstützung sein, sich der Liebe Gottes zu vergewissern. Wohin das einen dann führen kann, wenn man nicht mehr aus der Angst um sich selber heraus leben muss, das ist offen. Aber man dürfte es meiner Meinung nach niemals moralisch instrumentalisieren nach dem Motto: „Bete du mal mehr, dann geht es dir besser.“ So herum geht es auf gar keinen Fall.
Dietrich: Nun erwarten ja heute viele Menschen von Religion nicht viel und schon gar nicht persönliche Heilung, von Spiritualität allerdings schon. Was halten Sie denn von Deutungen, dass hinter Sucht eigentlich eine Art spirituelle Sehnsucht steckt?
Bell-D’Avis: Das mit der Sehnsucht, da tue ich mich ein bisschen schwer. Viele Leute leiten ja auch Sucht von Sehnsucht ab. Es ist nun so: Das Wort Sucht kommt vom althochdeutschen Wort Sud, und das bedeutet siechen und nicht suchen. Jemand, der wirklich schwer suchterkrankt ist und siecht, der hat den Tod vor Augen und weniger so etwas spirituell Verklärtes wie Sehnsucht.

"Jede Sucht hat eine Geschichte"

Mir ist, statt von Sehnsucht zu sprechen, eine Formulierung sympathischer, die kenne ich seit etwa 25 Jahren. Und zwar gab es das Landesprogramm des Landes NRW gegen Sucht, das ist aus dem Ende der 90er-Jahre. Dort gibt es einen Satz, der lautet: Jede Sucht hat eine Geschichte, und diese Geschichte beginnt nicht mit der Einnahme des Suchtmittels und endet nicht mit dem Absetzen des Suchtmittels.
Damit ist gemeint, dass Menschen tatsächlich eine Geschichte haben, die natürlich auch mit Sehnsüchten zu tun haben kann, die oft mit Mangelerfahrungen, mit Noterfahrungen, mit Leiderfahrungen, mit Traumata zu tun hat, mit sozialen Notlagen, und diese Geschichten sind Teil der Suchtgeschichte. Die werden nicht gelöst durch das Suchtmittel, und die hören auch nicht auf dadurch, dass man mit dem Suchtmittel aufhört. Sondern die Auseinandersetzung darum, die Frage, wie ich mein Leben gut gestalte, die geht weiter.
Natürlich kann man immer auch sagen, da steckt eine Sehnsucht nach gelingendem Leben drin, aber wie gesagt, ich finde den Sehnsuchtsbegriff bisweilen und auch spirituelle Sehnsucht etwas verharmlosend.

Bedürftig sind immer "die anderen"

Dietrich: Sucht ist wahrscheinlich überall, und süchtige Menschen sind auch Teil von religiösen Gemeinschaften. Nehmen das die Gemeinschaften, also zum Beispiel die Kirchengemeinden, überhaupt ernst genug?
Bell-D’Avis: Ich bin nun keine Gemeindeexpertin, ich glaube aber, dass wir gerade auch in katholischen oder in den verfassten Kirchen natürlich eine Jahrhunderte alte Arbeitsteilung haben zwischen Gemeinde und ihrer Caritas. Diese Arbeitsteilung ist nicht immer heilsam und gut. Dadurch werden quasi Problemlagen herausprojiziert aus der Gemeinde. Damit meine ich so etwas wie: "Dafür haben wir ja unsere Caritas".
Also, es gibt Projekte für – ich sag das jetzt ein bisschen karikierend, aber um es deutlich zu machen – die "armen Obdachlosen", für "die Armen, für die wir sammeln müssen", für die "armen Suchterkrankten". Das ist eine durchaus diakonische Perspektive, für die anderen da zu sein, das Gefährliche daran ist aber, dass man die Armen, die Kranken, die psychisch Kranken, die Suchterkrankten in den eigenen Reihen übersieht und faktisch ausschließt, weil: Das sind ja immer "die anderen".

Glaube kann Ressource sein

Ich halte das durchaus für eine anhaltende Krux bürgerlicher Religion, auch wenn sie noch so diakonisch daherkommt. Dann sind eben immer nur die anderen die, denen geholfen werden muss, und man schließt sie quasi in den eigenen Reihen aus.
Dietrich: Wenn Sie es kurz sagen müssten, ist Religion eher Ressource oder eher Hindernis, wenn es um Sucht geht, also: Hilft Gott gegen Sucht?
Bell-D’Avis: Also, bestimmte Formen von Religion, die rigide daherkommen oder in denen man nicht schwach sein darf, die sind sicher keine Ressource. Religion, christliche Religion, gefasst als unbedingte Zusage Gottes, in jeder Situation unseres Leben an unserer Seite zu sein, dass wir dafür nichts leisten müssen, kann eine Ressource sein – für alles im Leben, nicht nur für eine Suchterkrankung.
Ja, und zu der Frage, hilft Gott gegen Sucht, sage ich: Gott fängt nie erst da an, wo die Sucht aufhört, sonst ist es nicht Gott.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema